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Jordanien
Jordaniens Stabilität ist nicht selbstverständlich

Oft wird übersehen welche Sprengkraft die Lage in Jordanien birgt, analysiert Nahost-Expertin Sophie Schmid
Jordanien Flagge
© picture alliance / NurPhoto

In westlichen Medien und unter Politikern gilt Jordanien durchweg als „Anker der Stabilität“ in einer von Krieg und Krisen geplagten Region. Libanon dagegen wird oft als Pulverfass bezeichnet. Dabei wird gerne übersehen, welche Sprengkraft die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Lage auch in Jordanien birgt. Europa täte gut daran, Jordaniens innerstaatlichen Entwicklungen mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Auf den ersten Blick haben die anhaltenden Demonstrationen in Libanon und im Irak auf Jordanien keinerlei Auswirkungen gehabt: Es gibt weder großflächige Proteste, noch stellen junge Menschen gesammelt Forderungen an die Politik. Scheinbar geht alles seinen gewohnten Gang. Doch wie besorgt die Regierung in Amman ist, wurde in ihren verzweifelt und ratlos wirkenden Versuchen der letzten Monate deutlich, den Unmut der Bevölkerung über die prekäre wirtschaftliche Lage des Landes durch unterschiedliche kosmetische Maßnahmen zu besänftigen. So veranlasste Premierminister Razzaz etwa im November vergangenen Jahres eine breite Umstrukturierung des Kabinetts in Amman und präsentierte zum Jahresende dem Parlament das Budget für 2020: Erstmals soll es keinerlei Steuererhöhungen geben, und durch scharfes Vorgehen gegen Steuerhinterziehung sollen die überbordenden staatlichen Schulden getilgt werden. 

Der IWF, dessen Analysten gerade im November 2019 eine mehrwöchige Mission bei ihrem jordanischen Patienten beendet hatten, lobte die Strategie von Razzaz in höchsten Tönen und kündigte sogar an, dem Königreich eine 3-jährige Verlängerung des derzeit laufenden Programms zu gewähren. Jordanien brauche mehr Zeit. Jordanien braucht allerdings schon seit Jahren „mehr Zeit“ und wird von Wirtschaftswissenschaftlern oft als Beispiel für ein Land angeführt, in dem wirtschaftsliberale Reformprogramme nicht nur ihre Wirkung verfehlt, sondern den Staat in einen Teufelskreis aus Schulden und Sparmaßnahmen geführt haben, aus dem es so schnell kein Entrinnen zu geben scheint. Wenn das Land etwa in dem durch die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit mit herausgegebenen „Economic Freedom of the Arab World“ Jahresbericht regelmäßig auf den vordersten Plätzen rangiert, so ist dies maßgeblich der prekären wirtschaftlichen Situation der übrigen nahöstlichen und nordafrikanischen Länder zu verdanken. Jordanien macht sich nämlich lediglich im Vergleich mit seinen Nachbarn gut, was oft zu falschen Schlüssen über Stabilität und Wettbewerbsfähigkeit verleitet. Im weltweiten Vergleich sieht es anders aus: Im „Doing Business Index“ der World Bank belegte das Land im Jahr 2019 Platz 104 von 190, und erlangte lediglich 61 Punkte in dem sogenannten „distance to frontier score“ der World Bank im Jahr 2017. Administrative Strukturen, rechtliche Rahmenbedingungen und das jordanische Steuersystem bieten besonders jungen Unternehmern keinerlei Anreize ein Unternehmen zu gründen oder in die Privatwirtschaft zu investieren. 

Steuererhöhungen, Subventionskürzungen und das Versagen bislang sämtlicher Kabinette, die grassierende Armut und Arbeitslosigkeit erfolgreich einzudämmen, trieben die Jordanier in den letzten Jahren immer wieder auf die Straße - zum letzten Mal in großer Zahl im Juni 2018. Auch der Arabische Frühling ging nur scheinbar an dem Land vorbei – unter der Oberfläche brodelt es jedoch weiterhin. Um den Anschein von Tatendrang zu erwecken, greift König Abdullah von Mal zu Mal wieder zu einem altbewährten Rezept: Es werden Minister ausgewechselt, Kabinette erneuert und Reformpapiere mit Versprechungen veröffentlicht, die nicht gehalten werden können. Auch al-Razzaz scheint auf diese Strategie zu setzen. Wie er dadurch sicherstellen will, dass er nicht dasselbe Schicksal wie sein Vorgänger al-Mulki erleidet, der als Folge der Proteste im Jahr 2018 abgesetzt wurde, wird er im Laufe des Jahres noch unter Beweis stellen müssen. 

Auch innenpolitisch ist die Lage alles andere als stabil. Laut „The Economist“ kam es im Verlauf des vergangenen Jahres zunehmend zu offen geäußerter Kritik am König seitens des Geheimdienstes und des Sicherheitsapparates. Dies fand in den westlichen Medien kaum Beachtung. Entsprechen diese Informationen jedoch der Wahrheit, ist dies für die Monarchie eine ernste Herausforderung. Abdallah scheint vermehrt unter Druck zu geraten. Nicht-staatliche jordanische Medien, Youtuber und Blogger werfen ihm öffentlich die Zurückhaltung in der Katar-Krise und im Jemen-Krieg vor, für die internationale Gemeinschaft gilt er als zu nachsichtig gegenüber den jordanischen Muslimbrüdern. Sein Bruder, Prinz Hamzah, der ursprünglich einmal die Thronfolge hätte antreten sollen, tritt zunehmend prominent auf öffentlichen Anlässen und in Diskussionsrunden auf. Deshalb auf einen sich anbahnenden Wechsel an der Spitze des Königshauses zu schließen, wäre sicher voreilig. Doch besonders Abdallahs Israel-Politik könnte ihm zum Verhängnis werden. Zwar zeigte er in den vergangenen Monaten Härte gegenüber dem Nachbarn: Er verlängerte den Vertrag für die zwei von Israel gepachteten Gebiete al-Ghamr und al-Bakura nicht und lieferte einen in Jordanien gefangengenommenen mutmaßlichen Spion nicht an Israel aus, sondern stellte ihn im eigenen Land vor Gericht. Doch ähnlich wie die wirtschaftlichen Versprechungen Razzaz‘ muss man solche Schritte wohl eher symbolpolitisch einordnen, denn die grundlegenden Beziehungen zu Israel werden nicht angerührt. So erhält Jordanien beispielsweise seit Beginn des Jahres 2020 offiziell Erdgas aus dem Nachbarland. Der König weiß jedoch, dass er in der politischen Landschaft Jordaniens mit der Unterstützung des bilateralen Friedensvertrages und der Intensivierung wirtschaftlicher Beziehungen zunehmend allein dasteht. Läge es in der Hand des Parlaments oder gar des Volkes, wäre der Vertrag wohl schon längst aufgekündigt. 

Außenpolitisch spielt das Königreich zudem längst nicht mehr die Vermittlerrolle im Nahen Osten, in der es einst glänzte. Noch reisen westliche Politiker wie Angela Merkel oder Nancy Pelosi zu König Abdallah nach Amman, noch werden Militärbasen und Soldaten nach al-Azraq verlegt. Doch auf internationaler Bühne wird Jordanien trotz aller Wertschätzung seiner Stabilität zunehmend entbehrlich. Viele Staaten brauchen das Land nicht mehr als Puffer zwischen sich und Israel, da sie mehr oder weniger direkte Beziehungen aufgenommen haben – Saudi-Arabien ist das beste Beispiel. Auch die Trump-Regierung holt im Zuge des Friedensplans zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten zunehmend seltener die Expertise Jordaniens ein. Diese Entwicklung zeigt sich auch deutlich in der Vergabe ausländischer Hilfsgelder, von denen das Land seit Jahren abhängig ist: Sowohl Saudi-Arabien als auch die USA zahlten im Jahr 2019 weniger als je zuvor. 

Um den Ruf als einzig stabiles Land in der Region nicht zu verlieren, haben die Verhinderung von Anschlägen im Königreich und das frühzeitige Ausheben von Terrorzellen für den Staat maximale Priorität. Bräche auch noch der Tourismussektor ein, läge Jordaniens Wirtschaft vollends am Boden. Unter allen Umständen wird versucht zu verhindern, dass das Land als geostrategisch günstig gelegener Rückzugsort für Terrorgruppen und Milizen der Nachbarländer fungiert. Dafür setzt die jordanische Regierung auf eine äußerst restriktive Visavergabe gegenüber Syrern und Irakern. Ein permanentes Risiko stellt auch die seit jeher nicht unerhebliche Zahl gewaltbereiter Islamisten im eigenen Land dar. Da diese jedoch ausschließlich sunnitischen Glaubens sind und es keine religiösen Minderheiten in Jordanien gibt, die auf ihre Rechte pochen oder als Stellvertreter ausländischer Regierungen fungieren, bleibt die gewaltbereite Szene im Land verhältnismäßig überschaubar. 

Im Herbst 2020 sollen im Königreich Parlamentswahlen stattfinden, doch bislang bringen sich weder Individuen noch Parteien in Position – zu unbedeutend ist die Rolle des Parlaments, zu wenig ausgebildet die Parteienlandschaft oder das gesellschaftspolitische Interesse der Bevölkerung. Doch setzen König und Regierung weiter wie bisher auf Maßnahmen, die den wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Problemen des Landes nicht auf den Grund gehen und die lediglich vertrösten sollen, läuft die Wahl Gefahr, zum Vehikel für Demonstrationen und Proteste zu werden. Besonders die jordanischen Muslimbrüder, die „Islamic Action Front“, könnte die Gunst der Stunde nutzen, um sich als die Partei zu präsentieren, die den Unmut der Bevölkerung in ihren Wahlversprechen aufgreift. Da sie der einzig strukturierte und organisierte politische Zusammenschluss des Landes ist und innerhalb der Bevölkerung ohnehin schon hohes Ansehen genießt, stehen ihre Chancen auf Erfolg gut. In diesem Vakuum setzt die Arbeit der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Jordanien an: Durch Aktivitäten mit der Zivilgesellschaft, der Jugend und politischen Parteien wird versucht, das bereits vorhandene Potential verschiedenster liberaler Akteure zu nutzen, damit diese zur Stärkung von Demokratie und Transparenz, Pluralismus und der Herausbildung eines kritischen Politikverständnisses in der Bevölkerung beitragen. Ohne das Voranschreiten dieser gesellschaftspolitischen Prozesse steuert das Königreich auf innenpolitische Unruhen zu. Will Europa weiterhin einen zuverlässigen Partner in der Levante haben, sollte es wachsam bleiben. 

 

Sophie Schmid ist designierte Projektassistentin Naher Osten & Nordafrika mit Sitz in Amman, Jordanien