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Russland
Terroranschlag in Moskau und europäische Sicherheitsinteressen

Der lange Arm zentralasiatischer Terroristen reicht bis nach Europa
Russische Einsatzkräfte vor der abgebrannten Konzerthalle

Russische Einsatzkräfte vor der abgebrannten Konzerthalle in Moskau.

© picture alliance/dpa | Vyacheslav Prokofyev

Moskau ist zum Ziel eines Terroranschlags geworden. Trotz Warnung gelang es Attentätern laut öffentlichen Angaben, mindestens 137 Menschen zu töten, 150 weitere wurden verletzt. Der Ableger der Terrormiliz Islamischer Staat IS-K, Islamischer Staat- Provinz Khorasan, hat ihren Ursprung in Afghanistan und Zentralasien und hat sich zu dem Anschlag bekannt. Das jüngste Attentat hat Symbolkraft für die Spannungen in der Region. Es ist im nationalen und europäischen Sicherheitsinteresse, das große Ganze – Attentat, internationaler Terrorismus, Sicherheitslage in Zentralasien – im Blick zu haben.  

In einer Analyse der Friedrich-Naumann-Stiftung wird Russlands vielschichtige Beteiligung in Afghanistan untersucht. Heute ist die islamistische Fundamentalistengruppe Taliban in Afghanistan an der Macht. Ihr Machtergreifen im Jahr 2021 markiert eine bedeutende Wiedererstarkung, die ein tiefgreifendes Scheitern westlicher Bemühungen zur Demokratisierung Afghanistans verdeutlicht. Im Gegensatz zu den meisten Staaten der internationalen Gemeinschaft pflegt Russland informelle Beziehungen zu den Taliban und bleibt einer der wenigen Staaten, die auch unter der Herrschaft der Taliban offizielle Verbindungen mit Afghanistan suchen. Russland nutzte dabei das sogenannte Moskauer Format (ein 2016/17 initiiertes Konsultationsforum zur Zukunft Afghanistans, das auch die Taliban miteinbezog) sowie die Gespräche der sog. „Troika-Plus“-Gruppe (China, Russland, USA, und später Pakistan), um seine Einflussnahme in der Region zu demonstrieren und Unterstützung im Globalen Süden zu gewinnen. Obwohl Russland eine Zusammenarbeit anstrebt, bleibt diese aufgrund vorherrschender Sicherheitsbedenken begrenzt, und die wirtschaftlichen Bindungen zwischen Russland und Afghanistan sind bescheiden. Das Hauptanliegen Russlands ist es, zu verhindern, dass Afghanistan eine Quelle für Terrorismus und Drogen wird, was die Nachbarländer beeinflussen könnte – und es selbst!

Terrorismus

Afghanistan gilt als das gefährlichste Land weltweit. Im Jahr 2022 ereigneten sich neun Prozent aller globalen terrorismusbezogenen Vorfälle in Afghanistan. Nach der Rückkehr der Taliban an die Macht wurde die Islamische Staat - Provinz Khorasan (IS-K) zur aktivsten Terrorgruppe in Afghanistan – gegen die Taliban. IS-K ist für 115 Vorfälle und 422 Todesfälle im Jahr 2022 verantwortlich, was fast 67 Prozent der gesamten terrorismusbezogenen Todesfälle im Land ausmacht.

IS-K ist ein regionaler Ableger des IS (Islamischer Staat), einer islamistischen Terror-Organisation, der es 2014 gelang, unter Ausnutzung des Bürgerkrieges in Syrien größere Landesteile des Irak und Syriens unter seine Kontrolle zu bringen und dort seine radikal-islamische Ideologie umsetzte. Nach intensiven Auseinandersetzungen mit türkischen, irakischen und US-Sicherheitskräften verlor der IS die Kontrolle über diese Gebiete wieder bis 2019. Während einige Beobachter die Schlagkraft des IS in Westasien als stark geschwächt ansehen, entwickelte sich der regionale Arm des IS in Zentralasien schlagkräftig weiter. Unter dem Namen IS-Khorasan Provinz (IS-K), der alten geographischen Bezeichnung für ein Gebiet des heutigen Afghanistans, Turkmenistans und Teile Irans, entwickelte sich seit 2015 dieser IS-Ableger zu einer starken Konkurrenz für die afghanischen Taliban und andere islamistische Kampfgruppen. Der Grund für diese Konkurrenz waren weniger ideologische Differenzen als ein Machtkampf um Einfluss im radikal islamischen Lager. So erhielt der IS-K Zuspruch von ehemaligen Kämpfern der afghanischen und pakistanischen Taliban, die mit ihren bisherigen Organisationen unzufrieden sind, aber auch von zentralasiatischen Islamisten auf afghanischem Boden. Das Eingreifen Russlands im Bürgerkrieg in Syrien und in den Konflikten im nördlichen Kaukasus, die für zentralasiatische IS-K-Anhänger aus den ehemaligen Sowjetrepubliken Motivation genug für Anschläge in Russland sind, sollten Anlass dazu geben, die Gefahr ernst zu nehmen, die von zentralasiatischen Islamisten ausgeht.

Zusätzlich zu IS-K stehen weitere 20 verschiedene Gruppen der Taliban gegenüber. Es ist unklar, ob die Taliban langfristig die Kontrolle im Land aufrechterhalten können. Russische Behörden fürchten, dass sich der Terrorismus auf benachbarte ehemalige Sowjetrepubliken ausbreiten könnte, die Teil der Collective Security Treaty Organization (CSTO) sind, einem regionalen Sicherheitsbündnis, das 2002 zwischen mehreren postsowjetischen Staaten gegründet wurde. Gleichzeitig beschuldigt Russland den Westen, Terroristen zu unterstützen.

Der jüngste Anschlag in Moskau ist ein Weckruf. Die Bekämpfung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und die Verstärkung der Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit in Europa ist zurecht im Mittelpunkt der politischen Anstrengungen in Europa. Internationaler Terrorismus gehört mitnichten der Vergangenheit an, und die regionale Sicherheitslage in und um Afghanistan, insbesondere seit der Machtübernahme der Taliban, ist höchst fragil.

Es ist Bestandteil deutschen und europäischen Sicherheitsinteresses, sich des Gesamtbilds, zudem auch die Beziehungen Russlands zu den Taliban gehört, bewusst zu werden. Es gehört zur Tragik der Problematik um islamistischen Terrorismus und die aktuelle undurchsichtige Lage in Afghanistan, dass eigentlich die gesamte internationale Gemeinschaft das gleiche Interesse hat: nämlich Terrorismus zu bekämpfen und dafür zu sorgen, dass es keine Rückzugsräume für Organisationen wie den IS gibt.

Doch die aktuellen internationalen Konfliktlinien erschweren einen sachlichen Dialog oder machen ihn sogar unmöglich. Schon jetzt wird deutlich, dass das Attentat in Moskau von der russischen Regierung propagandistisch genutzt wird, um etablierte Feindbilder zu pflegen und das Attentat rhetorisch mit dem Krieg in der Ukraine in Zusammenhang zu bringen. Für europäische Sicherheitspolitik besteht die Herausforderung darin, die gemeinsamen Interessen einer globalen Bekämpfung des Terrorismus im Blick zu behalten, aber gleichzeitig eine klaren Positionierung in anderen internationalen Konfliktlinien zu wahren.

Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit hat mit „Nachbarschaftsperspektiven" eine Reihe von Analysen über Afghanistan initiiert. Mit der Reihe soll die regionale Sicherheitslage und die geostrategischen Verbindungen beispielsweise des Irans, Indiens, Pakistans oder hier in der Analyse Russlands herausgearbeitet werden. Herr Khohlov verfasste das zweite Papier in dieser Reihe und behandelte Russlands Engagement mit und in Afghanistan.