EN

#JetztMutMachen
Peruanische Regierung agiert in der Corona-Krise katastrophal

Ein Interview über die aktuelle Lage in Peru mit Jörg Dehnert
Schlange vor Nationalbank
Lange Schlangen für den Erhalt von Bonuszahlungen bilden sich vor der Nationalbank in Lima. © picture alliance

Mehr als zwei Millionen Menschen haben sich inzwischen mit dem Corona-Virus infiziert. Eine Region, die bisher verhältnismäßig wenige Fälle meldet, ist die südamerikanische Andenregion. Dort ergreifen die Regierungen drastische Maßnahmen, um eine mögliche Ausbreitung des Virus zu verhindern – mit fatalen Folgen, analysiert Jörg Dehnert.


Herr Dehnert, Sie befinden sich derzeit in Lima und beobachten die Situation vor Ort. Wie ist die gesundheitliche Situation in den Andenländern und insbesondere in Peru?

In Ecuador, Bolivien, Venezuela und Peru ist die medizinische Versorgung schon ohne das Corona-Virus ein großes Problem. Durch die gegenwärtige Situation wird das Problem noch deutlich verstärkt.  In Kolumbien, vor allem aber in Chile ist die Situation dagegen noch einigermaßen erträglich.

In Peru gibt es laut offiziellen Angaben derzeit nur zweihundert Beatmungsgeräte. Intensivstationen sind in sehr geringem Maße vorhanden und auch schon ohne das stark ausgelastet. Es gibt in den noch geöffneten Supermärkten und Apotheken fast ausschließlich die „Billigversion“ der Schutzmasken zu kaufen und dies auch nicht immer, so dass sich viele Menschen mit Halstüchern und selbst gebastelten Masken behelfen.

Mit welchen Folgen?

Es fehlen auch Masken und Schutzkleidung für das medizinische Personal. In einigen Krankenhäusern hat sich das Personal geweigert, zu arbeiten oder schlicht krankgemeldet. Aufgrund der schlechten hygienischen Zustände ist ein immer größerer Teil des medizinischen Personals selbst infiziert und fällt aus. Man geht nun dazu über, unter den zahlreichen venezolanischen Migranten Personal zu rekrutieren, denen man vorher die Qualifikation abgesprochen hatte.

Außerhalb Limas sieht die Situation noch schlechter aus. In vielen Provinzen ist die Versorgung mit Wasser und Elektrizität ein Problem, was die kontinuierlich verbreiteten Appelle der offiziellen Stellen zur Einhaltung der Hygienevorschriften geradezu absurd erscheinen lässt.

Wird die Bevölkerung auf das Corona-Virus getestet?

Laut Angaben des Gusndheitsministeriums hat man eine halbe Million Molekular-Tests aus China erhalten, deren Verlässlichkeit bei 90 Prozent liegen soll. Daher werden nun 2.500 Tests pro Tag durchgeführt. Allerdings ist nicht bekannt, wer, wann und wo gestestet wird. Durch die Steigerung der Tests hat sich die Zahl der Infizierten im Zeitraum vom 7. April bis zum 14. April mit derzeit zehntausend Menschen mehr als verdreifacht. Unbekannt ist allerdings, ob es sich dabei um Neuinfektionen handelt, oder um Personen, die seit längerem infiziert sind. In jedem Fall aber bewegt sich die Lethalitätsrate in Peru mit derzeit 2,3 Prozent noch unterhalb der deutschen mit 2,52 Prozent, was die harten Maßnahmen der Regierung noch unverständlicher macht.

Wie sehen diese Maßnahmen aus?

Die meisten Andenstaaten haben den Flugreiseverkehr nahezu komplett eingestellt. Zahlreiche in den Andenländern festsitzende Touristen konnten nur unter großen Schwierigkeiten und mit tatkräftiger Unterstützung der deutschen Botschaften nach Deutschland zurückkehren. Darüber hinaus wurden Notstandsgesetze und Ausnahmezustände mit teils sehr strikten Ausgangsbeschränkungen verhängt.

Was Peru betrifft, so gab es die ersten Fälle Anfang März. Die Regierung reagierte erst zögerlich und danach – mit Blick auf die schlechte medizinische Versorgung – panisch und auch unlogisch.

Unlogisch?

Chile misst schon seit Anfang März bei jedem Passagier am Flughafen die Temperatur und verlangt ein ausführliches Einreiseformular, in dem die zuletzt besuchten Orte, die Dauer des Besuchs, die Adresse der Unterkunft und auch der Sitz im Flugzeug angegeben werden muss. In Lima dagegen trugen Anfang März zwar die Beamten an den Migrationsschaltern einen Mundschutz und Schutzhandschuhe, eine Untersuchung oder Befragung der Fluggäste fand aber nicht statt.

Erst am 15. März, verkündete der peruanische Präsident Vizcarra recht abrupt den Not- und Ausnahmezustand. Restaurants und Geschäfte wurden geschlossen und eine Quarantäne für alle Bürger bis Ende März eingeführt, die nicht zentralen, lebensnotwendigen Dienstleistungen nachgehen. Die drastischen Maßnahmen wurden anschließend noch ausgebaut und regelmäßig verlängert. Nun sollen Sie am 26. April enden. Angesichts der zahlreichen Bilder von Menschenansammlungen auf Wochenmärkten in Gegenwart von Polizei und Militär, ist aber fraglich, ob die Restriktionen wirklich aufgehoben werden.

Die Maßnahmen werden von der Bevölkerung also nicht getragen?

Zunächst wurden die Maßnahmen von der überwiegenden Mehrheit der Bürger als notwendig akzeptiert, auch wenn sich viele nicht daran hielten. Fairerweise muss man anmerken, dass es vielen Menschen praktisch unmöglich ist, sich an die neuen Regeln zu halten. Durch die verkürzten Öffnungszeiten der Banken und großen Supermarktketten werden mehr Menschen in kürzerer Zeit gezwungen, einzukaufen, was zu einem Massenandrang und langen Schlangen führt.

Noch realitätsfremder mutet die Empfehlung des Staatspräsidenten an, einen Wochen- oder Monatseinkauf zu machen. Siebzig Prozent des Arbeitsmarktes ist informell, und viele Menschen beziehen einen Tages- bzw. Wochenlohn. Es ist ihnen schlichtweg unmöglich, dieser Empfehlung nachzukommen.

Hinzu kommt, dass nur noch eine Person pro Familie einkaufen gehen darf. Um das zu kontrollieren, durften Männer nur montags, mittwochs und freitags, Frauen nur dienstags, donnerstags und samstags das Haus zum Einkaufen verlassen. Nur drei Tage später wurde diese Regelung wieder aufgehoben, weil es zu noch mehr Chaos führte.

Wie absurd die Regelungen teilweise sind, zeigt ein neuer Entschluss: Seit der Verkündung der Ausnahmeregeln ist es Minderjährigen verboten, das Haus zu verlassen. Das Ausführen von Hunden und Katzen ist jedoch für kurze Zeit erlaubt...

Welche langfristigen Folgen werden die Maßnahmen für die Gesellschaft haben?

Im sozialen Bereich zeichnet sich eine deutliche Zunahme der in Peru sowieso schon hohen häuslichen Gewalt ab. Ein Großteil der Peruaner lebt auf engem Raum in Großfamilien. Durch die Quarantäne können die Menschen dieser räumlichen Enge nicht mehr entfliehen. Verschärft wird die Situation durch die Schließung der Kindergärten und Schulen. Kinder sind zu Hause und dürfen die Wohnung aufgrund der Quarantänevorschriften nicht mehr verlassen.

…und die wirtschaftliche Situation?

Der Anteil informeller Arbeit ist in Peru sehr hoch. Viele der Tage- und Wochenlöhner sind durch das Coronavirus inzwischen mittellos. Die Regierung hatte deshalb für die letzten beiden Märzwochen eine Bonuszahlung für bedürftige Familien in Höhe von etwa 130 Euro angekündigt. Inwiefern diese Ankündigung auch umgesetzt wird und welche Bewertungskriterien für die Verteilung gelten, bleibt unklar.

Im April dürften nun noch deutlich mehr Menschen durch den Lohnausfall in die Armut abrutschen, da es in Peru, wenn überhaupt, nur für den formalen Arbeitssektor sehr begrenzte Zeiträume für Lohnfortzahlungen gibt.

Wie steht es um die Unternehmen?

Die Gesamtsituation wird durch die Reaktivierung eines Gesetzes verschärft, das fristlose Kündigungen ohne Abfindungen im Katastrophenfall zulässt. Nach mittlerweile fünf Wochen des Ausnahmezustands stehen viele Unternehmer, aber auch Selbstständige, vor dem Bankrott. Die Hotels, Gaststätten und Tourismusunternehmen sind in Existenznöten.

Nach Schätzungen aus unserem Partnerspektrum sind derzeit 15-20 Prozent dieser Unternehmen bankrott. Sie werden sich nicht erholen können. Mit jeder weiteren Woche wird mit einem Anstieg von zehn Prozent in diesen Bereichen gerechnet.

Mit welchen Folgen?

Die Armut und sozialen Spannungen werden mit fortlaufender Zeit zunehmen. Vereinzelt hat es schon Ausschreitungen und Plünderungen von Supermärkten gegeben, so dass die Sicherheitskräfte gar von Schusswaffen Gebrauch gemacht haben. Durch die nur wagen Versprechen und das Fehlen einer klaren Strategie wächst die Frustration gegenüber den politischen Verantwortlichen stetig.

Gibt es eine „Exit“-Strategie der peruanischen Regierung aus den allgemeinen Einschränkungen?

Bei der ersten Verkündung des Ausnahmezustandes Mitte März hatte Präsident Vizcarra eine Rückkehr zum „normalen Leben“ ab April in Aussicht gestellt. Nun soll es der 26. April sein. angekündigt. In seinen täglichen Pressekonferenzen weist der Präsident zwar regelmäßig auf diesen Termin hin, setzt aber einen Erfolg der bisherigen Maßnahmen voraus. Die meisten unserer Partner glauben, dass dies ein vorgeschobenes Argument ist, um wegen fehlender Exit-Strategien eine Hintertür offen zu haben. Zwar gibt es einige Vorschläge zur Wiederbelebung der Wirtschaft, doch sind diese nicht nur aus liberaler Sicht wenig sinnvoll.

Wie sehen diese Vorschläge aus?

Die Flughäfen sollen noch mindestens drei Monate komplett geschlossen bleiben, was das Ende der nationalen Fluggesellschaften wäre, ebenso wie für die Tourismusbranche. Denn auch Hotels und Restaurants sollen noch drei Monate geschlossen bleiben.

Daneben gibt es einen Plan für ein staatliches Investitionsprogramm in Höhe von zehn Milliarden Euro von denen siebzig Prozent auf ein Drittel der fast zwanzigtausend existierenden Mittleren und Großbetriebe entfallen sollen. Und nur ein Zehntel der 2,7 Millionen Klein- und Kleinstbetriebe soll die übrigen drei Milliarden Euro erhalten. Vor dem Hintergrund, dass letztere achtzig Prozent der Erwerbstätigen beschäftigen, ist dies eine fragwürdige Entscheidung.

Eine Wiederbelebung der Wirtschaft erscheint mit diesem Ansatz wenig erfolgversprechend, sondern würde die ohnehin schon große Armut in Peru noch verstärken – und auch den Konsum weiter sinken lassen. Peru wäre dann anfällig für ausländische, primär chinesische, Spekulanten, die schon heute enorme Investitionen tätigen und ganze Wirtschaftsspaten aufkaufen.

Wie sieht es mit dem Bildungsbereich aus?

Auch dort gibt es keine praktikable Exit-Strategie. Laut inoffiziellen Informationen sollen Schulen, Kitas und Universitäten bis Ende 2020 geschlossen bleiben. Bis dahin sollen die Lehrveranstaltungen online durchgeführt werden – eine aus mehreren Gründen absolut unrealistische Option.

Warum?

Zunächst einmal, weil in Peru meistens beide Elternteile erwerbstätig sind und für ihre Kinder keine Betreuung im Haus hätten. Fällt nun also eines der Elternteile, um die Kinder zu hüten, vergrößert das noch die soziale Ungleichheit. Auch haben Schüler der öffentlichen Lehreinrichtungen meist keinen PC oder Laptop zur Verfügung. Und selbst wenn das der Fall wäre, verfügen die öffentlichen Schulen nur in Ausnahmefällen über die notwendigen Online-Plattformen.

Zum Abschluss: Ein kurzes Fazit, bitte.

Die peruanische Regierung agiert in der Corona-Krise katastrophal und hilflos. Sollte sie sich nicht für externe Berater und Lösungsansätze öffnen, läuft Peru Gefahr, die großen, mit schmerzlichen Reformen und harter Arbeit erzielten Erfolge in kurzer Zeit vollständig zu vernichten. Peru droht, für lange Zeit auf den Status der Achtzigerjahre zurückzufallen.

 

Jörg Dehnert ist Projektleiter der Andenländer mit Sitz in Lima.