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Georgien
Erneute Demonstrationen in Tiflis - und wieder geht es um das Wahlrecht 2020

Experte Shamil Shugaev erklärt im Interview, wie es zu den erneuten Großdemonstrationen kommen konnte
Die Partei "Georgian Dream" unter Druck
© picture alliance/Anton Podgaiko/Sputnik/dpa

In Georgiens Hauptstadt Tiflis kam es schon im Juni zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften mit zahlreichen Verletzten. Die Proteste wurden ausgelöst, nachdem der russische Abgeordnete Sergej Gawrilow während eines Parlamentsbesuches auf dem Stuhl des georgischen Parlamentspräsidenten Platz genommen hatte. In den vergangenen Tagen gingen wieder Tausende auf die Straße, nachdem eine nach den Protesten im Juni versprochene Reform des Wahlsystems im Parlament gescheitert war. Freiheit.org sprach mit Shamil Shugaev, Projektkoordinator der Stiftung für die Freiheit im Südkaukasus, über die aktuelle Situation in der georgischen Hauptstadt.

Nach den Protesten im Juli hatte die regierende Partei „Georgian Dream“ (GD) Veränderungen im Wahlsystem angekündigt, die bereits für die im Herbst 2020 stattfindenden Parlamentswahlen gelten sollten. Wie sahen diese Versprechungen aus?

Shamil Shugaev: Bisher gilt in Georgien ein gemischtes Wahlsystem für das nationale Parlament, d.h. 77 Abgeordnete werden über Parteilisten gewählt und 73 in den Wahlkreisen. Ein Großteil der georgischen Wählerschaft versteht dieses System nicht ausreichend und stimmt daher meist direkt für die Parteien. Als Konsequenz kennen die Mehrheit der Wähler nicht einmal die Namen ihrer regionalen Repräsentanten im Parlament. Da, anders als in Deutschland, keine Verrechnung (Überhangmandate) der direkten Mandate mit den Listenmandaten erfolgt, hatte z.B. die regierende GD 2016 71 Direktmandate errungen plus 44 Mandate aus der Wahl über die Parteilisten und damit sogar eine Verfassungsmehrheit erzielt. Dieses Wahlsystem begünstigt die jeweils regierende Partei, insbesondere in Bezug auf die Beibehaltung der Macht. Von der Zivilgesellschaft wurde diese Begebenheit als größtes Problem für den demokratischen Machtwechsel identifiziert.

Die Demonstrationen im Juni 2019 verfolgten drei festgelegte Ziele: Die Entlassung der im Rahmen der Proteste festgenommen und nachweislich unschuldigen Demonstranten aus der Haft, den Rücktritt des Innenministers Giorgi Gakharia (verantwortlich für die gewalttätige und repressive Vorgehensweise durch Polizei und Sicherheitskräfte) und die Einführung des proportionalen Wahlsystems bei den nächsten Wahlen im Oktober 2020.

Die Entlassungen erfolgten nur mühsam und für einige Aktivisten laufen die juristischen Prozesse noch. Der für die Gewalt verantwortlich gemachte Innenminister wurde im September sogar zum Premierminister ernannt. Als Ausgleich versprach Bidsina Iwanischwili, Vorsitzender der regierenden „Georgian Dream“-Partei die Einführung des Verhältniswahlrechtes ab 2020 einzuführen. Somit lösten sich die Demonstrationen in Erwartung der Realisierung dieses Versprechens auf.

Inzwischen gibt es neue Entwicklungen - in der vergangenen Woche scheiterte der Gesetzentwurf zur Einführung des Verhältniswahlrechtes. Können Sie uns die Ereignisse kurz schildern? 

Shamil Shugaev: Es handelte sich um zwei Gesetzentwürfe. Der Entwurf der Opposition sah die Einführung eines proportionalen Wahlsystems mit 3%-Hürde und der Möglichkeit, Wahlblöcke zu bilden vor. Wie erwartet, wurde dieses Vorhaben von der regierenden Mehrheit abgelehnt. Der zweite, von der regierenden Georgian Dream Partei initiierte Entwurf sah ebenfalls ein proportionales Wahlsystem vor – allerdings ohne jegliche Hürde und mit einem Verbot von Wahlblöcken. Die Lesungen im Parlament wurden von heftigen Attacken seitens GD gegenüber der Opposition begleitet, was sogar in dem Versuch endete, die Sitzung abzubrechen.

Der Verdacht, dass GD den eigenen Gesetzentwurf ablehnen würde, mobilisierte die Zivilgesellgesellschaft bereits am selben Tag vor dem Parlament. Die GD-Fraktion bat zweifach um die Verschiebung der Sitzungen um jeweils einen Tag. In der nach den Verschiebungen stattgefundenen Sitzung am Donnerstag wurde dann der Gesetzentwurf mit 101 Stimmen bei 113 erforderlichen Stimmen abgelehnt. Die Wahlrechtsänderung bedeutet eine Verfassungsänderung und erfordert deshalb eine Zweidrittel-Mehrheit. 

 

In den vergangenen Tagen sind Tausende auf die Straße gegangen und haben demonstriert, Polizeikräfte wurden eingesetzt. Sie waren dabei. Was genau haben Sie beobachtet?

Shamil Shugaev: Am vergangenen Donnerstag, für viele als Tag des gebrochenen Versprechens wahrgenommen, versammelten sich ca. zwölftausend Menschen vor dem Parlament protestierten für das proportionale Wahlsystem. Die Opposition vereinte sich hinter dem Slogan „Alle Minus Einer“ (Bidsina Iwanischwili). Tatsächlich setzten sich alle Oppositionsparteien – darunter auch die Partnerparteien der Stiftung, Free Democrats und Republican Party of Georgia – zusammen und berieten das weitere Vorgehen. Es wurden Forderungen formuliert: Die Entlassung der – aus Sicht der Opposition – politischen Gefangenen und vorgezogene Wahlen nach dem proportionalen System unter einer zu installierenden Interims-Regierung.

Mit diesen Forderungen zogen am vergangenen Sonntag rund zwanzigtausend Demonstranten vor das Parlament. Gleichzeitig fand vor dem Bürogebäude der Regierungspartei ebenfalls eine Demonstration statt. Die Verantwortlichen der regierenden Georgian Dream gaben keine Stellungnahmen ab. Die Lage verschärfte sich als der Bürgermeister von Tiflis, der ebenfalls Generalsekretär von GD ist, beim Verlassen des Gebäudes die Demonstrierenden mit Handzeichen beleidigte. Kurz darauf kündigten einige einflussreiche GD-Abgeordnete an, die Partei zu verlassen und ihre parlamentarischen Ämter aufzugeben. Unter ihnen ist auch die Vize-Sprecherin des Parlaments, Tamar Chugoshvili, die dafür verantwortlich sein sollte, den anstehenden Übergang zum proportionalem Wahlsystem bei den westlichen Partnern zu kommunizieren.

Am Montagnachmittag, bevor die Anzahl der Demonstranten am Abend augenscheinlich wieder zunahm, versammelten sich Spezialeinsatzkräfte um das Parlament und setzten Wasserwerfer gegen die Protestierenden ein. Insgesamt 37 Demonstranten wurden verhaftet und sechs verletzt, die von den Demonstranten aufgebauten Zelte wurden beseitigt.

GD berief eine Bürositzung der Vorsitzenden der parlamentarischen Ausschüsse ein. Auf dieser Sitzung erklärte der Parlamentssprecher und später auch der Generalsekretär, dass GD keine Verhandlungen mehr durchführen wird und die Wahlen 2020 nach dem alten System stattfinden werden. Während dieser Sitzung versammelten sich Vertreter der oppositionellen Parteien und der zivilgesellschaftlichen Bewegungen wieder vor dem Parlament um öffentlich die Fortsetzung der Proteste zu erklären.

Was ist Ihre Prognose für die kommenden Tage und Wochen?

Shamil Shugaev: Vor kurzem veröffentlichte Umfragen des International Republican Institute (IRI) zeigen, dass die Zustimmungswerte von Georgian Dream und insbesondere vom Vorsitzenden Bidsina Iwanischwili ein historisches Tief erreicht haben. Damit zeichnet sich ab, das GD bei einem Verhältniswahlrecht nur über Parteilisten keine absolute Mehrheit mehr erzielen würde. Und ein solches Wahlsystem ließe auch kaum noch Möglichkeit die Wahlen so wie beim gemischten Wahlsystem zu manipulieren, was der Regierungspartei 2016 bei den Parlamentswahlen, 2017 bei Bürgermeisterwahlen von Tiflis, 2018 bei Präsidentschaftswahlen und 2019 bei kommunalen Nachwahlen von lokalen und internationalen Beobachtern vorgeworfen wurde. Es ist anzunehmen, dass die regierende Partei und ihr Vorsitzender, der Milliardär Bidsina Iwanischwili versuchen werden, die aktuellen Prozesse zu neutralisieren. Die Kirche, ein starker gesellschaftlicher Akteur in Georgien, ist bisher zurückhaltend aber zunehmend kritisch gegenüber den Regierenden. Die Opposition berät zurzeit wie neben der Zivilgesellschaft auch die Regionen in die politischen Prozesse einbezogen werden können. Möglichweis wird es in den kommenden Tagen zu noch massiveren Protesten kommen. Auch die sogenannte Rosenrevolution 2003 und andere politische Großereignisse nahmen in Novembertagen ihren Anfang in Georgien.

 

Shamil Shugaev ist Projektkoordinator für den Südkaukasus im Stiftungsbüro in Tiflis, Georgien