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Estland
Ein riskantes Spiel in Estland

Kaja Kallas droht trotz Wahlsieg zur Verliererin zu werden
Kaja Kallas, Vorsitzende der Estnische Reformpartei.

Kaja Kallas, Vorsitzende der Estnische Reformpartei.

© picture alliance / AP Photo

Die estnische Reformpartei von Kaja Kallas konnte ihre liberale Schwesterpartei, die Zentrumspartei von Ministerpräsident Jüri Ratas, bisher nicht für eine Koalition gewinnen. Wahrscheinlicher scheint nun ein Bündnis aus der Zentrumspartei, der konservativen Partei Pro Patria und der rechtspopulistischen Partei EKRE.

Die Hoffnung der liberalen Reformpartei Estlands auf eine Regierungsübernahme droht enttäuscht zu werden. Eigentlich hatten die estnischen Wähler dem amtierenden Ministerpräsidenten Jüri Ratas und seiner Zentrumspartei einen ordentlichen Dämpfer verpasst. Die oppositionelle Reformpartei, geführt von der ehemaligen Europaabgeordneten Kaja Kallas, hatte sich mit einer überzeugenden Mehrheit von 29 Prozent der Stimmen das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte gesichert. Die regierende Zentrumspartei hatte mir 23 Prozent der Stimmen nur den zweiten Platz erreicht.

Nach einer freudigen Feier herrscht im Hauptquartier der Reformpartei in Tallinn mittlerweile düstere Stimmung. „Sicher, wir haben gewonnen, aber es sieht so aus, dass die Zentrumspartei an der Macht bleiben und eine Koalition mit der rechtspopulistischen Partei EKRE und der konservativen Partei Pro Patria eingehen wird“, sagt Generalsekretär Erkki Keldo.

Trotz der Tatsache, dass die beiden großen, liberalen Parteien noch vor den Parlamentswahlen eine Koalition mit der rechtspopulistischen EKRE ausgeschlossen hatten, schickte Ratas dem Parteivorsitzenden der EKRE gleich nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse eine SMS und schlug ihm Koalitionsverhandlungen vor.

Das war eine unangenehme Überraschung für Kallas, die mit einer stabilen großen Koalition  der Reformpartei mit der politisch weiter links stehenden Zentrumspartei gerechnet hatte. „Die Entscheidung ergibt wenig Sinn, da unsere beiden Parteien Mitglieder der Europapartei ALDE sind und unsere Vision für das Land unterscheidet sich nicht so sehr von der der Zentrumspartei. Im Falle der großen Koalition müsste Ratas das Amt des Ministerpräsidenten aufgeben, was er um jeden Preis verhindern will”, erklärt Keldo.

Kallas, die sich mangels Alternativen in die Ecke gedrängt sieht, hat einen mutigen Schritt gewagt. Diese Woche hat sie angekündigt, dass sie bereit wäre, ihren Anspruch auf den Posten der Ministerpräsidentin zugunsten von Ratas aufzugeben, wenn er einer großen Koalition zustimmen würde. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels war die Antwort von Ratas nicht bekannt.

Nächste Schritte

Die Präsidentin des Landes, Kersti Kaljulaid, hat versprochen, dem Wahlsieger das Mandat zur Regierungsbildung zu erteilen. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass Kallas die erste Chance erhält. Im Moment arbeiten wir hart daran, diese Chance zu nutzen“, bestätigt Keldo. Sobald sie das Mandat erhält, bleiben Kallas 14 Tage Zeit, um eine Mehrheit im 101-köpfigen Parlament zu finden.

„Wir führen einen intensiven Dialog mit allen Parteien. Die Szenarien sind jedoch nicht sehr ermutigend. Wir wollen diesem Land helfen und dazu brauchen wir eine stabile Unterstützung”, erklärt Keldo und geht auf die Option einer Minderheitsregierung mit den Sozialdemokraten ein, die von sieben unabhängigen Abgeordneten unterstützt werden müsste. Ein weiteres denkbares Szenario wäre, neben der großen Koalition mit der Zentrumspartei, ein Parteienbündnis mit den Sozialdemokraten und der Pro Patria. Die estnischen Konservativen würden aber lieber eine Koalition mit der Zentrumspartei eingehen.

Feier im Kreml

Die schwierige Regierungsbildung in Estland gibt dem Kreml einen Grund zum Feiern. Die potentielle Koalition von der Zentrumspartei, EKRE und Pro Patria könnte zu einem Befürworter russischer Interessen im postsowjetischen Staat werden. Die Zentrumspartei verfügt über einen starken Rückhalt in der russischen Minderheit und hat ihre Politik regelmäßig an den Bedürfnissen dieser Menschen ausgerichtet. Auf der anderen Seite hat die Partei EKRE die gleiche antieuropäische Rhetorik übernommen, die auch für andere rechtspopulistische Parteien in Europa typisch ist.

„Ich bin überzeugt, dass diese Koalition nicht lange dauern wird, maximal eineinhalb Jahre. Unsere einzige Hoffnung ist, dass sie nicht zu viele Dinge verderben werden, bevor wir wieder an die Regierung kommen“, sagt Keldo. Ob diese Aussicht die estnischen Wähler zufrieden stellen kann, bleibt abzuwarten.

 

Adéla Klečková ist Programmmanagerin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit für Mitteleuropa und die Baltischen Staaten.