EN

Demokratie
Existenzkrise der liberalen Demokratie?

Geschichte wiederholt sich nicht

Der Aufschwung der Populisten erinnert an die Krise der europäischen Demokratien in den Zwanzigerjahren. Doch bei allen Problemen: Von „Weimarer Verhältnissen“ sind wir in Deutschland noch weit entfernt. Zum demokratischen Selbstverständnis sollte neben aller Wachsamkeit auch Selbstbewusstsein auf das Erreichte gehören. Die Stärke der liberalen Demokratie liegt darin, dass sie verbesserungs- und lernfähig ist – aber sie muss ihre kreativen Spielräume auch nutzen.

„Bonn ist nicht Weimar“ – diese sprichwörtlich gewordene Diagnose des Schweizer Publizisten Fritz Réné Allemann aus dem Jahr 1956 beinhaltete die Staatsräson der Bundesrepublik. Warum Weimar scheiterte und was den Nationalsozialismus an die Macht brachte, diese Fragen gehörten zum Selbstverständnis einer Nachkriegsdemokratie, die aus der Geschichte gelernt hatte. Mit jedem Jahrzehnt rückte die Zwischenkriegsepoche mit ihren politischen Extremen ferner: Radikalnationalismus, Rassismus, Antiliberalismus, Irrationalismus und Gemeinschaftssehnsucht – diese Verirrungen konnten aus bewegten Zeiten, psychosozialen Folgen des Krieges und Verzweiflung angesichts ökonomischen Zusammenbruchs erklärt werden. Lange schienen die Lektionen aus der Geschichte verinnerlicht, und die Welt der Urgroßeltern lieferte den Rahmen für schaurige Historienfilme, ähnlich fremd wie das Mittelalter. 

In der letzten Zeit hat sich die gefühlte Überlegenheit der Nachgeborenen merklich verflüchtigt. Wenn vom Aufschwung des Rechtspopulismus und von der Krise der Demokratie die Rede ist, sind die 1920/30er-Jahre wieder bedrohlich nahe an die Gegenwart herangerückt. „Nächste Ausfahrt Weimar?“, fragte nach den Ereignissen von Chemnitz Albrecht von Lucke, einer der führenden Publizisten der Republik.

Der renommierte Historiker Timothy Snyder diagnostiziert ein Revival faschistischer Ideologie in Russland, aber auch in den USA, und sieht die westliche Welt auf dem Weg in die Unfreiheit. Politikwissenschaftler sinnieren darüber, wie Demokratien scheitern und zerfallen. Sosehr sich die historischen Umstände nach neun Jahrzehnten unterscheiden, so sensibel registrieren die Ideenhistoriker ihre Déja-vu-Erlebnisse. In der Tat reaktivieren die nationalistischen Homogenitätsfantasien europäischer Populisten das Vokabular von Rechtsintellektuellen wie Carl Schmitt. Ressentiment und Aggression richten sich gegen das Fremde und gegen diejenigen, die für Pluralität, Toleranz und kulturelle Vielfalt eintreten. Schuld an allem sind die Liberalen, damals wie heute. Beschleunigter Fortschritt, sozialer Wandel, internationale Krisen und ökonomische Ungewissheit machen Demokratien erneut anfällig für den Irrationalismus. Statt komplexer Problembewältigung will man einfache Lösungen, statt mühsamer Kompromisssuche herrscht die Sehnsucht nach Führung von oben, statt Möglichkeiten für das politische Engagement wahrzunehmen, erklärt man die politischen Elite zum Sündenbock.

Zutiefst irritierend ist allerdings, dass uns kein adäquater Krisenbegriff zur Verfügung steht, der uns hilft, die gegenwärtige Situation zu begreifen. Sozioökonomisch ist in Deutschland keine größere Not erkennbar als in früheren Jahren. Im Gegenteil: Die Wirtschaft boomt, die Arbeitslosigkeit ist auf einem historischen Tiefstand, und Haushaltsüberschüsse bieten politische Handlungs- und Verteilungsspielräume wie niemals zuvor. Trotzdem hat die Unzufriedenheit mit der liberalen Demokratie in der Bundesrepublik ein bislang ungekanntes Ausmaß erreicht. Das Misstrauen in das politische System zeigt sich in den Wahlerfolgen der AfD überdeutlich. Ihr gelingt es als reine Protestpartei, Ablehnung und Unzufriedenheit zu bündeln, ohne auch nur den Ansatz einer tragfähigen politischen Programmatik erkennen zu lassen. Als sie Mitte 2015 vor dem Sturz in die politische Bedeutungslosigkeit stand, sicherte sie sich durch die monothematische Instrumentalisierung der Flüchtlingsproblematik ihr vorläufiges Überleben. Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, lediglich die Rechtspopulisten zu dämonisieren und nicht nach den Schwächen der etablierten Parteien zu fragen. 

Die Krise wurzelt also in tieferen Ursachen und kollektiven Projektionen, in Statusverlustängsten und im Gefühl bestimmter Bevölkerungsgruppen, benachteiligt zu sein. Dabei signalisiert die Abkehr von der liberalen Demokratie drei Defizite, die oberflächliche Strukturähnlichkeiten zur Lage in Weimarer Lage aufweisen.

Erstens werden die Leistungsfähigkeit und die demokratische Legitimation der parlamentarisch- repräsentativen Regierungsweise generell infrage gestellt. Zweitens traut man der liberalen Demokratie nicht mehr zu, hinreichend für gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sorgen und Antworten auf Sinnfragen zu finden. Drittens gibt es einen Vorbehalt gegenüber den Verteilungsungerechtigkeiten einer kapitalistischen Ordnung; auch die Wendung gegen Asylsuchende und Flüchtlinge ist dafür ein Zeichen, denn sie vollzieht sich in der Regel mit dem Hinweis darauf, dass sich ein Anrecht auf Unterstützung auf Staatsbürger beschränken sollte. Dieser Umstand kennzeichnet eine Leerstelle: Soziale Gerechtigkeit und prekäre Lebensumstände werden weder hinreichend problematisiert noch Gegenstand politischer Auseinandersetzung

Berlin in der Weimarer Republik
© gettyullstein bild/ImageBroker RM/ Getty

Sicher: Geschichte wiederholt sich nicht. Kriegsfolgen, Inflation und Weltwirtschaftskrise sorgten in Weimar für ein schwer vergleichbares, überhitztes politisches Klima. Die soziale Not war real, die ideologischen Kämpfe waren existenziell. Dennoch klingen die damaligen Krisendebatten auf unheimliche Weise vertraut. Das Aufkommen einer radikalen Rechten, welche die Massen mobilisierte, hielt man nach dem Untergang der Monarchie für ebenso unwahrscheinlich wie heute Trumps Präsidentschaft oder eine AfD auf dem Rang der drittstärksten, in vielen Bundesländern auf dem der zweitstärksten Partei. Und dem globalen Finanzkapitalismus kann man gegenwärtig kaum mehr vertrauen als in der Ära der verheerendsten Weltwirtschaftskrise.

Der große Nationalökonom und liberale Intellektuelle Moritz Julius Bonn (1873–1965) diagnostizierte bereits im Jahr 1925 eine „Krisis der europäischen Demokratie“. Sein gleichnamiges Buch liest sich in weiten Teilen wie eine Bestandsaufnahme zur Gegenwart. Als Reaktion auf Modernisierungsprozesse beobachtete er einen ressentimentgeladenen Nationalismus, der sich gegen Minderheiten wandte und eine Politik der Ausgrenzung praktizierte. Nationalisten und Faschisten attackierten die zarten Anfänge internationaler Kooperation im Völkerbund und die ersten europäischen Versöhnungsinitiativen vehement. Im italienischen Politiker und späteren Diktator Benito Mussolini sah Bonn den Vorboten einer pseudodemokratischen Regierungsweise, bei der sich die Mitwirkung des Volkes auf die plebiszitäre Legitimation von bereits vollzogenen Maßnahmen beschränkte. Die faschistische und später nationalsozialistische Propaganda zielte darauf ab, das Volk als homogene Masse im Führerwillen aufgehen zu lassen. Eine klare Absage an Gewaltenteilung, Pluralismus und Rechtsstaat.

Wie andere Weimarer Demokraten sorgte sich Bonn um die junge Republik, die sich noch nicht auf einen eingeübten Verfassungspatriotismus und eine bewährte demokratische Kulturstützen konnte. Bonn wusste, dass die Stabilität der liberalen Demokratie von ihrer Leistungsfähigkeit abhing. Gute demokratische Regierung musste allen Bürgerinnen und Bürgern Anteil am Gemeinwohl bieten – das hieß vor allem soziale Sicherheit und klassenübergreifende Prosperität. Dabei sollte der Bürger aber nicht auf die Rolle des Konsumenten reduziert werden. Das Ideal einer bürgerlichen Selbstregierung verlangte nach Partizipation und Einsatz für das Gemeinwesen.

Kluge Staatsrechtler wie Hans Kelsen oder Hermann Heller wussten, dass politischer Irrationalismus und Faschismus kein Schicksal waren, sondern strukturelle Ursachen hatten. Sie erkannten, dass es der liberalen Demokratie am emotionalen Appeal mangelte. Demokratisches Bewusstsein benötigt Überzeugung, den Glauben an gemeinsame Ziele und kann nur durch eine republikanische Erziehung gewährleistet werden. Trotz aller Schwierigkeiten sahen sie in der demokratischen Regierungsweise die aussichtsreichste Form, hinreichend für soziale Integration zu sorgen. Funktionierende demokratische Gemeinwesen setzen eine zufriedene gesellschaftliche Mitte voraus – es ist Aufgabe der Politik, durch aktive Wirtschafts- und Sozialpolitik für Lebenschancen aller Schichten zu sorgen.

Protest gegen Soziale Ungleichheit
© gettyullstein bild/ImageBroker RM/ Getty images, privat

Diese Herausforderungen waren damals neu, denn der Wohlfahrtsstaat steckte in den Kinderschuhen. Unter dem Leitbegriff der sozialen Demokratie suchten moderne Liberale und Sozialdemokraten nach Formen und Methoden, um den krisenanfälligen Kapitalismus einzuhegen. Die Marktwirtschaft musste demokratisch werden, das heißt: der Allgemeinheit Vorteile bringen, mehr Arbeitnehmerrechte und betriebliche Mitbestimmung zulassen. Das Wirtschaftsleben war ohne politische Regulierung undenkbar geworden. Liberale wie Moritz Julius Bonn richteten ihre Kritik nicht gegen die Forderungen der Arbeiterbewegung, sondern gegen Unternehmereliten, die ihrer gesellschaftlichen und politischen Verantwortung in der Demokratie nicht gerecht wurden. Ihnen warf Bonn vor, die Gewinne zu privatisieren und die Verluste zu sozialisieren, ohne sich um die gesellschaftliche Balance zu scheren. Auch diese Kritik bleibt aktuell. Wie damals geht es heute darum, die Dynamik der Wirtschaft politisch auszubalancieren. Neben der notwendigen Gewährung von Aufstiegschancen für alle Bevölkerungsteile sind allerdings heute ökologische Verantwortung und globale Gerechtigkeitserwägungen als neue Faktoren hinzugetreten.

Als Zeitzeugen von Bolschewismus und Faschismus entwickelten Liberale bereits Mitte der Zwanzigerjahre eine Vorform der Totalitarismustheorie, mit der sich die politischen Extreme in Ideologie und Praxis verstehen ließen. Die Gegner einer rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung formierten sich damals ähnlich schnell und unvorhergesehen wie in der Gegenwart. Ihre Militanz war unübersehbar. Überzeugte Republikaner diskutierten deshalb frühzeitig über die Gestaltung einer wehrhaften Demokratie. Dass sie politisch keinen Widerhall fanden, ist ihnen nicht anzulasten. Aber nach 1945 kehrten ihre Ideen zurück ins Nachkriegsdeutschland und formten den Konsensliberalismus im Kalten Krieg. 

Wir dürfen nicht vergessen, dass politische Denker Neuland betraten, als sie damals egalitäre Massendemokratie und liberale Freiheitswerte zusammendachten. 1918, also genau vor hundert Jahren, war die Geburtsstunde der liberalen Demokratie, nicht nur in Deutschland, sondern in weiten Teilen der atlantischen Welt, denn das freie und gleiche Wahlrecht, auch für Frauen, setzte sich erst jetzt nach und nach durch – in Großbritannien sogar erst 1928 und in Frankreich noch später, nämlich 1944. Heute wird uns klar, dass die liberale Demokratie keinem determinierten Entwicklungsgang entsprungen ist. Sie beruht auf hart erkämpften Kompromissen zwischen bürgerlichem Liberalismus und Sozialdemokratie. Die einen mussten soziale und politische Gerechtigkeitsforderungen anerkennen, die anderen die Unhintergehbarkeit des Rechtsstaates und der individuellen Freiheit. 

Im Rückblick auf das 20. Jahrhundert lässt sich konstatieren, dass die Demokratie nie Ausgangspunkt war, sondern fast immer zuletzt kam, also auf der vorherigen Verankerung liberaler Ideen aufbaute. Anders ausgedrückt: Nur als liberale Demokratie hatte sie bislang Chancen auf Stabilisierung und Dauerhaftigkeit. Das sollte man auch in Erinnerung behalten, wenn Rechtspopulisten das Hohelied auf die „illiberale Demokratie“ singen. Eine Wortschöpfung übrigens, die Wilhelm Röpke, Mitbegründer des Ordoliberalismus, Anfang der 1930er für den Nationalsozialismus prägte.

Die Stärke der liberalen Demokratie liegt darin, dass sie verbesserungs - und lernfähig ist.

Jens Hacke
Jens Hacke

Natürlich reicht allein das Glaubensbekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung kaum aus. Sie ist ein fragiles Gut, und unsere Demokratie wäre nicht in gefährdeter Lage, wenn sie keine Schuld an ihrem derzeitigen Zustand trüge. Das Register der Fehlentwicklungen ist lang: die Technokratie der Europäischen Union, die neoliberale Inkaufnahme wachsender sozialer Ungleichheit, der fehlende Mut zum Entwurf des guten Lebens in einer künftigen ökologisch verantwortlichen Gesellschaft, die verspäteten Anstrengungen sozialer und politischer Integration von Zuwanderern, die Versäumnisse in der Prävention globaler Migration.

Die Stärke der liberalen Demokratie liegt darin, dass sie verbesserungs- und lernfähig ist. Garantien für ihren Bestand gibt es nicht. Die Einsichten der Weimarer Denker bleiben aktuell, weil sie die Existenzkrise der Demokratie durchdachten. Bei ihnen ging es ums Ganze, und sie erinnern uns daran, wie voraussetzungsreich das Projekt der liberalen Demokratie bis heute tatsächlich ist. 

Daraus können wir Kraft schöpfen, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie viel besser unsere heutige Lage und wie viel kreativer Spielraum für demokratische Politik eigentlich vorhanden ist. Um diese Möglichkeiten auszuschöpfen, sollte man sich aus der gegenwärtigen Verzagtheit befreien und selbstbewusst eine politische Agenda vorlegen. Es reicht nicht, das Erreichte zu verwalten. Nötig ist ein neuer Mut, die demokratische Gesellschaft weiterzuentwickeln, lebenswerter zu machen und dabei die Freiheit entschlossen zu schützen.

Jens Hacke, Jahrgang 1973, vertritt zurzeit die Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Greifswald. Große Beachtung fand zuletzt sein bei Suhrkamp erschienenes Buch „Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit“.