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#JetztMutMachen
Wer Lösungen sucht, muss lernen und arbeiten

Ein Kommentar von Wolfgang Gerhardt
Wolfgang gerhardt
© Friedrich-Naumann-Stiftung / photothek


So mancher, der sich in diesen Tagen der Quarantäne daheim langweilt, macht sich daran, den Keller aufzuräumen. Der gegenwärtige Vollstopp für Beschäftigung und öffentliches Leben gibt allerdings auch die Gelegenheit zu Inspektion und Inventur der Oberstübchen. Das tut not, denn nicht erst seit der Corona-Krise erleben wir eine bedenkliche Ignoranz gegenüber dem Erodieren freiheitlicher Ordnungen. Eine solche Ignoranz entsteht, wenn die Interessen die Überzeugungen verdrängen und wenn die Menschen in einer Gesellschaft kein Gefahrenbewusstsein mehr besitzen, außer wenn sie an Wohlstand einbüßen: So hat Alexis de Tocqueville im 19. Jahrhundert einen Verfallsprozess beschrieben, den nun auch wir in unserer Epoche beobachten. Diverse Steckenpferdreiter sind mit skurrilen Vorstellungen und unterkomplexen Weltbildern aus ihren Ställen gekommen. Es trieben sich schon länger viele herum, die mehr fühlten als wussten, mehr ablehnten als verstanden, mehr angriffen als aufbauten. Ihr Geltungsanspruch beruhte weder auf Substanz noch auf Kompetenz. Sie hatten trotzdem leichtes Spiel, denn nichts lässt sich so einfach herstellen wie Empörung. Argumente störten eher, Affekte und Ressentiments kochten hoch, Hass auf alles, was funktionierte, breitete sich aus. Verloren gingen Alltagsvernunft, Höflichkeit und Humor. 

Urplötzlich wird jetzt in der Corona-Krise die Eigenverantwortung Deutschlands auf eine harte Probe gestellt – die Eigenverantwortung einer Gesellschaft, in der die Menschen vieles geringschätzen, Politiker gar verachten und einen hohen Sündenbockbedarf pflegen. Die Eigenverantwortung einer Gesellschaft, die nach ihrer Katastrophengeschichte nie eine Körpersprache des Selbstvertrauens entwickelt hat und nach außen stets das Bild abgab, in Selbstgesprächen versunken zu sein, unsicher, wirtschaftlich erfolgreich, technologisch höchstleistungsfähig, politisch aber eher unbegabt. Die Eigenverantwortung einer Gesellschaft, die im Innern bisher dem Vordringen national-populistischer Bewegungen nicht recht gewachsen ist und gerade im Äußeren in entscheidenden Situationen wegschaut. Allzu oft passt auf Deutschland Albert Einsteins Feststellung, dass die Welt nicht nur von denen bedroht wird, die böse sind, sondern auch von denen, die das Böse zulassen. Von Heinrich Heine stammen die sarkastischen Worte: „Franzosen und Russen gehört das Land, das Meer gehört den Briten, Deutschland besitzt im Luftraum des Traums die Herrschaft unbestritten.“ 

Auch die Politik muss sich in Wirklichkeit üben

Es wird Zeit, dass sich die Menschen in unserem Land wieder des Glücks bewusst werden, in Freiheit zu leben, in einem Rechtsstaat, in einer erfolgreichen sozialen Marktwirtschaft. In der Vergangenheit haben sich allzu viele darin ergangen, die Institutionen der liberalen Demokratie zu beschädigen, deren Wertefundament lächerlich zu machen und sich gegen alles zu wenden, wodurch es ihnen gut ging. Viele wollten zwar immer die Wahrheit hören, bestraften aber die, die sie damit konfrontierten, mit Liebesentzug, und wählten stattdessen die Märchenerzähler. Aber auch die Politik muss sich in Wirklichkeit üben. Weiterhin beschreiben Parteistrategen mit verkniffenen Gesichtern eine Menge geduldiges Papier, in der Hoffnung, dass am Ende der Gedanke recht behält. Doch für die Qualität eines politischen Programms entscheidend ist, um es in der Fußballersprache zu sagen, „auf‘m Platz“.

Innenpolitisch wie auch außenpolitisch müssen wir unsere Illusionen und unsere Sorglosigkeit ablegen. Die Freiheit hat noch nicht gewonnen; die Lage der Welt ist prekär. Es findet ein Wettlauf um Ressourcen und Chancen statt. Jedes Land sucht seinen Platz; es gibt Auf- und Absteiger. Diktatur, Nationalismus und Populismus unterlaufen die Menschenrechte und behindern ein erfolgreiches Wirtschaften. Viele Konflikte kommen aus geschichtlichen Tiefen, deren Trümmer nie ordentlich beiseite geräumt wurden. Es werden ganz alte und neue Landkarten aufgeschlagen. China grenzt seine Seegebiete neu ab. Russland greift aus imperialer Nostalgie ohne Rücksicht auf Völkerrecht und Nachbarn in die frühere sowjetische Landmasse und zündelt, wo es kann. Großbritannien glaubt, allein besser durchzukommen. In den Vereinigten Staaten ist ein unberechenbarer Mann im Präsidentenamt, dem der Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit egal ist. Donald Trump verfügt über das, was Odo Marquard „Inkompetenzkompensationskompetenz“ nannte. Auch woanders betreten Neulinge, deren Fähigkeiten weit hinter ihrem Selbstbewusstsein zurückbleiben, die politische Bühne. Ihnen ist offenbar unklar, dass es für Handelsstreitigkeiten, gegenseitige Aufrechnungen und aggressiven Umgang keine vernünftige Kosten-Nutzen-Relation mehr gibt. Die Welt bleibt gerade weit unter ihrem möglichen Niveau.

Wir müssen uns klar machen: Es gibt für nichts eine Bestandsgarantie, es gibt noch nicht einmal eine Nichtverschlechterungsgarantie. Wenn wir wollen, dass die liberale Demokratie überlebt, dann müssen wir jetzt anpacken, und zwar schnell und beherzt. Es gilt größte Anstrengungen zu unternehmen, um die Fähigkeit möglichst vieler Menschen zu stärken, politischen Argumenten gewachsen zu sein, Sinn von Unsinn unterscheiden zu können, wissenschaftlichen Erkenntnissen und gesellschaftlichen Diskussionen folgen zu können sowie den politischen Ereignissen und wirtschaftlichen Zusammenhängen in aller Welt die gebotene Aufmerksamkeit zu schenken. Man braucht dafür kein Fachwissen auf allen Gebieten. Dringend nötig ist allerdings ein Mindestmaß an Orientierungswissen und Allgemeinbildung. Denn wer davon zu wenig besitzt, der muss zu viel glauben und reagiert in mehrdeutigen, komplexen Situationen eher kopflos und aggressiv. Die Fähigkeit zum Umgang mit Komplexität ist aber gerade der Schlüssel zum Lösen der Probleme unserer Welt.

Es bedarf wirtschaftlicher Freiheit

Eine der wesentlichen Erkenntnisse, die eine solche Fähigkeit zutage fördern könnte, ist die Einsicht, dass die Freiheit alle Sphären des gemeinschaftlichen Lebens umfassen sollte – auch die Wirtschaft. Um Wolfgang Kersting zu zitieren: „Wer die sexuelle Befreiung der Gesellschaft vorangetrieben hat, wer sich für fremde Kulturen, für Ethnien und Religionen einsetzt, wer die Abtreibung liberalisiert hat, wer gleichgeschlechtlichen Partnerschaften die Ehe ermöglicht, der muss wissen, dass Freiheit sich nicht teilen lässt, dass sich eine emanzipatorische Modernisierung nicht halbieren lässt.“ Es kann nichts werden mit einer ausschließlich kulturell-gesellschaftlichen Emanzipation, deren Verfechter die Realitäten der Ökonomie und der Technik abschätzig behandeln und in öffentlichen Tribunalen unter Anklage stellen. Seit der Vertreibung aus dem Paradies müssen die Menschen arbeiten, um leben zu können. Handel und Wettbewerb haben uns schon seit Jahrhunderten die Arbeit erleichtert und wachsenden Wohlstand gebracht. Die finanziellen Ressourcen, die wir jetzt zur Bekämpfung des Corona-Virus einsetzen und die wir schon für das schlichte wirtschaftliche Überleben brauchen, kommen nicht aus dem Nichts. Mehr denn je geht es jetzt darum, dass wir uns unsere wirtschaftliche Resilienz erhalten, und dazu bedarf es wirtschaftlicher Freiheit. Wir tragen Verantwortung sowohl gegenüber den Schwächeren als auch gegenüber denen, die die Mittel erwirtschaften.

Wenn die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit schrumpft, sind die sozial Schwächeren die ersten Opfer, und der Staat verliert die Fähigkeit, die großen Herausforderungen zu bestehen, die sich jetzt stellen. Auch die dringend notwendige Versöhnung von Ökologie und Ökonomie kann dann nicht mehr gelingen. Öko muss logisch gedacht werden. Klimawandel ist nichts Neues. Der Treibhauseffekt hat das menschliche Leben auf der Erde überhaupt erst möglich gemacht. Neu ist, dass der Mensch mit Beginn der Industrialisierung den Klimawandel mitverursacht und in gefährlicher Weise beschleunigt hat. Daran gibt es keinen Zweifel. Doch die Umwelt-Debatte wird allzu oft mit Agitationsinteresse geführt. Es gibt heute Bewegungen, deren Anhänger die Einschränkungen der Freiheit der Bürger als eine moralische Verpflichtung im Interesse der Bekämpfung des Klimawandels begründen, wie es Andreas Rödder formuliert. Aber nicht eine große Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft durch einen umfassend ermächtigten Lenkungsstaat mit gouvernantenhaften Zügen ist die Antwort auf neue Herausforderungen, sondern ein evolutionärer Strukturwandel durch wirtschaftlichen wie geistig-kulturellen Wettbewerb. Nur dieser ist in der Lage, die nötige Innovationskraft zu mobilisieren und Lernen zu ermöglichen. Der Wille zum Lernen ist auch die allererste Voraussetzung, damit unsere Welt nicht einer Pandemie von Uninformiertheit und Dummheit und Verführbarkeit anheimfällt.  Wer Erhöhung sucht, muss beten. Wer Lösungen sucht, muss lernen und arbeiten.

Liberalismus bedingt Haltung

Es ist alles so kompliziert, gerade heute, und wir hätten es gerne einfach: Das ist ein verständlicher Wunsch. Doch die Welt ist eben nicht einfach, und sie war es auch noch nie. Gerade deshalb sollten sich Liberale auch nicht dafür entschuldigen, dass sie keine einfachen Weisheiten und Patentrezepte anbieten, wie es Linke und Rechte versuchen. Viele Linke wollen den Markt abschaffen, um die Verhältnisse zu verbessern. Viele Rechte glauben, den Beschleunigungsverhältnissen der Zeit durch ethnisch-kulturelle Abschottung zu entkommen. Die betrüblichen Ergebnisse solcher Politik lassen sich in aller Welt beobachten. Sie führt entweder zu Armut oder zu Unterdrückung, und in manchen Fällen führt sie auch zu beidem. Liberale arbeiten daran, diese Fluchtburgen gegenüber komplexen Herausforderungen abzutragen, auf deren Mauern immer nur die Kurzsichtigen Wache halten.

Der Liberalismus ist nicht nur eine politische Philosophie, sondern er bedingt auch eine Haltung. Die Liberalen wissen, dass die freiheitliche Demokratie zerbrechlich ist und dass das Leben stets mit Anstrengung und Verantwortung verbunden ist. Die Liberalen müssen die Komplexität der Welt begreifen, sich um eine selbstbestimmte Lebensführung bemühen und durchhalten können. Sie müssen Unbedingtheitsansprüchen entgegentreten und dem vermeintlich Einfachen widerstehen. Sie müssen anderen Menschen immer zuhören, aber sie dürfen dann auch sagen, was diese wissen müssen. Und sie müssen sich ernsthaft und redlich um Vertrauen bemühen, damit ihnen das, was sie anderen zu vermitteln haben, auch abgenommen wird. Darauf wird es ankommen, wenn nach der Corona-Krise die Geschäfte wieder öffnen, sich das Leben normalisiert und die Menschen einander wieder begegnen. Wie Alfred Herrhausen sagte: „Wir müssen das, was wir denken, auch sagen. Wir müssen das, was wir sagen, auch tun. Und wir müssen das, was wir tun, dann auch sein.“

 

Wolfgang Gerhardt gehörte von 1994 bis 2013 dem Deutschen Bundestag an. Von 1995 bis 2001 war er Bundesvorsitzender der FDP, von 1998 bis 2006 Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion. Von Mai 2006 bis September 2018 war Wolfgang Gerhardt Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung.