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Mauerfall
Von der deutschen Einheit zur europäischen Einigung?

Liberale Konzeptionen nach 1945  
Sechziger Jahre, Schwarzweissfoto, Berliner Mauer in Berlin, Brandenburger Tor, Dezember 1968, Warnschild "Achtung Sie verlassen jetzt West-Berlin".

Sechziger Jahre, Schwarzweissfoto, Berliner Mauer in Berlin, Brandenburger Tor, Dezember 1968, Warnschild "Achtung Sie verlassen jetzt West-Berlin".

© picture alliance/United Archives | Werner Otto

Nach 1945 verstanden sich die Liberalen unter Rückgriff auf die Geschichte des Liberalismus im 19. Jahrhundert als „Gralshüter“ der Einheitsidee. Aufgrund der außenpolitischen Gesamtlage war diese jedoch eng mit den Entwicklungen in Europa verknüpft, so dass sich die Liberalen über das Verhältnis von deutscher Einheit und europäischer Einigung immer wieder (neu) verständigen mussten. Dabei wandelte sich die Sicht der FDP als Partei des politischen Liberalismus zwischen 1949 und 1990 mehrmals. Zunächst standen die enge Einbindung in das westliche Bündnis und der Aufbau einer europäischen Zusammenarbeit im Vordergrund. Sie sollten eine Position der Stärke ermöglichen, welche die meisten Liberalen als Basis für den Wiedervereinigungsprozess ansahen. Diese Position geriet durch die europäischen und deutschen Entwicklungen Mitte der 1950er Jahre unter Druck. Daraufhin setzte sich in der FDP eine deutlich nationalere Sichtweise auf das Verhältnis von Wiedervereinigung und europäischer Zusammenarbeit durch. 

Der Generationenwechsel in der Politik

Zentral war die Wiedervereinigung Deutschlands in den Grenzen von 1937, die man u.a. durch ein Eingehen auf die sowjetischen Sicherheitsbedürfnisse erreichen wollte. Daher erschien ein weiterer supranationaler Ausbau der westeuropäischen Integration als hinderlich für eine zukünftige Wiedervereinigung. Seit Mitte der 1960er Jahre verdrängten dann jüngere Politikerinnen und Politiker die alten, nationalliberal geprägten Führungsfiguren und damit  auch die argumentativen Bezüge auf das Reich oder eine Einheit des deutschen Reiches. Sie verbanden stattdessen eine auf Ausgleich mit der Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten bedachte Politik mit einem Ausbau der europäischen Integration im Westen. Sie sahen eine Entspannung mit dem Osten nur auf der Basis einer starken Verankerung der Bundesrepublik in den europäischen Gemeinschaften als möglich an und begrüßten aus  dieser Perspektive jeden Fortschritt der europäischen Integration.

Plädoyer für Pluralität und liberale Erinnerungskultur – das neue Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung

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Unter der leitenden Frage „Auf dem Weg zur liberalen Demokratie?“ nehmen die sechzehn Beiträge die Probleme der Nationsbildung und die politischen Ordnungsvorstellungen der Liberalen vom Kaiserreich bis zu heutigen Europakonzepten unter die Lupe. Welche Gestaltungsräume boten sich den liberalen Parteien mit ihrer Fortschrittsorientierung? Welche Dynamik entfalteten Modernisierung und Globalisierung? Wo lagen aber auch die Grenzen liberaler Leitbilder?

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Gesamteuropäische  Friedensordnung

Damit entfiel auch die ständige Überprüfung europäischer Integrationsschritte im Hinblick auf ihre deutschlandpolitische Wirkung, wie es noch in den 1950er und 1960er Jahren üblich gewesen war. Langfristig sollten der Ausbau der westeuropäischen Zusammenarbeit und die zunehmende Kooperation zwischen Ost und West in eine gesamteuropäische  Friedensordnung münden, in der auch die Wiedervereinigung auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts der Völker vollzogen werden könnte. Damit stand ein Argumentationsreservoir bereit, aus dem man 1989/1990  schöpfen konnte. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik schien dann  sowohl die Einheit als auch die Freiheit verwirklicht. So war aus Sicht der Liberalen nicht das Deutsche Reich von 1871 zurückgekehrt, sondern eine  neue Friedensmacht in Europa entstanden.

Dies ist ein Auszug aus dem Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 2022 erschienen im Verlag Nomos.

Über den Autor
Henning Türk ist ein deutscher Historiker. Seit 2016 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. 2017/18 nahm er eine Lehrstuhlvertretung an der Universität Mainz wahr, 2018–2020 und im Sommersemester 2022 vertrat er an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.