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Integration
Zuallererst Türken – Die türkische Diaspora in Westeuropa im Spiegel der Demoskopie

Köln Erdogan Anhänger
Anhänger von Präsident Erdogan begrüßen ihn bei seinem Staatsbesuch in Köln mit großem Jubel. © picture alliance / Geisler-Fotopress | Christoph Hardt/Geisler-Fotopress

Die türkische Regierung betreibe „eine langfristig geplante Diasporapolitik, um Einfluss auf die türkische Diaspora und türkischstämmige Deutschen in Deutschland auszuüben“, schreibt die Bundesregierung jetzt in ihrer Antwort auf eine kleine Anfrage der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag. Dabei geht es um Aktivitäten türkischer staatlichen Stellen in Deutschland.

Die türkische Diaspora ist längst zu einem Politikum geworden. Für die Politik in Deutschland und Europa geht es dabei vor allem um die Frage, wie sie besser in die Gesellschaft ihrer Wahlheimat integriert werden können. Für den machtbewussten türkischen Präsidenten Erdogan und seine Regierung sind die Diaspora-Gemeinden eine wichtige Zielgruppe. Viele der Auswanderer haben die türkische Staatsangehörigkeit und mithin das Recht, in der „alten“ Heimat an Wahlen teilzunehmen. Im Ergebnis heißt dies: die türkische Innenpolitik spielt für die türkischstämmigen Menschen in Europa eine wichtige, ja dominante Rolle – was wiederum nicht ohne Folgen für die politische Beteiligung dieser Menschen in Europa bleibt.

Interessante Aufschlüsse über die Einstellungen und politischen Präferenzen der in Deutschland, Frankreich, Österreich und den Niederlanden lebenden Türkinnen und Türken gibt die aktuelle Studie des „Center of American Progress“ mit dem Titel: The Turkish Diaspora in Europe. Integration, Migration, Politics. Eine wesentliche Schlussfolgerung des Berichtes, der auf repräsentativen Umfragen in den genannten vier europäischen Ländern basiert, lautet: Die meisten der Befragten fühlen sich im Großen und Ganzen in der neuen Heimat „angenommen“, für eine Mehrheit überwiegen „die positiven Erfahrungen“, auch wenn es gleichzeitig Klagen über „Alltagsdiskriminierung in nennenswertem Umfang“ gibt.

Der Bericht dokumentiert, dass die Diaspora-Türkinnen und Türken in Frankreich und den Niederlanden gesellschaftlich besser integriert seien als in Deutschland und in Österreich. Gleichwohl: In allen Ländern identifizieren sich die Auslandstürken zuallererst als Türken - und nicht als Mitglieder der Gesellschaften, in denen sie leben. Hier zeigt sich eine Ambivalenz, die verschiedentlich auch mit dem Begriff „Doppelidentität“ beschrieben wird: Zum einen halten sie an ihrem Herkunftsland fest, im gleichen Atemzug wollen über zwei Drittel – so der demoskopische Befund – auf Dauer in der neuen Heimat bleiben. Auch interessant: In Deutschland liegt der Anteil der Rückkehrwilligen, also derjenigen, die bei Erreichen der Altersgrenze in die Türkei zurückkehren wollen, mit 24 Prozent vergleichsweise am höchsten.

Die Studie bestätigt einmal mehr die bekannte – und für die Politik bedeutsame Erkenntnis -, dass Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit gegenüber solchen mit türkischem Pass besser integriert sind: „Diejenigen mit Staatsangehörigkeit haben in praktisch jedem Punkt eine positivere Einstellung“, so der Bericht.

Von einer Integration der Neubürgerinnen und Bürger in die politischen Prozesse könne keine Rede sein, moniert der Bericht. Von einem „minimalen politischen Engagement“ und „weitreichender Ambivalenz gegenüber europäischer Politik“ bei den Auslandstürken ist die Rede. Offenbar gelinge es den politischen Parteien nicht, diese Menschen mit ihrer Kommunikation zu erreichen – geschweige denn anzusprechen. Am besten schneiden in dieser Hinsicht die Sozialdemokraten und die Grünen ab. Es bestehe unter den Mitgliedern der türkischen Diaspora eine „tiefe Skepsis“ gegenüber konservativen Parteien sowie eine „beinahe totale Ablehnung populistischer, einwanderungsfeindlicher Parteien“.

In politischen Fragen bleibt die Türkei für die Diaspora-Gemeinden der wichtigste Bezugspunkt. Diese Dominanz spiegelt sich im Medienkonsum: Jung und Alt favorisieren in hohem Maße türkische Medien in türkischer Sprache und mit einer türkischen Agenda. Dies bleibt natürlich nicht ohne Einfluss auf die politische Sozialisation.

Seit 2014 haben Auslandstürkinnen und Türken das Recht an politischen Wahlen in der Türkei teilzunehmen. Zuletzt nahmen über die Hälfte dieses Recht in Anspruch. In Bezug auf die Parteienpräferenz ist eine Ähnlichkeit zum Abstimmungsverhalten im „Mutterland“ erkennbar. Wie in der Türkei liegt auch bei der Diaspora die Regierungspartei AKP mit großem Abstand vorne – und wie in der Türkei ist auch bei den türkisch-stämmigen Menschen in Gelsenkirchen, Rotterdam, Paris oder Graz Präsident Erdogan der mit großem Abstand beliebteste Politiker.

Bei der Parteienpräferenz gibt es allerdings einen bemerkenswerten Unterschied zwischen der Wählerschaft in der Türkei und der Diaspora:  Bei den Türkinnen und Türken in Westeuropa haben die rechtsextremen türkischen Parteien deutlich weniger Zuspruch. Bei den Parlamentswahlen von 2018 brachten es die MHP und die von ihr abgespaltene IYI-Partei zusammengenommen auf über 20 Prozent der Wählerstimmen. In der Umfrage kommen diese Parteien auf deutlich unter die Hälfte dieser Zahl. Für die Verfasser des „Center for American Progress“ (CAP) sei dies angesichts der Diskussionen über die Machenschaften der mit der MHP in Verbindung gebrachten rechtsextremistischen „Grauen Wölfe“ eine nennenswerte Tatsache. Dass die türkische Diaspora in Westeuropa deutlich weniger Sympathien für Rechtsextremismus hegt als ihre Landsleute in der zurückgelassenen Heimat ist in jedem Fall eine gute Nachricht. 

Dieser Artikel von Ronald Meinardus wurde erstmals in unserem „Türkei Bulletin“ veröffentlicht, einer monatlichen Veröffentlichung, die ein deutschsprachiges Publikum über die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in der Türkei informieren soll.