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Journalismus
Pandemietagebuch der über 65-Jährigen

Der Kampf der 65+ mit Pandemie, Hass und Einsamkeit
65+ Pandemic Diary
© P24

Autorin: Esra Açıkgöz

"Nicht das Virus war machte Angst, sondern das Gefühl, dass irgendwelche Männer über unser Leben bestimmen." "Es ist sehr ungerecht, aufgrund des Alters diskriminiert zu werden." "Die Isolation aufgrund der Pandemie war härter als die Haftstraße. Diesmal ging es um unsichtbare Mauern." "Auch wenn in Form von Hassreden – immerhin wurde über uns gesprochen."

Nur einige wenige Aussagen, die auf die Erlebnisse der über 65-Jährigen während der Pandemie hinweisen. 7.953.555 Menschen wurde – mit jeweils unterschiedlichen Regelungen – 16 Monate lang verboten, sich im Freien aufzuhalten. Sie stellten nämlich eine Gefahr dar, eine sehr große Gefahr!  Manche zeigten sie bei der Polizei an. Andere schrien sie an: „Geht zurück nach Hause!” Sie wurden mit Kölnisch Wasser übergossen.

In einer achttägigen Serie kommen betroffene Menschen zu Wort und erzählen von den physischen und seelischen Spuren der Covid-19-Pandemie und der begleitenden Einschränkungen, von der zunehmenden Altersdiskriminierung, von der Gefahr, zum Sündenbock gemacht zu werden und den digitalen Herausforderungen.

Experten haben für uns die gesellschaftlichen Ursachen des Ageismus und seiner Verbreitung sowie die psychischen Auswirkungen der Pandemie auf die über 65-Jährigen analysiert.

Pandemietagebuch der über 65-Jährigen #1: Es ist nicht einfach, gleichzeitig gegen Pandemie und Armut zu kämpfen

Die Gruppe der Menschen über 65 ist von der Pandemie am meisten betroffen. Aufgrund der Verbote und Einschränkungen mussten sie nicht nur gegen das Virus, sondern auch gegen Einsamkeit und Hass kämpfen. Mahinur Şahbaz ist eine von ihnen. Eine 68-jährige Rentnerin. Sie wird den Tag nicht vergessen, an dem sie auf dem Weg zu einem Arzttermin wie eine Verbrecherin gezwungen wurde, den Bus zu verlassen. Und dass sie Kredit aufnehmen musste, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.

„Genauso wie wir Oldtimer in der Garage behalten, müssen auch unsere Senioren und Seniorinnen zu Hause bleiben.“ Diese Worte sind einer Fernsehrede von Ateş Kara, Mitglied des Covid-19-Wissenschaftsausschusses, entnommen. Allein dieser Satz zeigt, wie Menschen über 65 Jahren wahrgenommen werden.  Und wie sie unter dem Vorwand der Pandemie „aus dem Weg geräumt“ werden sollen.

Am 21. März 2020 waren es insgesamt 7.953.555 Menschen über 65, die 16 Monate lang mit lediglich einige Stunden Ausgangsmöglichkeit pro Tag in ihren Wohnungen eingesperrt waren. Weder machte man sich Gedanken, wie sie Lebensmittel beschaffen sollten, noch fanden ihre gesundheitlichen Probleme Berücksichtigung. Unter ihnen gab es solche, die immer noch arbeiten mussten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Deswegen dröhnte das Geschrei der Frau lange in den Ohren, als sie gezwungen wurde, vom Bus auszusteigen: „Ich habe heute schon drei Treppenhäuser geputzt. Wenn ich nicht arbeite, verhungere ich.“  Mal hieß es, es sei sicherer, zwischen 11:00 und 15:00 aus dem Haus zu gehen, dann wieder zwischen 10:00 und 13:00. Warum es ab 13:01 gefährlicher werden sollte, verstand inklusive das Gesundheitspersonal niemand.

Es ist wichtig, sich verabschieden zu können

Die Antwort interessierte niemanden wirklich, denn die Verbote auf der einen und offizielle Erklärungen auf der anderen Seite, kombiniert mit der diskriminierenden Sprache der Medien, machten aus den „gefährdeten“ Alten auf einmal „gefährliche“ Alte. Alle waren sich darüber einig, dass die Einschränkungen eine wohlverdiente Strafe waren. Die Alten waren gefährlich, sehr gefährlich! Einige wurden angezeigt. „Geht nach Hause!“ wurde ihnen nachgerufen oder sie wurden mit Kölnisch Wasser übergossen. Auch wenn sie Ausgang hatten, konnten sie den anschuldigenden Blicken nicht entkommen.

Die „Altenjagd“ endete nach 16 Monaten, am 1. Juni 2021, als sie wieder die Freiheit erlangten, auf die Straße zu gehen. Und das, obwohl sie die Gruppe waren, die am meisten körperliche Bewegung brauchte und ihre Liebsten am meisten vermisste. Für sie waren die letzten Tage, die es noch zu leben galt und die noch verbliebenen Freunde sowie das Abschiednehmen von den Toten besonders wichtig.

Das alles wurde ihnen genommen. Die Einsamkeit derer bei der Trauerfeier, die ihre Liebsten verloren hatten, mischte sich mit der Verzweiflung der anderen, die nicht Abschied nehmen konnten und ließ in den Herzen eine klaffende Wunde zurück.

Andere bestimmten über ihr Leben

Zum Virus, zur Einsamkeit und zum Hass kam noch die Herausforderung neuer Technologien. Eine Generation, die erst mit 50 Jahren Computer und Internet kennenlernte – vorausgesetzt sie hatten das Glück, eine Schreibtischarbeit zu verrichten – musste nun online-Rechnungen zahlen, ihr Geld verwalten, den sogenannten HES-Code – die Applikation des türkischen Gesundheitsministeriums – beschaffen und einen Impftermin buchen. Sie waren aber nicht einmal so weit, ein E-Government-Passwort zu kreieren. In einem Land, in dem Millionen unter der Armutsgrenze leben, wurde nicht einmal die Absurdität der Annahme thematisiert, dass jeder ein Smartphone besitzt.

In dieser achttägigen Artikelserie sprachen wir mit über 65-Jährigen über die körperlichen und geistigen Spuren der Covid-19-Verbote, wie sie die durch die Pandemie verstärkte Altersdiskriminierung wahrnahmen, die Gefahr zum „Sündenbock“ gemacht zu werden und die Herausforderung Technologie. Manche sagten, nicht das Virus war beängstigend, sondern die Tatsache, dass andere über ihr Leben bestimmten. Andere schrien auf: „Wir sind noch nicht tot, wir leben noch.“ Am meisten geschmerzt hat die Feststellung: Zumindest spricht man nun über uns, wir sind sichtbar, auch wenn als Gegenstand von Hassreden. Überlassen wir nun das Wort Mahinur Şahbaz, Zeugin des ersten Tages.

Ich musste einen Kredit aufnehmen, um meinen Lebensunterhalt bestreiten zu können

Mahinur Şahbaz verbrachte ein Drittel seines Lebens mit Arbeit. Über die Steuer, die sie ihr Leben lang zahlten musste, spricht sie nicht. Was sie am Ende ihres Berufslebens erreichte, war eine Rente unter der Armutsgrenze. Deshalb war es für sie nicht einfach, in der Pandemie neben dem Virus auch noch gegen Armut und andere altersbedingte Probleme zu kämpfen. Als Vorsitzende der Rentnergewerkschaft weiß sie, dass sie nicht die Einzige war, die es schwer hatte.

Obwohl Frau Şahbaz allein lebt und keine Miete zahlt, würde sie mit ihrer Rente nicht auskommen, würde sie nicht ständig nach preiswerten und guten Produkten suchen. Aber während der Pandemie blieb ihr auch das untersagt: „Die Pandemie traf am meisten mein Budget und meine Gesundheit. Wegen der Ausgangssperre mussten wir online einkaufen, was teuer war – und schlechte Qualität. Zudem wurde alles unkontrolliert teurer. Ich musste bei der Ziraat Bank 5000 TL zinsenloses Kredit aufnehmen.“ Sie backte ihr Brot selbst und ernährte sich tagelang nur von Nudeln. Und bekam gesundheitliche Probleme.   

Ich wollte zum Arzt, durfte aber nicht in den Bus einsteigen

Şahbaz hat chronische Krankheiten; Zucker, Cholesterin, Herzprobleme…  Sie erinnert sich an den Stress in der Pandemie: „Es war sehr hart, 51 Tage lang Ausgangssperre zu haben, ohne darauf vorbereitet zu sein. Da ich nicht wusste, wie dieses Virus übertragen wird, war ich sehr besorgt. Ich konnte nicht regelmäßig zur Gesundheitskontrolle gehen. Der finanzielle Engpass machte mir eine gesunde Ernährung unmöglich. So nahm ich in dieser Zeit sechs Kilo zu.“ Diese Kilos verursachten weitere gesundheitliche Probleme.

Während der Ausgangssperre erleidet Şahbaz einen Herzkrampf, macht beim Arzt einen Termin aus und erlebt auf dem Weg ins Krankenhaus eine Diskriminierung wie noch nie in ihrem 68-jährigen Leben: Sie versucht, in den Bus einzusteigen, doch der Fahrer ist fest entschlossen, die "gefährliche" Passagierin nicht mitzunehmen. Sie zeigt ihm ihre ärztliche Terminbestätigung, aber das hilft ihr nicht weiter. Der Busfahrer besteht auf einer polizeilichen Genehmigung. Şahbazs Wehmut hört man in ihrer Stimme, wenn sie erzählt: „Ich habe mich sehr schlecht gefühlt. Was habe ich in der Polizeistation verloren? Das ist die Folge davon, dass der Staat alte Menschen einsperrt und den Anschein erweckt, als seien wir für die Pandemie verantwortlich. Das Schlimmste aber war, dass sich niemand im Bus für mich einsetzte. Das hat mich sehr enttäuscht. Es ist so ungerecht, wegen des Alters diskriminiert zu werden.“

Verbote töteten unsere Freunde

Ihre Stimme wird laut, als ob sie gegen Ungerechtigkeit rebellieren würde: „Jahrelang brachten wir in den Schulen Kindern bei, die Jüngeren zu lieben und die Älteren zu achten. Die Pandemie hat jedoch diese Lüge aufgedeckt. Am Eingang mancher Supermärkte stand sogar ,Eintritt für über 65-Jährige verboten!‘ Dieses Gefühl des Diskriminiertwerdens, Ausgeschlossen- und Vergessenseins werden wir ein Leben lang nicht vergessen. „Die Verletzungen seitens des Staates werden zu unserer Identität.“ Şahbaz glaubt, dass die Pandemie und die Verbote als Gewaltmittel eingesetzt wurden, älteren Menschen Angst einzujagen. So wie sich der Ausnahmezustand und die Regierungsdekrete auf Arbeitnehmer auswirken, wirken sich ihrer Meinung nach die Pandemieverbote auf ältere Menschen aus.

Viele alte Menschen, die bei ihren Kindern wohnen, verstehen den Sinn der Ausgangssperre überhaupt nicht. Abend für Abend sitzen sie mit ihren Kindern, die tagsüber arbeiten, am gleichen Tisch und atmen die gleiche Luft ein. Zudem droht ihnen die Gefahr des Bewegungsmangels: „Nach Ablauf der Ausgangssperre konnten viele kaum noch gehen. Wir verloren Freunde und Mitglieder durch Herzkrankheiten, chronischen Diabetes und Stress. Schuld an deren Tod sind die Beschlüsse des wissenschaftlichen Beirats und des Gesundheitsministeriums.“

Da im Moment die Zahl der Todesfälle und der Neuinfektionen wieder zunimmt, haben sie Angst vor einer erneuten Ausgangssperre. „Die Pandemie zeigte uns deutlich und schmerzhaft, was die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens bedeutet. Es ist offensichtlich, dass wir auch in Zukunft mit Pandemien leben müssen. Daher muss dringend ein System entwickelt werden, das Pandemien bekämpfen kann.

Wir sind nicht tot, wir sind noch am Leben!

Şahbaz erinnert uns daran, dass die Pandemie auf der ganzen Welt nicht über das Alter, sondern über das Immunsystem definiert wird. Dass dies in der Türkei nicht berücksichtigt werde, liege daran, dass die offizielle Ideologie das Alter als Krankheit auffasse: „Weil alles über das wirtschaftliche Wachstum definiert wird, werden Menschen, die nichts mehr produzieren, als nutzlos und als Belastung für die Gesellschaft empfunden.“ Dabei leben die meisten der über neun Millionen Rentnerinnen und Rentner in der Türkei unter der „Hungergrenze“. Laut dem Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) überholte die Türkei sogar Uganda und zählt nun zu den Ländern mit den ärmsten Rentnern.

Trotz zahlreicher Probleme steht für Şahbaz eines fest: Die Einstellung gegenüber alten Menschen müsse sich ändern, vor allem dürfe man sie nicht mehr als Belastung für die Wirtschaft empfinden: „In den OECD-Ländern beträgt der Prozentsatz der indirekten Steuern 35 Prozent, in der Türkei 65 Prozent. Der Staat muss zumindest in diesem Sinne eine Gegenleistung bringen. Bei uns übernehmen alte Menschen die Verantwortungen des Staates, etwa Kinderbetreuung und Krankenpflege. 90 Prozent von uns teilen ihre Rente mit arbeitslosen Kindern und Enkelkindern. Als wir noch arbeiteten, unterzeichneten wir einen Vertrag. Der Staat sollte uns wirtschaftliche Sicherheit und gesundheitliche Versorgung gewährleisten. Das fordern wir jetzt. Es darf nicht vergessen werden: Wir sind nicht tot, wir leben noch!“

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İstanbul, Avcılar. Eine Frau über 65, die vom Busfahrer zum Aussteigen gezwungen wird, sagt: „Ich muss arbeiten, wenn ich nicht arbeite, verhungere ich. Ich habe heute schon drei Treppenhäuser geputzt. Wer mich zwingt, zu Hause zu bleiben, muss mir meinen Tageslohn erstatten.“

Pandemietagebuch der über 65-Jährigen #2: In Abschieden der Neuen Welt ist Einsamkeit im Rampenlicht

Die 72-jährige Tülin Dizdaroğlu trafen während der Pandemie weder Verbote noch Einsamkeit so sehr wie der Tod ihrer Mutter, ohne ihre Liebsten ein letztes Mal sehen zu können. Dass das rituelle Totengebet mit nur drei Personen stattfinden musste und an der Bestattung nur wenige teilnehmen konnten, bleibt eine Wunde in ihrem Innersten.

“Wenn wir nicht mitten in der Pandemie gewesen wären, hätte ich sie sofort ins Krankenhaus gebracht. Vielleicht hätte sie etwas länger gelebt, wenn der medizinische Eingriff rechtzeitig erfolgt hätte.“ Diese Gedanken, die sie nicht aus dem Kopf bekommt, sind für die 72-jährige Tülin Dizdaroğlu das Resümee der Pandemie. Es tut ihr noch immer weh, dass sie den Verlust ihrer Mutter mit nur drei Personen betrauern musste und dass sich die Mutter von ihren Liebsten nicht verabschieden konnte.

Ich treffe Dizdaroğlu in Sinop, der ältesten Stadt der Türkei. Wenn sie erzählt, wie die Pandemie ihr Leben mit ihrer bettlägerigen Mutter verändert hat, ist die Schwermut in ihren Augen kaum zu übersehen. Sie erinnert sich an die religiösen Feiertage, als ihre Wohnung voll mit Besuchern war und dann an die Einsamkeit in der Pandemie. Wenn ihre Mutter hin und wieder die Pandemie vergaß und fragte, warum niemand mehr zu Besuch komme, antwortete sie geduldig. Auch wenn sie weiß, warum die Besucher „wegblieben“, kann sie es schwer verkraften, dass ihre Mutter von ihren lieben Angehörigen keinen Abschied nehmen konnte.

„Das hat mich während der ganzen Pandemie am meisten getroffen“ sagt Dizdaroğlu und atmet tief ein. „Meine Mutter starb im September 2020. Sie wurde krank und ich konnte sie nicht ins Krankenhaus bringen. Alle sagten, bring sie ja nicht hin, sie wird sich im Krankenhaus infizieren. Zu dieser Zeit waren die Krankenhäuser überfüllt. Der Hausarzt kam. In den folgenden Tagen verschlechterte sich ihre Situation. Eines Nachts sprach sie nur mehr unverständlich. ‚Ich werde sterben, hab keine Angst‘, sagte sie.“ Dizdaroglu ruft die Rettung. Die Pandemieformalitäten, PCR-Tests, Intensivstation … Sie bekommt diese Tage nicht aus dem Kopf. „Wenn wir nicht mitten in der Pandemie wären, hätte ich sie gleich ins Krankenhaus gebracht, dann hätte man gleich eingegriffen …“

Das Totengebet mit nur drei Personen

“Meine Tante, meine Cousine und ich ...“ Sie verstummt, man hört nur ein Schluchzen. „Nur zu dritt haben das Totengebet verrichtet. Bei der Beerdigung waren wir insgesamt 15 Personen. An solchen Tagen möchte man viele Menschen um sich haben. Viele haben über Facebook oder am Telefon ihr Beileid ausgedrückt. Dabei ist es sehr wichtig für den Trauerprozess, dass man viele Menschen um sich hat. Das Mitgefühl zu spüren hilft dabei, den Verlust zu verarbeiten“

Dizdaroğlu musste zwar auf den Trost verzichten, die Mutter gemeinsam mit anderen zu verabschieden, aber zu sehen, dass viele „Schlimmeres erlebt haben“, mildert ihren Schmerz: „Wie viele Ärzte und Krankenschwestern haben wir verloren? Wie viele Kinder sind Waisen geworden? Und trotzdem gilt Corona nicht als Berufskrankheit. Viele, sehr viele Menschen haben gelitten. 

Durch die Pandemie ältere Menschen loswerden

Der Pandemie in Sinop zu begegnen, empfindet Dizdaroğlu als Glück. Auch wenn es ihr weh tut, Verwandte und Bekannte nicht treffen, nicht berühren oder vom Balkon aus nach ihrem Wohlbefinden fragen zu können, verlässt sie immer wieder das Haus, um die Straßenkatzen zu füttern. Da sie noch Verbindungen zu Istanbul pflegt, wo sie 45 Jahre lang gelebt hat, kennt die Schwierigkeiten der Großstadt: „Die Menschen hatten Angst voreinander. Einige Freundinnen verließen nie das Haus, gingen nicht einmal zum Supermarkt. Sie lebten wie im Gefängnis, was eine weitere Belastung für ihre Gesundheit war. Meine Tante hat ihre Wohnung seit zwei Jahren nicht verlassen. Die Isolation führte bei ihr zur Desorientierung. Die Pandemie wird genutzt, um ältere Menschen loszuwerden. Corona ist jedoch eine Krankheit, an der auch junge Menschen sterben. Die Einschränkungen für die Alten waren nicht notwendig.“

Die mir verbleibende Lebenszeit gut gestalten

Wie viele andere, glaubt auch Dizdaroğlu, dass neue Viren auftauchen werden, auch wenn die derzeitige Pandemie vorbei ist. Denn, „die Welt ist nicht mehr unsere alte Welt.“ Sie kann sich sogar eine Zukunft vorstellen, in der wir vielleicht keine Fenster öffnen dürfen. Daher gelten ihre Sorgen jungen Menschen, auch wenn sie sich selbst nicht als „alt“ einstuft. Sie entspricht auch nicht der klassischen Definition eines alten Menschen. Weder der gesellschaftliche Druck noch die Angst vor Einsamkeit haben sie motiviert, eine eigene Familie zu gründen. Als 58-jährige Rentnerin folgte sie ihrer Leidenschaft und schloss ein Masterstudium in Fotografie ab, anstatt sich vom gesellschaftlichen Leben zurückzuziehen. Sie unternimmt Fotoreisen, erhält Auszeichnungen, organisiert Ausstellungen und gibt Bücher heraus.

Sowohl ihre Lebenslust als auch ihre Leidenschaft für Fotografie zeugen von ihrer „Jugend“: „Es stimmt, dass man so alt ist, wie man sich fühlt. Vielleicht werde ich später alt, aber im Moment fühle ich mich jung. Der Mensch lebt nur, solange er hofft und träumt. Sonst ist er tot. Ich kenne junge Leute um die 40, die keine Lebenslust und keine Erwartungen ans Leben haben. Ich versuche aus dem, was mir noch bleibt, das Beste zu machen.“

Mit glänzenden Augen erzählt, wie sie „das Beste“ macht. Die größte Freude bereitet ihr derzeit ihr Buch „Alternative Fotografie“, eines der wenigen Nachschlagewerke zum Thema, und die Ausstellung zum Buch, die sie gerade organisiert. Sie arbeitet auch an einem Fotoband mit Schwarz-Weiß Fotografien von anatolischen Frauen. „Seit 20 Jahren fotografiere ich Ochsenkarren. Ich werde ein Fotoband mit dem Titel ‚Die Letzten Ochsenkarren’ herausgeben. Es gibt noch viel, was ich machen will. Und ich verfüge über die dafür notwendige Kraft und Leidenschaft. Was ich nicht einschätzen kann, ist, ob und wie lange die Pandemie es zulässt, meine Pläne zu verwirklichen.“

Pandemietagebuch der über 65-Jährigen #3: Als digitale Immigranten werden wir ausgelacht

Online-Banking, Abruf eines HES-Codes via Corona-App des türkischen Gesundheitsministeriums, Impftermine buchen…  Jedes davon ist eine digitale Herausforderung für über 65-Jährige. Diese Problematik traf auch Yaşar Gökoğlu mindestens so hart wie das Eingesperrtsein.  

„Ich bin keine Sozialversicherungsnummer und kein Pünktchen auf dem Bildschirm… Ich verlange mein Recht. Ich, Daniel Blake, bin ein Bürger, nicht mehr und nicht weniger.“ Diese Sätze gehören dem Protagonisten des Ken Loach-Films, „Ich, Daniel Blake“, der in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Was den 59-jährigen Zimmermann erzürnt, ist, dass er Sozialhilfe beantragen muss, weil er medizinisch für zwei Monate arbeitsunfähig erklärt wird. Somit beginnt die bürokratische und technologische Odyssee von Daniel Blake, der bisher an seinem Bleistift festgehalten hat. Der Film ist eine exzellente Erzählung dessen, wie Millionen ältere Menschen, die erst in ihren Fünfzigern mit der Digitalisierung zu tun hatten, mit einem Klick „gelöscht“ werden können, wenn sie sich keine Computer- und Internetkenntnisse aneignen.

Was der 72-jährige Yaşar Gökoğlu erlebt hat, bekräftigt das. Für Gökoğlu, der in der Provinz Adana am Mittelmeer lebt, markiert die Pandemie den Beginn einer Zeit, in der die Einsamkeit „auf die Straße“ wechselt. Obwohl er zuvor in „selbstgewählter“ Einsamkeit zu Hause gelebt hat, traf er täglich Freunde, besuchte Veranstaltungen. Mit Ausgehverboten in der Pandemie ging die Einsamkeit auf die Straße, sie wurde gesellschaftsfähig.

Was ihn am meisten trifft, sind seine fehlenden Kenntnisse in digitaler Technologie, durch die er seine Einsamkeit bezwingen könnte. Als digitaler Immigrant verpasste er die Möglichkeit, mithilfe der virtuellen Welt seine eigenen vier Wände zu durchbrechen: „Ich bin 1949er Jahrgang. Wenn wir davon ausgehen, dass sich diese Technologie in den 1990ern verbreitet hat, war ich über 50, als ich den Computer kennenlernte. Während der Pandemie hatte ich große Schwierigkeiten, einen HES-Code abzurufen oder einen Arzttermin zu vereinbaren.“ Er kann es nicht fassen, dass er dermaßen ausgegrenzt wurde, nur weil er die Technologie im höheren Alter kennengelernt hatte: „Als ich beispielsweise für eine Bahnfahrt einen HES-Code brauchte, musste ich mir von Bahnhofpersonal Unterstützung holen. Heute noch gehen mir ihre zynischen Blicke nicht aus dem Kopf.“

Aber das ist nicht alles, was Gökoğlu erleben muss: Zahlreiche Passwörter muss er sich merken: E-Government, HES-Code, Passwörter für online-Banking… Wenn er sein E-Government-Passwort vergisst, muss er für ein neues erneut zahlen.  Da er seine Impftermine nicht online buchen kann, versucht er es telefonisch beim ärztlichen Bereitschaftsdienst. Es gelingt ihm nach zwanzig Anrufen und minutenlangem Warten. „Es wurde keine Stelle errichtet, um uns beizubringen, wie das alles funktionieren soll. Dabei war mein Verhältnis zur Technologie aufgrund meiner im Arbeitsleben erworbenen Computerkenntnisse deutlich besser als eines durchschnittlichen Alten. Ich kann es mir nicht vorstellen, was diese in der Pandemie durchmachen mussten.“ Die Daten des Türkischen Statistischen Amts TÜIK zeigen, wie sehr sich die über 65-Jährigen diesbezüglich bemüht haben. Der Anteil der 65- bis 74-jährigen Internetnutzer stieg von 5,6 Prozent im Jahr 2015 auf 27,1 Prozent im Jahr 2020.

Wenn jemand eine blöde Bemerkung macht

Als jemand, der im Militärputsch 1971 ins Gefängnis musste, hat Gökoğlu Erfahrung mit „Isoliertsein.“ Die Isolation in der Pandemie fällt ihm jedoch schwerer. „Weil die Pandemie unsichtbare Mauern erreichtet hat“, sagt er „ohne Altersdiskriminierung hätten wir uns nicht so sehr in die Ecke gedrängt gefühlt.“

Gökoğlu versucht, sich möglichst viel zu bewegen. Wie auch im Gefängnis früher geht er in seiner 65-Quadratmeter-Wohnung täglich mehrere Stunden auf und ab. Freunde verstehen nicht, warum er nicht in seinem Wohnviertel spazieren geht. Doch aus Angst, irgendwer würde eine blöde Bemerkung machen, verlässt er nicht einmal in den Ausgehzeiten seine Wohnung. In einem solchen Fall könne er höchstwahrscheinlich die Ruhe nicht bewahren. Weil er keinen Bus fahren darf, wandert Gökoğlu unter der Hitze von Adana acht bis zehn Kilometer: „Immerhin habe ich mich daran gewöhnt, längere Spaziergänge zu machen.“ In seiner Stimme hört man das Glück der Menschen, die das Leben bejahen.  

Alte Menschen waren schon vor der Pandemie „nichts wert.“

Gökoğlu glaubt, dass alte Menschen schon vor der Pandemie nicht mehr geachtet wurden. Vor allem solche, die keine Rente bezogen, die sie mit ihren Kindern teilen konnten. Die Pandemie machte diese Situation nur deutlicher. „Die Zeiten, in denen alte Menschen auf den Händen getragen wurden, sind vorbei. Es war nicht einmal möglich, das Alter literarisch oder statistisch zu erfassen.“ Was übrig blieb, ist der Hass, der Konservative und Linke eint. Ein junger linker Freund sagte ihm etwa, ohne über die Ursachen nachzudenken: „Ach, diese alten Leute! Sie fahren gratis Bus – bis zur Endhaltestelle und wieder zurück und besetzen die Sitzplätze.“ Doch Gökoğlu weiß warum: „Alte Menschen haben keinen Platz in der Gesellschaft, es gibt keinen Ort, wo sich sich aufhalten können, ohne schikaniert zu werden. Sie sozialisieren sich im Bus.“

Er versteht nicht, warum nichts unternommen wird, obwohl ein Großteil der Toten Impfgegner waren. „Ein Jahr lang wurden wir Alte als Verursacher der Krankheit präsentiert. In der Gesellschaft entstand die Meinung, uns passiert nichts, das ist eine Krankheit der Alten‘. Diese Wahrnehmung ist auch daran schuld, dass sich 20 Millionen nicht impfen ließen. Das heißt, das Sterben der Jungen ist Folge der staatlichen diskriminierenden Politik gegen uns“, sagt er fassungslos und gleichzeitig verärgert.  

Acht Jahre Wartezeit für einen Platz im Altersheim

Als Gökoğlu sich vor zwei Jahren nach einem Platz im Altersheim des Sozialministeriums in Adana erkundigte, hieß es, er müsse acht Jahre warten, aber es gebe freie Plätze in den Provinzen Gümüşhane und Niğde. Er weiß nicht, ob er über das System, das ihn zwingt, mindestens acht Jahre am Leben zu bleiben, damit in seiner Heimatstadt "in Frieden" weiterleben kann, lachen oder sich ärgern soll. Eines weiß er aber genau: Das Altsein ist unerträglich.

“Wissen Sie warum?“ fragt er, um seine Frage selbst zu beantworten: „Der Körper altert, der Verstand und die Seele aber nicht... Ich würde mir wünschen, dass auch die Seele altern würde. Als junger Mensch hast du Träume. Auch wenn es Zeit braucht, diese in Erfüllung zu bringen, macht es dir nichts aus. Du hast ein langes Leben vor dir und denkst: Wenn ich dafür kämpfe, schaffe ich es. Mit zunehmendem Alter lässt diese Begeisterung nach. Das Schlimmste ist, dass du nicht weißt, wie lange du noch leben wirst. Es gibt immer noch Dinge, die du erreichen willst, die lassen dir keine Ruhe, aber du stößt an deine physischen Grenzen.”

Gökoğlu weiß, dass das Alter erträglicher wäre, gebe es eine lokale Verwaltung, die diese Grenzen aufhebt. Es macht wütend, dass alte Menschen einfach ignoriert werden. „Aber das Schlimmste ist, dass Menschen resigniert mit der Schulter zucken, wenn ich sie auffordere, gemeinsam für unsere Rechte zu kämpfen. Für die Mitgliedschaft an der Gewerkschaft kann man sie leichter überzeugen, weil sie glauben, durch die Tarifverträge mehr Geld verdienen zu können. Aber gegen Altersdiskriminierung zu kämpfen ist ungewohnt, unkonkret. Ein Kampf, dessen Erfolge Sie vielleicht nicht mehr erleben werden.

Ich hatte kein Geld mehr, ich musste raus

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Während der Pandemie war die digitale Technologie für Menschen über 65 ein großes Hindernis. Da sie sich mit Online-Banking nicht auskannten, hatten sie auch Probleme beim Zugang zu ihren Gehältern. Kemal Ildıran (80) aus Hatay/İskenderun, der aufgrund der Corona-Maßnahmen seine Wohnung nicht verlassen durfte, wurde am Bankomaten beim Abheben seines Gehalts von der Polizei erwischt. Ildıran sagte: „Ich habe kein Geld mehr, ich musste raus. Warum sollte ich sonst rausgehen?“ © P24

Pandemietagebuch der über 65-Jährigen #4: Das Leben mit der Pandemie – in Freiheit und hinter Gittern

Die Pandemie erwischt die Geschwister Selma, Sevinç und Bahadır Altan in unterschiedlichen Städten – und unterschiedlichen Konstellationen. Sie teilen jedoch die gleichen Gefühle: Besorgnis, Wut und Empörung. Ihre Geschichte gibt einen Einblick in das Leben mit der Pandemie „in einer Strafanstalt“ und „draußen“.

Heute erzähle ich nicht die Geschichte einer Person, sondern einer Familie: die Geschichte von drei Geschwistern, die alle ihren eigenen Weg gingen und trotzdem stets füreinander da waren. Die Pandemie suchte die Geschwister Selma, Sevinç und Bahadır Altan in Lebenslagen heim. Selma Altan war etwa zu Beginn der Pandemie im Gefängnis. Ihre Geschichte ist nicht nur ein Beispiel für die Auswirkungen der Pandemie auf über 65-Jährige, sondern auch für den brüskierenden Umgang mit älteren Menschen. Es geht um eine Gesinnung, die eine 71-jährige Frau einsperrt, obwohl sie rechtlich auch auf freiem Fuß vor Gericht gestellt werden könnte.

Aber lassen Sie mich das Band zurückspulen und vorerst meine Protagonisten vorstellen.

Pandemie als Ausrede für Isolationshaft

Die Menschenrechtsaktivistin Selma Altan ist in Ruhestand. Sie ist eine der Leiterinnen von TUHAYDER, der Vereinigung für Unterstützung und Solidarität der Angehörigen von Häftlingen und Sträflingen. Ihre Schwester Sevinç Altan ist Künstlerin. Sie kann auf zahlreiche Ausstellungen landesweit und über 600 Coverillustration für verschiedene Verlage zurückblicken. Und Bahadır Altan ist pensionierter Pilot, der entlassen wurde, als er sich zum Flugzeugabsturz von Pegasus Airlines am 6. Februar 2020 öffentlich äußerte. Wie für viele andere auch war die größte Sorge, die die Pandemie den Altan-Geschwistern bereitete, die Angst um ihre Liebsten. „Ich verlor in der Pandemie zwei meiner Freunde. Menschen nicht berühren, meine Liebsten nicht umarmen zu können, war sehr anstrengend“, sagt Sevinç Altan, „zudem war meine Schwester im Gefängnis und hatte gesundheitliche Probleme, meine Sorgen um sie nahmen zu. Unter dem Vorwand der Pandemie wurde in Gefängnissen Isolationshaft eingeleitet, obwohl sie gegen Menschenrechte verstößt. Auch Besuche wurden untersagt, das war sehr hart.“ Eine Zeit der Isolation, in der die Geschwister lange Zeit nichts voneinander hören konnten.

Warum die Schwester mit 71 Jahren ins Gefängnis musste? Selma Altan beantwortet die Frage selbst: „Es war der 11. November 2019 nachts, als ich in Untersuchungshaft genommen wurde. Ich war für eine Knieoperation in Istanbul. Später erfuhr ich, dass ich zu dieser Zeit von der Spezialeinheit zur Terrorismusbekämpfung İzmir observiert wurde. Für sie galt die staatlich anerkannte NGO TUHAYDER als ‚sogenannter Verein.’ Ich wurde ins Şakran-Gefängnis überführt. Ich konnte kaum gehen und war auf die Unterstützung von Mithäftlingen angewiesen. Nach 7,5 Monaten wurde ich freigelassen, die Verhandlung dauert noch. Die Pandemie wurde als Vorwand für die Isolationshaft benutzt, sogar kontaktlose Besuche wurden untersagt. Nun ist draußen alles wieder erlaubt, sogar die Einkaufszentren sind voll, aber die Besuchsverbote für Gefängnisinsassen gelten immer noch.“

Aus der Abstandsregel wurde im Gefängnis Enge

Welche Maßnahmen führte man im Gefängnis gegen die Pandemie ein? „Es heißt zwar, Hygiene sei wichtig, aber wir lebten zu neunzehnt in einer Zelle. Die zugeteilten Putzmittel waren nicht ausreichend. Wir kauften alles selbst ein. Die Preise der Hygieneprodukte stiegen unverhältnismäßig. Zudem sind Gefängniskantinen sowieso doppelt so teuer wie draußen. Am schlimmsten hatten es kranke Gefangene. Sie wurden nicht ins Krankenhaus überführt. Sogar solche, die seit einem Jahr nicht gehen konnten und dringend eine Rückenoperation benötigten, mussten warten. Wenn Krebskranke oder chronisch Kranke ins Krankenhaus geliefert wurden, kamen sie zuerst in einen Quarantäneraum, aber auch wenn eine aus dem Krankenhaus zurückkommt, muss sie ebenfalls in Quarantäne. Das führt dazu, dass die Quarantäne immer länger wird. Es gibt solche die dreimal hintereinander jeweils 14 Tage lang in diesem schmutzigen Raum sein müssen. Um Platz für einen Quarantäneraum zu schaffen, mussten die Zellen mit mehr Betten belegt werden. Aus der Abstandsregel wurde im Gefängnis Enge. In den Gefängnissen Menemen, Şakran ve Ödemiş wurden mehrere Menschen mit Covid-19 infiziert.”

Die Neue Welt: ein Freiluftgefängnis

Selma Altan kommt im Juni 2020 aus der Haft frei. Obwohl sie nur siebeneinhalb Monate eingesperrt war, merkt sie, wie eine Pandemie, die die Menschheit alle hundert Jahre einmal heimsucht, die Außenwelt verändern kann: Menschen mit Masken, Abstandsmarkierungen, dass der sogenannte HES-Code, über den alle unsere Schritte überwacht werden können, als Schutz empfunden wird und nicht zum Aufruhr führt. Und Kontaktpflege am Smartphone.  Zugleich muss sie gegen Gesundheitsprobleme kämpfen: „Ich habe Herz-, Kreislauf- und Blutdruckprobleme. 14 Tage nach meiner Freilassung wurde ich am Knie operiert und musste zwei Monate lang das Bett hüten.  Meine Tochter und meine Schwester kümmerten sich um mich. Ich war gerade wieder auf den Beinen, als erneut ein zweiwöchiger Lockdown verhängt wurde. Es war wie in einem Freiluftgefängnis. Niemand konnte auf Besuch kommen und ich konnte nicht rausgehen. Im Gefängnis bist du zumindest in der Gesellschaft von 15 anderen.  Draußen bist du isolierter. Drei Freunde sind am Herzinfarkt gestorben. Ich habe in dieser Zeit drei meiner Freunde verloren. Es lag an der lockdownbedingten Bewegungslosigkeit,“

Der Alte, dessen Schatten nicht verkauft werden kann

Bahadır Altan, der mit einem Lebensjahr altersbezogenen Einschränkungen entkam, ist durch seine Schwestern und Freunde von sämtlichen Rechtsverletzungen informiert. Er meint, für den Kapitalismus sei das Ableben eines Rentners kein Verlust, genauso wie er den Baum falle, dessen Schatten er nicht verkaufen könne. „Vielleicht wird einmal eine Altersgrenze festgesetzt und es heißt ‚Du bist schon 85, du erhältst keine Gesundheitsversorgung und auch keine Rentenzahlung mehr.‘ Wenn diese Gesinnung lange genug überlebt, wird sie unsere Lebensdauer einschränken, wie ich befürchte.“

Noch kann der Kapitalismus nicht die Lebensdauer, aber Freiheiten einschränken, was Sevinç Altan am meisten stört: „Nicht das Virus selbst, vielmehr dass irgendwelche Männer über unser Leben bestimmten, war erschreckend. Wir haben zwar nicht verstanden, welche gesellschaftliche und persönliche Gefahr entstanden hätte, wenn wir zwischen 20.01 und 09:59 die Wohnung verlassen hätten. Die Fabriken blieben offen, während die Parks geschlossen wurden! Es ist nicht zu fassen, dass das Alter so sehr kriminalisiert wurde, dass manche sogar von der Polizei verfolgt wurden. Die Situation der Altersheime hat aber keinen interessiert.“

Nicht das Krisenmanagement war das Problem, sondern gesetzte Prioritäten

Sevinç Altan ist es bewusst, dass sie zu der glücklichen Minderheit gehört, die „daheimbleiben“ konnte. „Es gab jedoch genug Menschen, die trotz Aufrufe wie ,Bleib daheim!‘ oder ,Das Leben hat zu Hause Platz‘ auch im fortgeschrittenen Alter arbeiten mussten“ sagt Altan, „das waren diejenigen, deren Krankheit oder Tod dem Staat nichts bedeutete. Viel mehr Frauen und Kinder wurden familiärer Gewalt ausgesetzt. Das ausschließlich auf Wachstum orientierte System reagierte angesichts der Pandemie genauso wie bei anderen Katastrophen: ‚Was ist der ökonomische Nutzen?’ Daher stimmt für mich der Vorwurf, der Staat könne die Pandemie nicht gut managen, nicht.  Der Staat managt, wie es ihm passt.“

Dass der Staat seine Bürger mit unregelmäßigem Einkommen nicht unterstützte, stellt den Beweis, dass er vielmehr darum bemüht war, der Wirtschaft unter die Arme zu greifen. Altan ist eine von Millionen, die über kein regelmäßiges Einkommen verfügen: „Anfangs konnte ich aus meinen Ersparnissen leben. Aber als zwei meiner Ausstellungen wegen der Pandemie abgesagt wurden... Da hatte ich einen Engpass. Dennoch sind meine Probleme bedeutungslos, wenn man an Menschen mit Kindern denkt, an solche, die arbeitslos geworden sind und/oder Selbstmord begangen haben.“

Regierungen leben von Krisen und Katastrophen

Bahadır Altan glaubt, dass die Verbote zum Abbruch der Beziehungen zwischen den über 65-Jährigen der 1968er- und 1978er-Generation und der Z-Generation geführt haben. Somit werde der Versuch unternommen, das kollektive Gedächtnis auszulöschen. Es passieren aber auch positive Dinge. Das wichtigste davon ist für Altan die Entstehung von Solidaritätsnetzwerken in Stadtteilen: „Das macht Lust aufs Leben!“

Auch Sevinç Altan erwartet schon lange nichts mehr von der Regierung und vom Staat. Sie empfiehlt, mehr auf Paul B. Preciado zu hören, der sagt, wir sollten vom Virus lernen, wie man einem Staat, der von Krisen und Katastrophen lebt, standhält: „Wenn wir uns nicht unterwerfen wollen, müssen wir genauso wie das Virus mutieren. Wir werden unsere Gesundheit nicht durch Grenzsetzung oder Isolation wiedererlangen, sondern durch die Bildung einer neuen ausgeglichenen Gemeinschaft unter Beteiligung aller Lebewesen.“

Nicht wir, der Staat ist alt

Für Sevinç Altan provozieren die Corona-Berichterstattung und die behördlichen Äußerungen den bestehenden Rassismus und die Altersdiskriminierung: „Diskriminierung ist wie ein mutierendes Virus und leider leben wir in einem diesbezüglich sehr fruchtbaren Land!“ Dabei würde gerne übersehen, dass es bei älteren Menschen um keine homogene Gruppe geht, meint sie: „Nicht jeder über 65 leidet an einer chronischen Krankheit und ist abhängig. Die Zahl der aktiven Alten und auch solcher, die arbeiten müssen, ist nicht gering: Nehmen Sie mich!“

Für Sevinç Altan bedeutet das Alter Entschleunigung, was aber nicht negativ zu deuten ist. Es bedeutet sogar eine gewisse Entspannung, wenn man keine gesundheitlichen Beschwerden hat: „Man nimmt Kleinigkeiten nicht mehr so ernst. Ich kann beispielsweise ohne Hemmung fluchen.“ Für Bahadır Altan sagt das Geburtsjahr auf seinem Ausweis gar nichts: „Manche sind schon mit 60 Jahren alt, andere sind noch mit 80 aktiv und produktiv. Die Pandemiemaßnahmen setzten das Alter mit Hilfsbedürftigkeit und Armseligkeit gleich. Aber wie Nazım Hikmet geschrieben hat: , … für das Erschlaffen der Haut brauchen wir einen anderen Begriff. Altwerden bedeutet, niemanden mehr zu lieben als sich selbst‘.  Wenn sie etwas oder jemanden lieben können, wenn Sie noch ein Ideal haben, für das Sie kämpfen und wenn Sie noch Träume haben, altern Sie nicht. Eben deswegen sollten wir dem Staat, der sich anstrengt, damit wir uns alt fühlen, sagen: ,Alt bist du!‘ Der Staat ist mit seinen Palästen und den hohen Ämtern sehr alt. Wir sollten ihn dort einsperren, wo er steht. Dann gehören die Straßen uns allen, Alten und Jungen, Kindern und Frauen. Sollten neue Einschränkungen kommen, sollten wir dem Staat sagen: ,Alt bist du!‘ und uns weigern, die Straßen zu verlassen.“

Altan Geschwister
Geschwister Selma, Sevinç und Bahadır Altan © P24

Pandemietagebuch der über 65-Jährigen #5: Die Lösung unserer Probleme liegt in einem Altersschutzgesetz

Cafer Tufan Yazıcıoğlu kennt am eigenen Leib, wie weh Altersdiskriminierung tut. Und er weiß den Wert der ihm verbleibenden Zeit zu schätzen. Deshalb setzt er sich seit mehreren Jahren für die Schaffung eines „Altersschutzgesetzes“ ein. Auch wenn man meinen könnte, er setze sich für seine eigenen Rechte ein, kämpft er in Wirklichkeit für die alten Menschen der Zukunft, also für uns.

Cafer Tufan Yazıcıoğlu ist ein 70-jähriger Jurist. Er lebt mit seiner Frau in Ankara und ist Rechtsberater des türkischen Rentnerverbandes (TÜED). Die Pandemie durchkreuzte seinen Alltag zwischen Arbeit, regelmäßiger sportlicher Betätigung und Zusammenkünften mit Freunden – ein Leben, das in der einschlägigen Literatur „aktives Altern“ genannt wird. Auch wenn es ihm gelungen ist, durch Home-Office nicht in ein tiefes Loch zu fallen, gehen ihm seine Liebsten und das Leben im Freien ab. „Mein Sohn lebt und arbeitet außerhalb von Ankara. Wir konnten uns nicht treffen“, erzählt er, „meinen Bruder, meine Freunde, meine Verwandten nicht treffen zu können – diese Sehnsucht hat uns sehr zu schaffen gemacht. Das höchste aller Gefühle war, von unserem Balkon aus Spaziergänger zu grüßen.  Oder auf Spaziergängen Freunden über den Weg zu laufen.

„Die verbleibende Zeit“ ist für über 65-Jährige sehr kostbar. Denn die Uhr läuft nunmehr rückwärts. Die Pandemie raubt ihnen die Zeit – Tage, Monate und Jahre –, die sie mit ihren Liebsten verbringen könnten. Gespräche mit den Kindern, Spiele mit den Enkelkindern, gemeinsame Mahlzeiten mit Freunden... Das Schlimmste ist aber, sich von Freunden nicht verabschieden zu können, die wir wie Herbstblätter nacheinander verlieren. „Die Unmöglichkeit, an Beerdigungen unserer Verwandten und Freunden teilzunehmen, ist eine blutende Wunde in uns. Uns waren sowieso nicht mehr viele Freunde verblieben, da der Großteil bereits verstorben war. Deshalb waren uns die Verabschiedungen sehr wichtig, aber wir konnten nicht…“ Er schweigt. Die Verstorbenen erzwingen eine Stille. Er atmet durch und fährt fort: „Der pandemiebedingte Lockdown hat zum Anstieg körperlicher und psychischer Probleme geführt."

Gauner haben uns zu schaffen gemacht

Dennoch sieht Yazıcıoğlu die Ausgangssperren für über 65-Jährige auch als Schutzmaßnahmen. Er erwähnt jedoch, dass das Fehlen einer klaren gesetzlichen Regelung zu Problemen geführt hat. „Uns war es etwa nicht möglich, unsere Pensionsgehälter abzuheben, als älteren Menschen untersagt wurde, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Man hätte uns eine Alternative anbieten sollen. Unsere Mitglieder haben darunter sehr gelitten. Und die Betrugsfälle haben zugenommen.“

Yazıcıoğlu zufolge werden wir ähnlichen Katastrophen immer wieder begegnen. Deshalb unterstreicht er die Notwendigkeit eines neuen ganzheitlichen Gesetzes: „Es ist jetzt schon zu spät. Im UN-Ausschuss für die Rechte älterer Menschen, dessen Mitglied auch TÜED ist, haben wir sehr viel über die Pandemie diskutiert. Ich gehe davon aus, dass in die neuen Bestimmungen über die Rechte älterer Menschen eine neue Klausel aufgenommen wird, die sich auf Pandemien und Epidemien bezieht. Genauso wie Menschenrechte werden „Rechte alter Menschen“ verabschiedet.

Hassreden haben sich verbreitet

Wie notwendig das ist, erkennt man an den Hassreden über alte Menschen. Diese haben mit der Pandemie zugenommen. Auch TÜED-Mitglieder beschweren sich darüber. Auf blasphemische Rhetorik in sozialen Medien zu stoßen, von Beleidigungen ganz zu schweigen, auf der Straße mit Blicken konfrontiert zu werden, die suggerieren, man sei fehl am Platz sind und sogar gejagt zu werden. Schuld an allem ist nach Yazıcıoğlu die Tatsache, dass sich sowohl die zuständigen Behörden als auch die Medien im Zusammenhang mit „Pandemie und alte Menschen“ nicht auf wissenschaftliche Fakten stützen. Hassrede ist ein Verbrechen. Sowohl im Straf- als auch im Bürgerlichen Gesetzbuch sind wichtige Bestimmungen zum Schutz älterer Menschen enthalten. Es gibt viele Paragrafen, auf die sich Staatsanwälte stützen könnten, wenn sie wollten“, sagt er und fügt hinzu: „Als Verein haben wir zum ersten Mal auf der Welt ein Altersschutzgesetz veröffentlicht. Ich habe sämtliche türkischen Gesetze durchforstet und die Artikel über ältere Menschen zusammengetragen. Das Ganze hat ein Volumen von zweitausend Seiten. Diese Sammlung ist aber unstrukturiert, daher brauchten wir unbedingt ein Altersschutzgesetz.“

Immerhin spricht man über alte Menschen

In der Pandemie haben auch lokale Verwaltungen versagt, meint Yazıcıoğlu. Diese bilden die erste Instanz mit Informationen über Wohnadressen der über 65-Jährigen und könnten zur Lösung ihrer Probleme beitragen. Das Alter ist ein Stadium, das jeder und jede einmal erreichen wird. Das ist allgemein bekannt. Aus irgendeinem Grund jedoch wird kaum darüber gesprochen. Und es wird kaum etwas unternommen. Deshalb hatte die Pandemie trotz der Flut an Hassreden, so Yazıcıoğlu, auch etwas Positives: „Zumindest wird nun über alte Menschen gesprochen!“

Herzzerreißende Worte. Doch das Thema Altern ist so sehr tabuisiert, dass das Sichtbar-Werden alter Menschen begrüßt wird, sei es auch im Zusammenhang mit Pandemie und mit Hassreden: „Noch nie hatten wir so viele Treffen mit den Regierungsvertretern, den nationalen und internationalen NGOs oder mit Vertretern der UNO. Innerhalb von zwei Jahren haben wir an mehr als 300 Sitzungen teilgenommen. Dies zeigt, dass ältere Menschen auf der Tagesordnung sind. Ja, wir wurden mit Hassreden konfrontiert, aber ich denke, dass dies ein wichtiger Schritt im Sinne der Alten der Zukunft war.

Wir kämpfen eigentlich für die Jungen

Diejenigen, die Yazıcıoğlu „die Alten der Zukunft“ nennt, seid ihr, sind wir, die Menschen im mittleren Alter, sind die jungen Menschen. Die über 65-jährigen Aktivisten und Aktivistinnen wissen, dass sie die Resultate ihres Kampfes nicht mehr erleben werden. Dabei ist das Alter – genauso wie die Kindheit und die Jugend – ein Lebensabschnitt und die Gewährleistung eines guten Lebens ist ein Menschenrecht. „Die Pandemie hat gezeigt, wie sich die Altersdiskriminierung auf ältere Menschen auswirkt“, sagt Yazıcıoğlu. „Eine Praxis wie die Strategie der Europäischen Union zur Gleichstellung aller Altersgruppen, die eine gerechte Verteilung der lebenslangen Bildung, des Zugangs zu Gesundheits- und Pflegediensten und Arbeit sowie sozialen Schutz für Menschen in jedem Alter gewährleisten soll, muss auch in der Türkei umgesetzt werden. Wir kämpfen derzeit darum, aber ich glaube nicht, dass wir die Früchte unserer Arbeit erleben werden. Deshalb sage ich jungen Leuten immer, ihr sollt für die Rechte alter Menschen eintreten, sie sind eigentlich für euch wichtig, nicht mehr für uns.“

Ruhige Orte der Pandemie: Altersheime

In den 81 türkischen Provinzen leben 27.000.454 Menschen in 425 Altersheimen und Rehabilitationszentren des Ministeriums für Familie und soziale Dienste. Wir wissen jedoch nicht, wie viele von ihnen eine Corona-Behandlung erhalten haben und wie viele in den Altersheimen starben. Trotz der Aufforderung des türkischen Ärzteverbandes nach Transparenz und trotz parlamentarischer Anfragen gab das Ministerium diese Zahlen nicht bekannt. Uns sind lediglich einige Fälle aus der Presse bekannt. In einem privaten Altersheim in Etiler wurden fast 40 Personen positiv getestet. Im Hacı Süleyman Çakır-Altersheim in Eskişehir sind nahezu zehn Menschen an Corona gestorben.

Unter Berufung auf das Recht zum Zugang zu Informationen stellten wir über CIMER drei Fragen an das Gesundheitsministerium und das Ministerium für Familie und Soziales. Eine der Antworten lautete zusammengefasst: „Die Informationen fallen zwar in die Zuständigkeit unseres Ministeriums für Familie und Soziales sowie der Generaldirektion für Behinderten- und Seniorendienste, aber da sie nicht in den Geltungsbereich des Gesetzes über den Zugang zu Informationen fallen, muss die Antwort verweigert werden.“

Die Antwort der Generaldirektion auf eine weitere Anfrage bestand in einem dreiseitigen Text mit dem Titel „Was im Zusammenhang mit Covid-19 unternommen wurde“, dessen Inhalt nichts mit unseren Fragen zu tun hatte. Wir erhielten also keine einzige Zahl! Uns blieb nichts anderes übrig als Nachrichten zu konsumieren, um zu verstehen, was in den Altersheimen passiert war. Wir sprachen mit Kemal Sayılır, Anwalt in der Causa Hacı-Süleyman-Çakır-Altersheim, in dem zehn Menschen an Corona gestorben waren.

Die Todesfälle sind viel höher

Alles begann am 8. 4. 2020 mit dem Erkranken eines Mitarbeiters an Covid-19. In dieser Woche wurden 47 Heimbewohner und 28 Mitarbeiter mit dem Coronavirus infiziert. Der Grund dafür sei, so Sayılır, das Unterlassen erforderlicher Vorkehrungen: „Zu diesem Zeitpunkt wurde der Direktor des Pflegeheims von M.T., einem unerfahrenen Angestellten, vertreten. Er war nicht fähig, Entscheidungen allein zu treffen und handelte unter der Anleitung des Landesdirektors und seiner Assistenten. Es wurde unterlassen, die Zimmer der Heimbewohner mit weniger Betten zu besetzen. Die Bewohner, die ins Krankenhaus mussten, wurden nach der Rückkehr nicht isoliert.

Das führte je nach Informationsquelle zu zehn bis 20 Todesfällen. Laut Sayılır beträgt die korrekte Zahl 20: „Als Todesursache von nur zehn Menschen, darunter neun Heimbewohner und der Vater meines Mandanten Sadık Kaya, ein Mitarbeiter der Einrichtung, wird Covid-19 eingegeben. Der Grund: Keine Aufmerksamkeit zu erregen.“

Trotz Dekret nicht beurlaubt

Sadık Kaya, 57, leidet an Fettleibigkeit, chronischem Diabetes und Hypertonie. In den Präsidialdekreten heißt: „Menschen mit chronischen Krankheiten müssen offiziell beurlaubt werden, wenn sie dies ihren Vorgesetzten mitgeteilt haben.“ In einer vom damaligen Provinzdirektor der Sozialdienste in Eskişehir A. S. getroffenen und intern unterfertigten Vorstandsentscheidung heißt es jedoch: „Chronisch Kranke werden ohne Vorlage eines durch drei Ärzte unterschriebenen Krankenhausattests nicht beurlaubt.“ Kaya, der sich bei der Arbeit mit Covid-19 infiziert hatte, starb nach 26-tägigem Kampf um sein Leben im Krankenhaus, in das er am 10. April eingeliefert wurde.

Die Menschen schrecken zurück

Laut der ersten Nachforschung blieb die gesamte Verantwortung beim Gesundheitsbeauftragten der Einrichtung A.M.Ç. und der Krankenschwester N.E. hängen. Aufgrund des Einspruchs von Sayılır und der Pressemeldungen nahm der Gouverneur von Eskişehir erneut Ermittlungen auf. Rechtsanwalt Kemal Sayılır beschreibt die aktuelle Situation wie folgt: „Gegen den Pflegeheimleiter M.T. und den Provinzdirektor A. S. wurden juristische Ermittlungen aufgenommen. Trotz ihrer Einwände entschied das Regionalverwaltungsgericht von Ankara eine gerichtliche Untersuchung durchzuführen. Wir klagten die Verantwortlichen wegen ‚vorsätzlicher Tötung durch fahrlässiges Verhalten’ und ‚Pflichtmissbrauch’. Die Anklageschrift ist noch nicht verfasst. Der Anhörungstermin steht noch nicht fest, da die Fahndung noch nicht eingeleitet wurde.“

Die einzige Klage wegen den Todesfällen im Altersheim betrifft derzeit den Fall von Sadık Kaya. Aber Sayılır ist zuversichtlich: „Die Angehörigen der verstorbenen Heimbewohner haben Angst. Trotzdem haben sich einige Familien bereit erklärt, uns zu unterstützen. Sie werden voraussichtlich als Nebenkläger auftreten oder aussagen, sobald das Strafverfahren anhängig ist.“

Cafer Tufan Yazıcıoğlu
Cafer Tufan Yazıcıoğlu © P24

Pandemietagebuch der über 65-Jährigen #6: Depressionen nahmen zu, Demenz schritt schneller voran

Die Dozentin Dr. Özlem Erden Aki unterstreicht, dass die Zahl ihrer älteren Patienten und Patientinnen mit Selbstmordgedanken zugenommen hat, auch die Demenz würde rasant voranschreiten.

Depressionsfälle haben zugenommen. Angststörungen werden immer häufiger beobachtet. Der Grad der Verschlechterung der geistigen Funktionen bei Demenzpatienten, der normalerweise in zwei bis drei Jahren gemessen wird, wird nun innerhalb von fünf bis sechs Monaten beobachtet. Doz. Dr. Özlem Erden Aki, die in der Alterspsychiatrie tätig ist, fasst die psychologischen Auswirkungen der Pandemie und der Verbote auf die über 65-Jährigen zusammen und fügt hinzu: „Unter meinen älteren Patienten und Patientinnen sind einige depressiver geworden. Die Zahl derer, die mit Selbstmordgedanken spielen, ist gestiegen.“ 

Lehrbeauftragte an der Hacettepe Universität – Abteilung für Psychiatrie und Vorsitzende der Arbeitsgruppe für geriatrische Psychiatrie der türkischen psychiatrischen Gesellschaft Erden Aki im Gespräch.

Sie fühlten sich wertlos

- Wie sind ältere Menschen von der Pandemie betroffen?

Während der Pandemie hielt leider die ganze Welt alte Menschen für verzichtbar. Als Kriterium für die Aufnahme auf Intensivstationen in Italien galt das Alter. In Europa war die Zahl derer, die in Pflegeheimen dem Tod überlassen wurden, hoch. Ethisch gesehen waren viele Praktiken sehr problematische. In der kapitalistischen Welt gilt das Altern als großes Problem. Denn das System basiert auf Konsum. Ältere Menschen konsumieren aber nicht. Es wird viel unternommen, um diese Gruppe zum Konsumieren zu animieren, etwa mit Anti-Aging, Gesundheitsprodukten und -dienstleistungen. Da alte Menschen am Arbeitsleben nicht aktiv teilnehmen, werden sie nicht als systemerhaltend eingestuft.

- Als Folge der Pandemie haben sich ältere Menschen weltweit in ihre Wohnungen zurückgezogen. In der Türkei kamen die staatlich verhängten Verbote hinzu. Sie durften weder auf die Straße gehen noch öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Welche Auswirkungen hatten diese Verbote auf ältere Menschen?

In diesem Prozess fühlten sich viele alte Menschen wertlos. Man behandelte sie wie Kinder. Sie spürten eigentlich schon seit längerer Zeit, dass sie für das System wertlos waren, die Pandemie bekräftigte dieses Gefühl. Meine Recherchen ergaben, dass es in keinem anderen Land Ausgangssperren für über 65-Jährige gab. In einem der europäischen Länder gilt für Personen über 65 folgende Regelung: Banken und Behörden bedienen drei oder fünf Tage in der Woche zwischen 10:00 und 12:00 Uhr nur Menschen über 65 – damit sie nicht auf junge, symptomlose Menschen treffen, die die Krankheit verbreiten können und damit sie überhaupt mit weniger Menschen in Kontakt kommen. Das könnten wir auch tun. Selbst kurzzeitige Ausgangsverbote haben zur Verschlechterung der Ernährungssituation, der Geh- und Bewegungsfähigkeit sowie der psychischen Gesundheit vieler älterer Menschen geführt.

- Welche psychischen Probleme sind aufgetreten?

Angststörungen und Depressionen nahmen stark zu. Ich werde krank, ich erhalte keine Unterstützung, ich werde meinen Angehörigen zur Last fallen …  Die alten Leute in der Türkei sind sehr besonnen. Ihre größte Angst besteht darin, anderen zur Last zu fallen und ihre Kinder anzustecken. Einige meiner älteren Patienten sind depressiver geworden.  Ich hatte neue Patienten mit Angststörungen. Auch die Zahl der Menschen, die über Suizid nachdenken, ist gestiegen.

Die Demenz schritt rascher voran

- Auch Krankheiten wie Alzheimer und Demenz nahmen zu, heißt es.

Die am heftigsten Betroffenen waren die Demenzkranken. Bei manchen Patienten schritt die Demenz in fünf bis sechs Monaten so weit wie normalerweise in zwei bis drei Jahren. Der Übergang vom Prädemenz-Stadium in Demenz verlief schneller.  Das Erinnerungsvermögen, die geistigen Fähigkeiten und das Denkvermögen nahmen rapide ab.

- Ich denke, Isolation spielte dabei eine große Rolle.

Isolation, Immobilität, Fehlen von äußeren Reizen ... Früher bekamen sie Besuch von ihren Verwandten und Kindern. Sie gingen in Begleitung von Pflegerinnen in den Park. Auch ein kurzer Spaziergang ist für ältere Menschen sehr wertvoll. Sie werden kognitiv stimuliert, nehmen Sonnenlicht auf, dem Muskelschwund wird vorgebeugt. Nun ist das alles vorbei. Die Reize haben stark abgenommen.

Es gibt eine Gruppe, die ihr Zuhause immer noch nicht verlassen kann

- Auch die Angehörigen der Patienten hatten es schwer. Haben sie sich auch an Sie gewendet?

Als viele Familien aus Angst vor Ansteckung die privaten Pflegekräfte entließen, fiel die ganze Last auf Angehörige zurück. Ihre Ängste haben stark zugenommen, sie brannten aus. Die Patienten wurden reizbarer. Demenzkranke verstehen nicht oder vergessen schnell wieder, wenn man ihnen sagt: „Es gibt eine Pandemie, wir können nicht rausgehen.“ Oder, „Du sollst das Geld nicht anfassen, du sollst Abstand halten, wenn jemand vorbeikommt.“ Wir konnten den Angehörigen nicht mehr empfehlen, dass sie mit den Patientinnen hin und wieder spazieren gehen, Freundinnen einladen oder kreative Kurse besuchen. Wir verabreichten mehr Medikamente, was natürlich eigene Probleme mit sich brachte. Neben den Älteren hatten es auch Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen schwer. Menschen mit psychotischen Störungen wie Schizophrenie hatten Schwierigkeiten, ihre Ärzte und Behandlungen zu erreichen. Es kam zu Rückfällen.

-Haben Sie Patienten, die trotz der Aufhebung der Verbote weiterhin Anpassungsprobleme haben?

Es gibt immer noch eine kleine Gruppe, die ihr Zuhause nicht verlassen kann. Sie gehen nicht einmal das Notwendigste einkaufen, sie haben Angst. Zu Beginn der Pandemie dachten wir, in zwei Monaten würden wir dort weitermachen können, wo wir aufgehört haben. Wir nähern uns nun dem Jahresende und wissen noch nicht, wie es weitergehen wird. Die Gesellschaft muss lernen, mit dieser Ungewissheit zu leben.

Einmal werden wir selbst zu den alten gehören, die wir heute diskriminieren

- Verbote und offizielle Stellungnahmen erzeugten die Wahrnehmung, alte Menschen seien gefährlich, statt „alte Menschen sind gefährdet.“ Was bedeutete das für ältere Menschen?

Wir haben Patienten über 65, deren Krankheitsverlauf durch die psychiatrische Abteilung der Hacettepe Universität verfolgt wird, nach ihrer Wahrnehmung der Diskriminierung vor und nach der Pandemie gefragt. Wir erfuhren, dass die Diskriminierung mit der Pandemie exponentiell zugenommen hat. Jagd auf ältere Menschen, auf alte Männer ohne Maske …  Wir nehmen uns zwar als ein traditionelles Land wahr, das ihre Alten liebt und respektiert, aber wir haben schmerzlich erfahren müssen, dass dem nicht so ist.

- Altersdiskriminierung war vor der Pandemie kein Thema, worüber wir viel gesprochen oder nachgedacht haben.

Wenn von Diskriminierung die Rede ist, denkt man an Themen wie Gender, sexuelle Orientierung oder Rasse und um das Othering – Ihre Hautfarbe wird etwa nie schwarz. Altersdiskriminierung ist jedoch anders: Wenn wir Glück haben, werden wir einmal Teil der Gruppe werden, die wir heute diskriminieren. Das unterscheidet diese Diskriminierung von anderen. So verbreitet sie ist – sie bleibt unsichtbar. Das Sichtbarwerden der Altersdiskriminierung durch die Pandemie ist vielleicht eine Chance, dass wir uns ihr stellen. Auch wir werden alt, allein aus diesem Grund müssten wir für die Rechte der alten Menschen eintreten.

Alter wird einer Katastrophe gleichgesetzt

- Warum versuchen wir, das Alter zu ignorieren, obwohl es unvermeidlich ist?

Das ist etwas, was uns die sogenannte neue Weltordnung auferlegt hat. Wir haben nicht nur gegen das Altern eine negative Einstellung, sondern zu allem, was wir für nicht schnell genug empfinden. In den letzten Jahren entstand etwa eine populäre Definition, um die rasante Alterung der Weltbevölkerung auszudrücken: Grauer Tsunami. Altern wird mit einer Katastrophe, einer Zerstörung identifiziert.

Es ist wichtig, ein autarker, geistig und körperlich gesunder alter Mensch zu sein, der seinen Alltag meistern kann, aber dies erfordert von Jugend an die entsprechenden Voraussetzungen. Je ärmer Sie sind, desto ungesünder werden Sie alt werden. Wenn Sie sich schlecht ernähren und hart arbeiten, können Sie nicht für das Alter sparen, weil Sie nur Ihren Tag retten können. Der Kapitalismus sagt, dass ein gesundes Altern in unseren Händen liegt; macht das, esst dies... Wenn Sie alt und krank sind, ist es Ihre Schuld. Die Rechnung zahlen die Armen. Dabei muss sich der Staat um jeden älteren Menschen kümmern bzw. um jeden, der Steuern zahlt und bedürftig ist.

- Die Türkei, die sehr stolz auf ihre junge Bevölkerung ist, wird älter. Sind wir darauf vorbereitet?

Sowohl das Ministerium für Gesundheit als auch das Ministerium für Familie und Soziales arbeiten daran. In Pflegeheimen und Heimdiensten wurden Fortschritte erzielt. Kommunen tun noch mehr, sie stellen Reinigungsdienste, regelmäßige Verpflegung, Friseurdienste zur Verfügung. Es sollte mehr Tagesstätten für ältere Menschen geben, wo sie adäquate Impulse bekommen. In Bezug auf das Altern werden eher gesundheitsbezogene Schritte unternommen, in anderen Bereichen sind wir jedoch nicht gut vorbereitet.

Pandemietagebuch der über 65-Jährigen #7: Die Angst vor dem Altern wird zum Hass auf die Alten

Die Pandemie hat nicht nur zur Zunahme der Hassreden gegenüber älteren Menschen geführt, sondern auch die vorhandenen Vorurteile in Handlungen umgesetzt. „Die Altersdiskriminierung wird in naher Zukunft zu einem der größten Probleme der Türkei werden", sagt der Soziologe Özgür Arun.

„Sie sagten, sie hätten ein Virus gefangen und übergossen ihn mit Kölnisch Wasser“, „Alte saßen auf der Parkbank: süß-saure Warnung mit Wasser“, „Wir können die Opas nicht daran verhindern, die Wohnung zu verlassen.“ „Die Momente, als die 75- jährige Oma wie eine Spinne die Wand hochkletterte, um den Einschränkungen zu entkommen.“  Je sichtbarer ältere Menschen in der Türkei sind, desto größer wird laut dem Soziologen Özgür Arun die Altersdiskriminierung. Denn die Angst vor dem Altern steht unter den Ursachen der Altersdiskriminierung an erster Stelle. Dazu kommen die ständig reproduzierten Klischees von Verwahrlosung und Hilfslosigkeit alter Menschen. Und das System tut sein Bestes, um diese Stereotypen zu bekräftigen. Dozent Dr. Özgür Arun, Präsident von Senex, Verein für Altersstudien und Dozent an der Gerontologie-Abteilung der Akdeniz Universität beantwortete unsere Fragen.

- Was muss man unter Ageism verstehen?

Das ist eine sehr heimtückische Diskriminierung. Sie kann jedes Altersstadium betreffen, kann sich nach oben wie nach unten, sowohl an Kinder als auch an ältere Menschen richten. Auch in der eigenen Altersgruppe tritt Diskriminierung auf. Die Angst vor dem eigenen Altern beinhaltet Aspekte wie Vermeidung, Ausgrenzung, Stigmatisierung, Verschmähung, Verallgemeinerung und Verachtung älterer Menschen. Es ist ein wichtiges Thema, das zu großen wirtschaftlichen Verlusten führt, Generationenkonflikte verursacht und den sozialen Frieden beeinträchtigt.

- In der Türkei ist man stolz auf den erbrachten Respekt für ältere Menschen.  Die Pandemie hat jedoch gezeigt, dass dem nicht so ist.

Der Spruch, „Türken lieben und beschützen ihre alten Leute“ ist eine moderne Sage. Wenn wir uns Archetypen ansehen, stellen wir fest, dass sich die alten Menschen in der Türkei durch Verwahrlosung, fehlende Zähne und krummen Rücken auszeichnen. Das Bild der Alten wird über das „Arm-Sein“ reproduziert. Diese sozialen Bilder haben die Ausgrenzung zur Folge. Wir stellen in unseren Studien seit Längerem eine systematische Altersdiskriminierung durch die Regierung und die lokalen Verwaltungen fest, auch durch die Bürger und Bürgerinnen. Die Pandemie hat diese Situation lediglich ans Tageslicht gebracht.

Man setzte alten Menschen dem Virus gleich

- Was ist während der Pandemie passiert, dass die alten Menschen zu einer „Gefahr“ stilisiert wurden und die Altersdiskriminierung zunahm?

Erste Erkenntnisse über die Krankheit ergaben, dass ältere Menschen mehr gefährdet waren. Es gab Aufrufe, sie zu schützen. Als sich jedoch die Gerüchte vermehrten, dass sie öfter erkranken und das Virus verbreiten würden, wurden die für „gefährdet“ Erachteten plötzlich zu den „Gefährlichen“. Daran haben nicht nur die Politiker, sondern auch die sogenannten Experten sowie die Medien ihren Anteil. Die Äußerungen der zuständigen Behörden führten dazu, das ältere Menschen dem Virus gleichgesetzt wurden. Die Sprache der Medien trug zu ihrer Kriminalisierung bei. Sie wurden stigmatisiert. Mit der Epidemie wurde aus den diskriminierenden Einstellungen gegenüber älteren Menschen diskriminierendes Verhalten.

- Welches Verhalten zum Beispiel?

Eine Gemeinde hat eine „Hotline für Denunziation von Älteren“ errichtet. Das war eine offene Aufforderung an die Bevölkerung. Bürger und Bürgerinnen, die diskriminierende Praktiken und Diskurse staatlicher Institutionen übernahmen, begannen, älteren Menschen körperliche Gewalt auszuüben. Sie wurden auf der Straße abgefangen, sie wurden misshandelt. In der Region Thrakien konnte ein Bürgermeister drohen: „Geht nicht auf die Straße, erzwingt euer Glück nicht!“. Am schlimmsten war für mich, dass ein älteres Paar in Manavgat nicht heiraten durfte. Unter dem Vorwand, dass sie ihre Wohnungen nicht verlassen dürfen, wurden sie nicht offiziell getraut. Leider haben die Nichtregierungsorganisationen alte Frauen, alte Arbeiter und Arbeiterinnen, alte Menschen in Armut ignoriert, als die  Verbote ausgesprochen wurden.

Seit 2021 veröffentlichen wir den Bericht „Monitoring von Gewalt und Verstößen gegen ältere Menschen“. Monatlich sind wir mit durchschnittlich 150 Fällen von Gewalt, Vernachlässigung und Missbrauch konfrontiert, von denen die Hälfte zum Tod führt. Beispielsweise hat man bei einer Frau in Mardin erst in ihrem achtzigsten Lebensjahr festgestellt, dass sie amtlich nicht registriert ist. Sie hat ein Leben lang die Mühsal der Identitätslosigkeit erlitten, ihre Kinder kommen erst jetzt darauf.

Dreifache Erhöhung der Diskriminierung in sieben Jahren

- Was hat sich nach der Pandemie in der Altersdiskriminierungsforschung verändert?

In der „Studie über die Vorstellung und Praxis des Älterwerdens in der Türkei“  der Ya-Da- Stiftung aus dem Jahr 2019  wurde die Altersdiskriminierung der über 65-Jährigen mit 6,5 Prozent berechnet. Laut den Ergebnissen der „Antalya Alterstudie“ von 2020, die wir alle drei Jahre durchführen, stieg die Altersdiskriminierung von vier Prozent im Jahr 2013 auf sieben Prozent im Jahr 2016 und auf elf Prozent im Jahr 2020. Bei bildungsfernen Personen, die finanziell am stärksten benachteiligt waren, stieg die Quote um 18 Prozent. Arme ältere Menschen, insbesondere behinderte und verwitwete Frauen, erleben die Diskriminierung am verheerendsten. Als Senex haben wir zwischen Januar und Juni 2020 anhand der Berichterstattung von sechs großen Zeitungen die Untersuchung „Rechtsverletzungen und diskriminierende Praktiken gegen ältere Menschen in der Covid-19-Agenda“ durchgeführt. Wir haben festgestellt, dass 85 Prozent der themenbezogenen Berichte einen diskriminierenden Diskurs gegen das Alter und ältere Menschen geführt haben. Altersdiskriminierung wird in naher Zukunft eines der größten Probleme der Türkei werden.

Die alten Menschen der Zukunft werden gebildet, aber arm sein

-Was nährt diese Diskriminierung?

Altersdiskriminierung ist das Resultat von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozessen und sie ist eine der tragischen Folgen der kapitalistischen Modernisierung. Alles, was das Altern und das Alt-Sein umfasst, alle Verhaltensmuster, die davon ausgehen, dass alle alte Menschen gleich sind, bringt Diskriminierung mit sich. Sogar wissenschaftliche Studien haben in der Regel einen Ansatz, der die Diskriminierung reproduziert.

- Ich denke, dass auch die Angst vor dem Altern den Hass auslöst.

Dies ist ein wichtiger Aspekt der Altersdiskriminierung. Menschen wollen lange leben, aber nicht alt werden. Angesichts der aktuellen makroökonomischen Bilanz können wir aber voraussagen, dass die nächste Generation älterer Menschen in der Türkei leider noch ärmer sein wird. Täglich schließen sich junge Menschen in temporären Akkordjobs der Karawane der Älterwerdenden an. Sie werden nicht in der Lage sein, an die Sozialversicherungsrechte und die umfassenden Betreuungsangebote, die ihre Eltern noch genießen durften, anzuknüpfen. Sogar junge Menschen des Mittelstands werden diesen Wohlstand nicht halten können und werden verarmen. Die älteren Menschen der Zukunft werden besser ausgebildet, aber ärmer sein. Das Problem der Türkei ist nicht älter werden an sich, sondern zu altern, ohne einen gewissen Wohlstand erreicht zu haben. In der Zukunft wird die Altersdiskriminierung auch in den Generationskonflikten eine größere Rolle spielen. Die zunehmende Sichtbarkeit alter Menschen wird zu einer größeren Angst vor dem Altern führen.

- Was müsste zusammengefasst dringend passieren, um die Altersdiskriminierung zu bekämpfen?

Drei strukturelle Schritte sind sehr wichtig. Zunächst gesetzliche Regelungen, dann Überwachung und Evaluation. Die Türkei ist das einzige Land in Europa, das keine regelmäßige Alterserhebung durchführt. Studien zur Altersdiskriminierung sollten in das amtliche Statistikprogramm von TURKSTAT integriert werden. Drittens sollte ein autonomes Institut für das Altern eingerichtet werden, um die erforderlichen Maßnahmen einzuleiten. Was die Kommunalverwaltungen betrifft: diese brauchen Notfallpläne. Sie sollten anstatt eine auf die Bedürfnisse orientierte Dienstleistung, welche die Menschen zur Armut verurteilt, einen auf Rechten basierenden Dienst in die Wege leiten. Zusätzlich zu den Frauen-, Jugend- und Kinderräten sollte ein „Altenrat“ eingerichtet werden. Als Senex sind wir bereit, Kommunen mit Experten und Wissen zu unterstützen. Unsere einzige Bedingung ist ein Stadtratsbeschluss für die Mitgliedschaft am globalen Netzwerk altersfreundlicher Städte.

Mütterliche, wohlwollende und arrogante Diskriminierende

Özgür Arun ist dafür, nicht nur über Diskriminierung zu sprechen, sondern auch über diejenigen, die diskriminieren. „Sonst“, sagt er, „sind diese unsichtbar wie das sogenannte Inflationsmonster.“ Also, wer sind diese Leute? Er spricht über drei Typologien, die im Rahmen der Antalya-Altersstudie diagnostiziert wurden:

1- Mütterliche Diskriminierende: Sie sprechen mit älteren Menschen in der Babysprache, weil sie annehmen, sonst nicht verstanden zu werden. Eine Gruppe, die mit etwas Anstrengung als altersfreundlich gewonnen werden könnte.

2- Wohlwollende Diskriminierende: Wir haben sie während der Pandemie häufig getroffen. Sie handeln mit dem Vorurteil, dass alte Menschen arm und krank seien und übernehmen für sie alles, ohne sie zu fragen. Dies ist der erste Schritt zur sozialen Ausgrenzung, die den Status der betreffenden Person ignoriert. Diese Gruppe könnte konvertiert werden.

3- Arrogante Diskriminierende: Die gefährlichste Gruppe. Sie haben Angst, in Anwesenheit alter Menschen zu sein, weil sie Angst haben, selbst alt zu werden. Sie verurteilen die Verhaltensweisen, Ideen und Persönlichkeiten älterer Menschen. Sie neigen zu körperlicher und psychischer Gewalt. Sie sind schwer zu konvertieren. Unsere größte Sorge besteht darin, dass sie auch in zunehmendem Alter weiterhin diskriminieren werden.

Özgür Arun
Özgür Arun, Präsident von Senex, Verein für Altersstudien © P24

Pandemietagebuch der über 65-Jährigen #8: Acht Millionen Unsichtbare

Altersdiskriminierung ist nichts anderes, als den Ast abzuschneiden, auf dem man sitzt: Denn im Gegensatz zu anderen Formen der Diskriminierung werden früher oder später alle zu dieser Gruppe gehören. Wenn wir natürlich das Glück haben, in diesem Land jemals alt zu werden.

Im September wurden 209 Fälle von Gewalt, Vernachlässigung und Missbrauch gegen ältere Menschen registriert, von denen die Hälfte zum Tod führte. Laut dem monatlichen Bericht "Monitoring von Gewalt und Verstößen gegen ältere Menschen“ von Senex, gehört dies zur Realität der Türkei, die sich offiziell „um ihre alten Bürger und Bürgerinnen kümmert und sie respektiert.“  Als ich beschloss, eine Artikelserie zu Pandemie und über 65-Jährige zu schreiben, rechnete ich nicht damit, mit einer so massiven Verletzung von Rechten und Diskriminierung konfrontiert zu werden. Und ich hätte nie gedacht, dass ich selbst an dieser Diskriminierung beteiligt war. Daher ist dieser Text auch eine Art Geständnis und eine Bitte um Entschuldigung. Als jemand, der Bücher über Hassverbrechen verfasst, weiß ich mittlerweile, wie ich ältere Menschen ignoriere. Oder dass es eine Antwort auf die Frage gibt, warum Senioren und Seniorinnen oft mit öffentlichen Bussen fahren. Busfahren ist für die alten Menschen die einzige Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen, dank ihres Gratis-Verkehrspasses andere Menschen zu treffen. In der Pandemie wurde ihnen sogar diese Möglichkeit entzogen.

Fast acht Millionen Menschen über 65 Jahren waren durch eine Verordnung 16 Monate lang in ihren Wohnungen eingeschlossen, Freigang hatten sie täglich nur einige Stunden. Als ob sie geistig nicht fähig wären, sich selbst zu schützen und nicht überlebensfähig wären. Dabei gibt es unter ihnen solche, die arbeiten müssen. So werde ich – wie viele meiner Gesprächspartner und -partnerinnen auch – den Aufschrei der Frau nie vergessen, die man aus einem Bus herauswarf: „Ich habe heute schon drei Treppenhäuser geputzt. Wenn ich nicht arbeite, werde ich verhungern“ schrie sie.

Wir sind alle Täter

Als die zu Beginn der Pandemie ausgesprochene Losung „alte Menschen schützen“ irgendwann als „alte Menschen sind gefährlich“ gedeutet wurde, begann man sie auf der Straße zu jagen, zu beschimpfen und zu schinden. Als wir später mit alten Menschen sprachen, erkannten wir, dass es diesen Hass schon immer gegeben hat. Die Pandemie hat ihn lediglich an die Spitze getrieben.  Darauf beziehen sich meine Gesprächspartner und -partnerinnen, wenn sie sagen, dass jetzt immerhin über sie gesprochen wird, auch wenn im Zusammenhang mit Hass und Gewalt. Denn sonst wird sowohl über das Alter selbst als auch über den Hass gegen alte Menschen in der Gesellschaft einvernehmlich geschwiegen.

Was treibt diesen Hass an?  Langsamer zu werden bedeutet in unserem auf Geschwindigkeit und Konsum basierenden System ignoriert zu werden. Als ob dies nicht schlimm genug wäre, konsumieren ältere Menschen nicht ausreichend. Während uns der Kapitalismus mit Jugendcremen und Wellness-Trends sämtliche Möglichkeiten bietet, jung zu bleiben, altern sie schamlos! Das wiederum weckt Ängste. Mit anderen Worten: Altersdiskriminierung ist ein Verbrechen, das wir alle verschulden. Und sie ist nichts anderes als den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen. Denn im Gegensatz zu anderen diskriminierten Gruppen werden wir alle irgendwann zu der Gruppe alter Menschen gehören, die wir heute diskriminieren. Natürlich, wenn wir das Glück haben, in diesem Land alt zu werden.

Die Türkei ist stolz auf ihre junge Bevölkerung, aber auch das ändert sich. Laut dem Türkischen Statistikinstitut (TUIK) stieg der Bevölkerungsanteil der über 65-Jährigen in den letzten fünf Jahren um 22,5 Prozent. Von 6.495.239 im Jahr 2015 auf 7.953. 555 im Jahr 2020. Ich habe jedenfalls schlechte Nachrichten für alle: Untersuchungen zeigen, dass die Bevölkerung der Türkei nicht nur älter, sondern auch ärmer wird. Mit anderen Worten: Wir werden das Alter unter viel schlechteren Bedingungen verbringen als unsere Eltern. Tun Sie also jetzt schon etwas oder bereiten Sie sich auf ein Alter vor, in dem Sie mit noch größerem Hass konfrontiert werden als die Alten von heute erdulden müssen. Es ist Ihre Entscheidung!

Manche haben die alten Menschen nicht vergessen

Sie wissen mittlerweile, was alte Menschen während der Pandemie erlitten haben. Aber glauben Sie nicht, dass sie zur Gänze vergessen wurden. Manche Einrichtungen und Einzelpersonen haben die über 65-Jährigen in dieser Zeit nicht allein gelassen. Hier zwei Beispiele:

Tanzen in jedem Alter und immer

Der Workshop „Bewegung für aktives Altern“ den Filiz Sızanlı, eine der Gründerinnen von „Dans Daima“ durch Unterstützung der Stadtverwaltung Eskişehir durchführt, ist eine der Maßnahmen, die während der Pandemie frischen Wind ins Leben der über 65-Jährigen brachte. Es geht dabei nicht um eine physiotherapeutische Aktivität, sondern um ein viel tiefer gehendes Projekt, das die Teilhabe am Leben hinterfragt und darauf abzielt, das Körperbewusstsein zu steigern. Sızanlı weiß, dass Menschen über 65 auf Bewegung angewiesen sind: „Verbote, die den Körper zum Stillstand zwangen, beschleunigte das Altern. Die Erwartungen an das Leben verschwanden. Deshalb war es uns wichtig, mit älteren Menschen zu arbeiten.“

Der Workshop, der mit 20 Personen im Freien begann, wurde mit der Zeit durch Beteiligung von Partnern und Nachbarn immer voller. Wer sind diese Leute? „Architekten, Rentner, Hausfrauen… Sie sind wie auf der Straße spielende Kinder. Ausschlaggebend ist nicht, woher sie herkommen und was sie tun, sondern ihre Beziehung zum Leben im fortgeschrittenen Alter. Der Workshop ermöglicht einen Einblick in ihren Körper, den sie im Laufe der Jahre aufgebaut haben. Sie sind mit diesem Thema nicht vertraut.  Es ist nicht einfach, Menschen dazu zu bringen, sich hinzulegen, barfuß zu laufen, sich gegenseitig zu berühren. Aber sie können sich immer noch begeistern.  Die Teilnehmenden erzählen, dass sie eine neue Reise angetreten haben und genau beobachten, welche Bewegungen ihnen Schmerzen bereiten.“

Sızanlı spricht sich für die Erweiterung solcher Projekte aus: „Alten Menschen wird nichts zugetraut, daher werden sie ausgegrenzt. Dabei haben sie eine unglaubliche Vorstellungskraft und Kreativität. Wir sollten uns überlegen, wie wir diese Ressource in die Kulturpolitik einbeziehen können. Es ist sehr wertvoll für mich, alten Menschen Gehör und Sichtbarkeit zu verschaffen.“

Trainings für digitale Inklusion der über 65-Jährigen

Der Verein für die Rechte der über 65-Jährigen setzt sich seit 2014 für die Rechte älterer Menschen ein. Damals kannten viele die Bedeutung von 65+ auf dem Vereinslogo nicht. Doch durch die Pandemie ist dieser Begriff in unser Leben eingetreten. Die Verbandspräsidentin Rümeyza Kazancıoğlu weiß, dass nicht alle alte Menschen zerbrechlich sind, die man bemitleiden muss: „Es gibt ältere Menschen, die extrem aktiv sind und mehr Energie haben als wir“, sagt sie.

Digitale Kompetenz ist ein Recht. Deshalb beschließt der Verein noch vor der Pandemie, mit Unterstützung der EU ein Projekt für die digitale Inklusion der über 65-Jährigen zu starten: „Während die Welt rasant voranschreitet, war es unverantwortlich, eine bestimmte Altersgruppe von der Technologie auszuschließen. Deshalb planten wir ein Projekt zur digitalen Alphabetisierung. In der Pandemie haben wir gesehen, dass wir alle diesbezüglich mehr Defizite haben, als wir dachten. So gewann das Projekt noch mehr an Bedeutung. Wir wollten die Schulungen ursprünglich in Präsenz durchführen, aber aufgrund der Pandemie werden wir die Technologie zur Hilfe ziehen. Die Schulungen werden von jungen Leuten abgehalten. Damit soll eine funktionierende Kommunikation zwischen den Generationen aufgebaut werden, sie sollen sich gegenseitig „berühren“ können. Wir bieten auch Schulungen für finanzielle Kompetenz an.“

Kazancıoğlu hält es für falsch, ältere Menschen während der Pandemie einzusperren. Und man hat bei der Bemessung der Ausgehzeiten auf etwas vergessen: Alte Menschen haben ein anderes Tempo. Sie haben sich schwergetan, mit dieser Zeit Schritt zu halten. Außerdem waren sie zu Hause langsamer geworden.“

Leider wird über die Probleme dieser Gruppe nicht viel gesprochen. „Zum Beispiel“, sagt sie, „werden nicht nur Kinder, sondern auch ältere Menschen missbraucht. Pflegeheime und Pflegekräfte sind ein anderes Thema. Es gibt noch viele Baustellen. Kümmern wir uns um Kinder, weil sie unsere Zukunft sind und um alte Menschen nicht, weil sie keine Zukunft haben?“

Sie versuchte, in den Bus einzusteigen, aber…

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Der Verein für die Rechte der über 65-Jährigen setzt sich für das Bewusstsein für Finanzkompetenz ein. Diese öffentliche Werbung, die ältere Menschen vor Betrügern warnt, wurde vom Verein produziert. © P24