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Türkei
Erdstöße ohne Ende – und die Angst vor dem ganz großen Erdbeben in Istanbul

Durch Erdbeben beschädigtes Haus in Izmir
© picture alliance / AA | Mahmut Serdar Alakus

In dem tektonisch in hohem Maße aktiven Gebiet rund um Anatolien kommt es nachweislich seit der Antike immer wieder zu Erdbeben mit ganz unterschiedlicher Zerstörungskraft. Anlässlich des Bebens von Izmir, das auch auf der benachbarten griechischen Ägäis-Insel zu Schäden und Todesopfern geführt hat, veröffentlichten türkische Medien Berichte und Auflistungen über frühere Ereignisse. Katastrophale Erdbeben, das weiß hier jedes Kind, sind in der Türkei keine Seltenheit. Nach dem jüngsten Beben mit der Stärke 6,6 auf der Richterskala registrierte die Katastrophenschutzbehörde AFAD in der Region nicht weniger als 3.630 Nachbeben. Von diesen hatten 48 eine Stärke von über 4 auf der Richterskala.

Insgesamt kamen bei dem Beben 116 Menschen ums Leben. Von den über Tausend Verletzten, die zunächst in Krankenhäusern behandelt wurden, sind die meisten inzwischen entlassen. Im Lichte der Verwüstungen brachten die Behörden Tausende in eilig zur Verfügung gestellten Notunterkünften unter. In der Medienberichterstattung nahmen vor allem die Bergungsarbeiten viel Raum ein. Kollektiver Jubel ertönte landesweit, als ein kleines Mädchen 96 Stunden nach dem Erdbeben lebend aus den Trümmern geborgen werden konnte.

Kaum hatte sich die Erde beruhigt, begannen die Diskussionen darüber, wer Schuld an dem Ausmaß der Zerstörung habe. Hasan Sözbilir, Direktor am Zentrum für Erdbebenforschung in Izmir, kritisierte das Fehlen eines „Masterplans“ für den nur in Izmir eingetretenen Katastrophenfall. Präsident Erdogan richtete den Blick nach vorne und wies darauf hin, seine Regierung werde in den kommenden fünf Jahren 1,5 Millionen erdbebensichere Wohneinheiten bauen lassen. Laut dem Immobilien-Portal Emlakpencerem.com hat der staatliche Baukonzern TOKI den Auftrag erhalten, zunächst 3.000 Häuser in den zerstörten Siedlungen Izmirs zu schaffen. Aus Erdbebenschutzgründen dürfen die neuen Gebäude nicht höher als fünf Stockwerke sein.

Die regierungsnahen Medien reagierten mit Beileidsbekundungen: In großer Aufmachung zeigten sie die Anteilnahme von Politikern und Prominenten. Gleichzeitig warfen die Erdogan-freundlichen Blätter den von der Opposition geführten Stadtverwaltungen Versäumnisse beim Erdbebenschutz vor. So schrieb der Kolumnist Ersoy Dede in der Zeitung „Star“: „Wir haben nicht vergessen, dass der Oberbürgermeister es vorgezogen hat, Gebäude in Regenbogenfarben zu bemalen [in Solidarität mit der LGBTI-Bewegung], anstatt sie erdbebensicher zu machen.“

Nach dem Beben ist vor dem Beben: Jedes Mal, wenn die Erde gebebt, hat wächst in der türkischen Bevölkerung die Angst vor dem nächsten Beben. Und die Sorge ist besonders groß in Istanbul. Experten werden nicht müde darüber zu streiten, ob für die Stadt am Bosporus mit ihren 16 Millionen Einwohnern alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen worden sind. Orhan Bursalı weist in der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“ darauf hin, ein mit dem jüngsten Beben in Izmir vergleichbares Erdbeben würde in Istanbul zu weitaus größeren Schäden führen. Unter anderem führt der Kolumnist an, „dass nur 31 Prozent der öffentlichen Schulen erdbebensicher sind.“ Ähnlich sieht es Mehmet Tezkan vom unabhängigen Internetportal „T24“, der das Versagen der Politik kritisiert und die dramatischen Folgen eines möglichen Istanbuler Bebens mit einer Stärke von über 7 auf der Richterskala beschreibt: „Nicht nur Istanbul, sondern die gesamte Türkei würde zerstört, die gesamte Wirtschaft würde zusammenbrechen.“

Abdurrahman Dilipak kommentiert dagegen in dem pro-Erdogan Blatt „Yeni Akit“, dass die politischen Entscheidungsträger nicht die alleinige Verantwortung für den Erdbebenschutz hätten, und ruft in verhalten-optimistischem Ton die Gesellschaft zur Zusammenarbeit auf: „Dies ist kein Problem, das nur durch politische Entscheidungen und Bürokratie gelöst werden kann. Einzelne Personen, Institutionen, NGOs und Medien sollten ebenfalls vorbereitet sein.“

Doch seine Schlussfolgerung weist in eine ganz andere Richtung. Das Schicksal liege nicht in unserer Hand: „Es gibt einen Gott, der uns sieht, hört, kennt und richtet! Solange wir Ihm zu Seiner Zufriedenheit dienen, wird Er uns nicht leiden lassen.“