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Publikation

Richterschaft in Afghanistan

Vorwort

In demokratischen Gesellschaften sind unabhängige Gerichte, Richterinnen und Richter die wichtigsten Garanten für die Grundrechte von Einzelpersonen. Sie wenden Gesetze an und ziehen jene Subjekte der Gesellschaft zur Verantwortung, die gegen diese Gesetze handeln und verstoßen. Dabei verschaffen sie nicht nur der Wahrheit Geltung, sondern stellen sich auch gegen die Straflosigkeit. Als treibende Kraft tragen sie zudem maßgeblich zu Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit bei.

Am 15. August 2021 führte der Sturz der ehemaligen, verfassungsrechtlich legitimierten Regierung Afghanistans zur Auslöschung des Richterberufs. Seit ihrer Machtübernahme haben die Taliban der Judikative in vielerlei Hinsicht schweren Schaden zugefügt. So haben sie etwa die Unabhängigkeit des Rechtssystems und die Integrität der Richter und Richterinnen sowie ihre Schutzmechanismen verletzt, zum Beispiel durch die Übernahme der Afghanistan Independent Bar Association (AIBA). Die meisten afghanischen Richter, vor allem Richterinnen, wurden von der de facto Regierung verfolgt oder sogar getötet.

Kurz nachdem die Taliban die Gerichtssäle besetzten, begannen sie damit, langjährige Richter und Richterinnen zu bestrafen oder durch ideologische Loyalisten zu ersetzen. Dem folgte die Annullierung der Verfassung von 2004 und der relevanten Gerichtsgesetze. Die gesamte Judikative ist zu einem verlängerten Arm der Taliban geworden, dem die notwendige Legitimität und das wichtige Vertrauen der Bevölkerung fehlt. Alle dafür angeführten religiösen Gründe, zum Beispiel der Verweis auf Praktiken der islamischen Dynastien, entbindet die Taliban nicht von ihren nationalen und internationalen Schutzverpflichtungen gegenüber Richtern und Richterinnen. Afghanistan hat eine Reihe von internationalen Abkommen ratifiziert, unter anderem den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) und das Übereinkommen gegen Folter (CAT). Die Taliban sind nun durch die gewaltsame Übernahme der Regierung in der Verantwortung, diese Abkommen einzuhalten. Stattdessen tragen sie die Hauptverantwortung für die verschlechterte Sicherheitslage von Richtern und Richterinnen, die niemals stärker gefährdet waren.

Durch das abrupte Verlassen Afghanistans im August 2021 hat die internationale Gemeinschaft das Volk einem katastrophalen post-interventionistischen Schicksal überlassen. Die Richterschaft ist einem hohen Risiko der Auslöschung ausgesetzt. Die in Afghanistan involvierten Länder stehen deshalb in der moralischen und gesetzlichen Pflicht, humanitäre Hilfe für Richter und Richterinnen zu leisten und sie vor den Feindseligkeiten der Taliban und ihrer verbündeten Cliquen zu beschützen.

Das vorliegende Papier enthält eingehende Analysen sowie Grundsatzdiskussionen über den Status der Judikative und insbesondere der Situation der Richterinnen.

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Das Ende der Richterschaft

Vor einem Jahr, am 15. August 2021, fiel Kabul in die Hände der Taliban. Für Millionen von afghanischen Bürgern und Bürgerinnen hat sich das Leben abrupt verschlechtert, vor allem für Frauen, die die Hälfte der afghanischen Bevölkerung ausmachen. Für die afghanischen Rechtsberufe, vor allem die Richterschaft, war dieser Tag fatal. Insbesondere Richterinnen, die in den letzten 20 Jahren große Anstrengungen unternommen hatten, um gegen Unrecht vorzugehen und die Rechtsstaatlichkeit aufrechtzuerhalten, bekommen die katastrophalen Folgen des abrupten Regimewechsels zu spüren.

Der Sturz der ehemaligen Regierung unter Präsident Ashraf Ghani führte dazu, dass Richter und Richterinnen entweder dazu gezwungen sind, ihr Leben zu riskieren oder unfreiwillig ins Exil zu gehen. Viele wurden vertrieben, ihrer Ämter enthoben oder verfolgt. Dies hat zu einem drastischen Verfall der noch jungen Rechtsstaatlichkeit geführt, die sich nach 2001 in den Rechtsberufen entwickelte. Vor dem Hintergrund der Gerechtigkeitsvorstellungen der Taliban werden im Folgenden wichtige Einblicke in den Sturz der Richter und Richterinnen gegeben. Ein besonderer Fokus wird auf der Analyse der Amtszeit für Richter und Richterinnen und ihre Absetzung durch die Taliban in Verbindung mit den einhergehenden Sicherheitsbedrohungen gelegt. Grundsatzdebatten, insbesondere zur Rolle der internationalen Gemeinschaft, und abschließende Bemerkungen ergänzen diese Analyse.

Grundannahme der vorliegenden Analyse ist folgender Zusammenhang zwischen Richtern und Rechtsstaatlichkeit: In freiheitlich-demokratischen Gesellschaften entscheiden Richter bzw. Richterinnen einen Streit zwischen zwei oder mehreren Parteien in Übereinstimmung mit dem Gesetz und den Fakten, ohne Einmischung oder Einschüchterung. Unter Berücksichtigung der Grundrechte und demokratischen Grundsätzen wenden sie die nationalen Gesetze gleichermaßen an.[1] In einem breiteren Kontext ist eine unabhängige Justiz, die auf den Grundsätzen der Legalität, der Gleichheit und der Abwesenheit von Zwang beruht, ein wichtiger Maßstab für die fortschreitende Entwicklung einer gesunden und funktionierenden Gesellschaft. Dies ist das vorrangige Ziel der Rechtsstaatlichkeit, und es ist zumindest das, was die internationale Gemeinschaft als Teil ihrer Rechtfertigung für ihre Präsenz in Afghanistan zu fördern versuchte.

[1] Bericht des Generalsekretärs über Rechtsstaatlichkeit und Aufarbeitung von Unrecht in Konflikt- und Postkonfliktgesellschaften, 23 S/2004/616, August 2004, Absatz 6.

15 Aug.
15.08.2022 19:00 Uhr
virtuell

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Im Gespräch mit der afghanisch-deutschen Journalistin Arezao Naiby