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Pakistan
Pakistan hat gewählt: Denkzettel für traditionelle Parteien und etablierten Politikstil

Anhänger der Partei des inhaftierten ehemaligen pakistanischen Premierministers Imran Khan protestieren in Karachi, Pakistan, mit Parolen gegen die Verzögerung der Parlamentswahlen durch die pakistanische Wahlkommission.

Anhänger der Partei des inhaftierten ehemaligen pakistanischen Premierministers Imran Khan protestieren in Karachi, Pakistan, mit Parolen gegen die Verzögerung der Parlamentswahlen durch die pakistanische Wahlkommission.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Fareed Khan

Am 8. Februar 2024 haben in Pakistan endlich die Parlamentswahlen stattgefunden, um die seit dem Misstrauensvotum gegen Premierminister Imran Khan im April 2022 so hart gerungen wurde. Im mit 242 Millionen Einwohnern 5. bevölkerungsreichsten Land der Welt waren diesmal 128 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, ihre Provinzparlamente und das nationale Parlament neu zu wählen – ein neuer Rekord. Rund 57 Mio Wahlberechtige waren diesmal Jungwähler unter 35 Jahre, die den Ausgang der Wahlen entscheidend beeinflussen konnten. Erfreulich war, dass sich der Anteil der eingetragenen Wählerinnen deutlich auf 46% erhöht hat.

Das am 11. Februar verkündete Endergebnis für die nach Mehrheitswahlrecht gewählten 266 Sitze der Nationalversammlung zeigt einen deutlichen Vorsprung der unabhängigen Kandidaten mit 101 Sitzen. Mehrheitlich waren diese unabhängigen Kandidaten im Wahlkampf von Imran Khan´s PTI unterstützt worden. Die Partei des dreimaligen Premierministers Nawaz Sharif (PML-N) erreichte 75 Sitze, gefolgt von der Pakistan People‘s Party (PPP) mit 54 Sitzen.

Auch wenn dieser Wahlausgang die Stimmungslage der Menschen gut widerspiegelt, hat er doch einige politische Akteure überrascht. Namentlich PML-N Chef Nawaz Sharif hatte sich vor den Wahlen bereits zum vierten Mal als Premierminister Pakistans gesehen und auf 110 Sitze seiner Partei im Parlament gehofft. Diese Erwartungen hat seine Partei mit 75 Mandaten klar verfehlt. Zu unbeliebt war die PML-N geführte Koalitionsregierung, die nach dem Misstrauensvotum gegen Premier Imran Khan im April 2022 die Regierungsgeschäfte bis August 2023 geführt hatte. Die Sitzverteilung in der neuen Nationalversammlung gibt keiner Partei ein klares Mandat zur Regierungsbildung. Verhandlungen für eine tragfähige Koalitionsbildung sind notwendig. Es bleibt außerdem abzuwarten, wie sich die zahlenmäßig stärkste Gruppe der unabhängigen Kandidaten positionieren wird. Auch wenn die Mehrzahl dieser Kandidaten bei den Wahlen von der PTI unterstützt wurden, bedeutet das nicht, dass sie im Parlament für die PTI sprechen werden. Bereits jetzt hat es einige Fälle gegeben, in denen gewählte unabhängige Kandidaten ihre Zugehörigkeit zu anderen politischen Parteien erklärt haben.

Politische Spannungen eskalieren: Lange erwartete Wahlen endlich festgelegt

Der lange erwarteten, aber immer wieder verschobenen Wahl war ein aggressives politisches Tauziehen vorausgegangen. Als die Legislaturperiode des letzten Parlaments  im August 2023 endete, hätte es eigentlich verfassungsgemäß innerhalb von 90 Tagen Neuwahlen geben müssen. Aber aufgrund politischer Machtkämpfe, der schlechten wirtschaftlichen Situation und der angespannten Sicherheitslage, war es immer wieder zu Verzögerungen gekommen. Erst am 18. Dezember 2023 war durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofes der Wahltermin am 8. Februar 2024 endgültig bestätigt worden.

Trotzdem wollte weder bei den Parteien noch den Wählern echte Wahlkampfstimmung aufkommen. In einer nicht-repräsentativen Leserumfrage der Tageszeitung Dawn, die am 22. Januar 2024 veröffentlicht wurde, erklärten sich 67% der Dawn-Leser als Anhänger der PTI (Pakistan Tehreek-e-Insaaf) des inhaftierten Ex-Premierministers Imran Khan. Nur 16% unterstützten die etablierten Parteien PML-N (Pakistan Muslim League-Nawaz) und 9,5% die PPP (Pakistan People‘s Party). Außerdem gab es starke Vorbehalte gegenüber der Transparenz und Korrektheit des Wahlprozesses: 89% der Leser waren der Meinung, dass die Wahlkommission nicht genug tue, um freie und fairer Wahlen sicherzustellen. 79% waren nicht mit der Transparenz des Wahlprozesses zufrieden.

Wahlplakat in Pakistan

Wahlplakat in Pakistan

© Birgit Lamm

Bis zwei Wochen vor dem Wahltermin gab es praktisch keine Wahlkampfveranstaltungen, Plakate oder andere öffentliche Werbemittel, die üblicherweise eine Wahlkampagne auszeichnen. Auch die Wahlprogramme der Parteien wurden erst sehr kurzfristig Ende Januar veröffentlicht, spielten aber in den öffentlichen Veranstaltungen und Auftritten der Parteien kaum eine Rolle.

Lediglich die Pakistan Muslim League – Nawaz (PML-N) hatte im Oktober 2023 die Rückkehr ihres Parteiführers Nawaz Sharif aus dem selbstgewählten Exil in London mit einer großen Massenkundgebung in Lahore frenetisch gefeiert. Ansonsten blieb die Stimmung im Land verhalten.

Imran Khans Partei kämpft mit bürokratischen Hürden und Gerichtsentscheidungen

 Die öffentliche Aufmerksamkeit richtete sich vielmehr darauf, wie Ex-Premier Imran Khan´s Partei PTI (Pakistan Tehreek-e-Insaaf) und seinen Kandidaten durch immer neue bürokratische Hürden und Gerichtsentscheidungen die Teilnahme an den Parlamentswahlen erschwert wurde. So hatte die Wahlkommission im Dezember der PTI ihr traditionelles Wahlsymbol eines Cricket-Schlägers (in Anspielung auf Imran Khan´s frühere Karriere als gefeierter Cricket-Star)  ab erkannt. Bei einer Analphabetenrate von rund 40% eine weitere schwere Hürde für den Wahlerfolg seiner Partei. Der inhaftierte Parteiführer Imran Khan selbst konnte an den Wahlen nicht teilnehmen und war in engem zeitlichen Zusammenhang vor den Wahlen Ende Januar noch einmal in drei juristisch fragwürdigen Gerichtsverfahren zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Juristen und Menschenrechtsorganisationen hegen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der eilig ausgesprochen Verurteilungen.

Obwohl PTI weder in den Medien live auftreten noch Wahlkampfveranstaltungen abhalten konnte, konnte sie sich dank einer klugen digitalen Medienstrategie im Gespräch halten und dominierte den politischen Diskurs vor den Wahlen über die sozialen Medien. Auch Internetblockaden konnten gegen diesen Erfolg nicht viel ausrichten.

Da die Partei ihr traditionelles Wahlsymbol nicht nutzen durfte und zahlreichen Kandidaten, die für die Partei kandidieren wollten, von der Wahlkommission aus formalen Gründen nicht zugelassen wurden, traten viele PTI-Vertreter als unabhängige Kandidaten ohne Parteizugehörigkeit an. In Hotlines und über WhatsApp-Gruppen informierte die Partei ihre Anhänger darüber, wer für sie bei den Wahlen antrat.

Netzwerkabschaltung und Verzögerungen bei der Stimmenauszählung lösen Spekulationen aus

Am Wahltag selbst hatten die Behörden im ganzen Land die mobilen Telefon- und Internetnetzwerke „aus Sicherheitsgründen“ abgeschaltet. Unter starken Sicherheitsvorkehrungen fanden die Wahlen statt, aber die Stimmenauszählung nahm viel Zeit in Anspruch. Erst drei Tage nach den Wahlen veröffentlichte die Wahlkommission das offizielle Endergebnis. Die zeitliche Verzögerung bis zur Bekanntgabe des Wahlergebnisses gab bereits Anlass zu Spekulationen über Wahlfälschung und Betrug. In mehreren Städten kam es deshalb bereits zu Ausschreitungen und Protesten. Zahlreiche Wahlkreisergebnisse werden vor Gericht angefochten werden, so dass ein echtes offizielles Endergebnis der 2024-Wahlen wohl erst in einigen Monaten zu erwarten ist.

Pakistan wird noch einige Wochen intensiver Verhandlungen zwischen den politischen Parteien vor sich haben, bei denen viele Überraschungen möglich sind. Auch die Frage, wer der nächste Premierminister Pakistan´s sein wird, ist noch offen. Das aktuelle Tauziehen um die Zugehörigkeit der unabhängigen Kandidaten hat außerdem eine weiterreichende Bedeutung, weil sich die Zuteilung der 60 für Frauen reservierten Sitze und der 10 für religiöse Minderheiten vorgesehenen Sitze in der Nationalversammlung proportional nach der allgemeinen Sitzverteilung ergibt.

Die politische Rhetorik ist nach diesem Wahlergebnis inzwischen merklich gedämpfter. Vertreter von PML-N und PPP betonen die Notwendigkeit der überparteilichen Zusammenarbeit. Die Partei des inhaftierten Ex-Premiers Imran Khan konnte sich trotz massiver Benachteiligungen und administrativer Hürden als starke politische Kraft behaupten. Die Wähler haben mit demokratischen Mitteln etablierten Machtstrukturen und autoritären Denkmustern eine klare Grenze gesetzt. Es bleibt zu hoffen, dass die zukünftigen Mandatsträger diesen Wählerauftrag verstehen und ihren Politikstil modernisieren.