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Parlamentswahl in Indien
Indien vor der Wahl: Wer wird Herrscher über eine Milliarde Menschen?

Frauen in Indien
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Am Freitag startet die Parlamentswahl in Indien, die sich über sechs Wochen erstreckt. Fast eine Milliarde Menschen sind wahlberechtigt. Sie entscheiden über die Zukunft des bevölkerungsreichsten Landes der Welt.

Wie wird in Indien gewählt?

Die Parlamentswahl in Indien ist die größte Demokratieveranstaltung der Welt. Rund 970 Millionen Inderinnen und Inder sind wahlberechtigt. Das entspricht zwölf Prozent der Weltbevölkerung. Die gesamte Europäische Union hat nur halb so viele Einwohner. Die Organisation der Mega-Wahl ist für die Behörden ein logistischer Kraftakt, bei dem rund 15 Millionen Wahlhelferinnen und Wahlhelfer zum Einsatz kommen. So werden die elektronischen Wahlmaschinen auf allen möglichen Transportwegen bis in die entlegensten Gegenden Indiens verschickt.

Aufgrund der Komplexität der Wahl findet die Abstimmung nicht überall gleichzeitig statt. Stattdessen erstreckt sie sich über einen Zeitraum von sechs Wochen. Der erste Wahltag ist der 19. April. An diesem Tag können die Menschen in mehr als 100 Wahlbezirken ihre Stimme abgeben – unter anderem im Bundesstaat Tamil Nadu sowie in Teilen von Maharashtra, Uttar Pradesh und Bihar. Weitere Abstimmungstermine erfolgen am 26. April, sowie am 7., 13., 20. und 25. Mai. Der letzte Wahltag ist für 1. Juni angesetzt. Ausgezählt werden die Stimmen dann am 4. Juni. An dem Tag soll auch das Ergebnis verkündet werden.

Wer wird gewählt?

Die Wählerinnen und Wähler entscheiden in Indien über die Zusammensetzung der ersten Parlamentskammer, der sogenannten Lok Sabha. Gewählt werden 543 Abgeordnete aus ebenso vielen Wahlkreisen mit einer einfachen Mehrheitswahl. Das bedeutet: Die Kandidatin oder der Kandidat mit den meisten Stimmen zieht in das Parlament ein. Ihre Legislaturperiode dauert fünf Jahre, sofern das Parlament nicht vorzeitig aufgelöst wird.

Lok Sabha

Lok Sabha.

© picture alliance/United Archives | WHA

131 der Parlamentssitze – knapp ein Viertel – sind für bestimmte soziale Gruppen reserviert. Dies betrifft hauptsächlich die Scheduled Castes (SCs), auch Dalits genannt, sowie die Scheduled Tribes (STs), Indigene oder Stammesangehörige. Nur Mitglieder dieser Gruppen dürfen in den entsprechenden Wahlkreisen als Kandidaten antreten. Diese Maßnahme zielt darauf ab, die politische Vertretung und Teilhabe historisch benachteiligter Gemeinschaften zu fördern. In Zukunft soll im Parlament auch eine Frauenquote von mindestens 33 Prozent gelten – ein entsprechendes Gesetz wurde im vergangenen Jahr verabschiedet. Bei der aktuellen Wahl gilt die Quote aber noch nicht. Die Reform tritt voraussichtlich erst bei der nächsten Parlamentswahl im Jahr 2029 in Kraft. Derzeit sind nur 14 Prozent der Lok-Sabha-Abgeordneten weiblich.

Wer tritt an?

Bei der Wahl stehen sich zwei große Parteienblöcke gegenüber: Die National Democratic Alliance (NDA) des aktuellen Regierungschefs Narendra Modi, der in Indien seit 2014 regiert und sich bei der Parlamentswahl in diesem Jahr eine dritte Amtszeit sichern möchte.

Plakat von Premierminister Narendra Modi

Ein Wahlplakat von Premierminister Narendra Modi.

© picture alliance / NurPhoto | Indranil Aditya

Die NDA wird von der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) angeführt, der auch Narendra Modi angehört. Die BJP gewann bei der letzten Parlamentswahl eine absolute Mehrheit von 303 Sitzen. Zusammen mit verbündeten Regionalparteien, die zur NDA gehören, kam die Regierungsallianz auf 353 Abgeordnetenmandate.

Herausgefordert wird die NDA vom Oppositionsblock Indian National Developmental Inclusive Alliance (INDIA), zu dem sich die wichtigsten Oppositionsparteien im vergangenen Jahr zusammengeschlossen haben.

Pressekonferenz der Führer der Indian National Developmental Inclusive Alliance (INDIA)

Pressekonferenz der Führer der Indian National Developmental Inclusive Alliance (INDIA) im Constitution Club of India am 24. März 2024 in Neu Delhi.

© picture alliance / Sipa USA | Hindustan Times

Angeführt wird der Block von der Indischen Kongresspartei, Indiens größter Oppositionspartei. Die Kongresspartei stellte mit Jawaharlal Nehru den ersten Regierungschef des Landes nach der Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht und prägte über Jahrzehnte Indiens Politik. Mit Modis Aufstieg verlor sie auf nationaler Ebene aber stark an Bedeutung und kam bei der Wahl 2019 nur noch auf 52 Parlamentssitze.

Differenzen über die Sitzverteilung störten in den Monaten vor der Wahl teilweise die Geschlossenheit des Oppositionsblocks. Die Allianz der Oppositionsparteien hat auch keinen gemeinsamen Spitzenkandidaten für das Premierministeramt ernannt.

Im Gegensatz dazu steht die BJP mit ihren Verbündeten eindeutig hinter Modi, den die Regierungsparteien für fünf weitere Jahre im Amt bestätigen wollen. Umfragen deuten darauf hin, dass ein Wahlsieg der BJP sehr wahrscheinlich ist. Die Parteispitze erwartet erneut eine absolute Mehrheit und hat sich hierbei das Ziel gesetzt 400 Abgeordnetenmandate für die NDA zu sichern. Stark war die BJP zuletzt vor allem im bevölkerungsreichen Norden des Landes. Bei dieser Wahl hat sich Modi zum Ziel gesetzt, auch in den wohlhabenderen südlichen Bundesstaaten zu punkten.

Welche Themen stehen im Vordergrund?

In ihrem Wahlprogramm verspricht die BJP einen Fokus auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze, sowie den Ausbau von Infrastruktur und Sozialprogrammen in Indien. Ausreichend Jobs vor allem für die rund zehn Millionen jungen Inderinnen und Inder zu schaffen, die jedes Jahr neu auf den Arbeitsmarkt kommen, fiel der Modi-Regierung bisher trotz eines starken Wirtschaftswachstums schwer.

Eine Gruppe von Tagelöhnern sitzt auf einem Bürgersteig, während sie am Labour Chowk in Noida auf Arbeit warten

Eine Gruppe von Tagelöhnern sitzt auf einem Bürgersteig, während sie auf Arbeit warten.

© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Pradeep Gaur

Die Arbeitslosigkeit im Land sehen die Wählerinnen und Wähler laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CSDS als die größte Herausforderung, welche die nächste Regierung angehen sollte. Mehr als 60 Prozent der Befragten gaben darin an, dass es während der vergangenen Legislaturperiode schwieriger geworden sei, einen Arbeitsplatz zu finden. Die Bekämpfung der Inflation wurde unter den wichtigsten Anliegen am zweithäufigsten genannt. Modis hindunationalistische-Politik kommt bei den Wählern gut an: Die Eröffnung eines Ram-Tempels auf dem Gelände der 1992 von militanten Hinduistenzerstörten Babri-Moschee in der hinduistischen Pilgerstadt Ayodhya war der Umfrage zufolge die populärste Maßnahme der Regierung.

Die Kongresspartei verspricht in ihrem Wahlprogramm, marginalisierte Gruppen stärker zu unterstützen. Auch sie nimmt dabei das Thema Arbeitsplätze in den Fokus: Benachteiligte Kasten sollen unter anderem bessere Chancen auf Stellen im öffentlichen Dienst erhalten. Zudem verspricht die Oppositionspartei garantierte Mindestpreise für landwirtschaftliche Güter – eine solche Forderung kam zuletzt von Bauern, die bei Protesten auf ihre wirtschaftlichen Probleme aufmerksam machten.

Sind die Wahlen frei und fair?

Indiens Demokratie zeichnet sich nicht nur durch ihre Größe aus – in keinem anderen Staat haben so viele Menschen die Möglichkeit, sich am demokratischen Prozess zu beteiligen – sondern auch durch robuste Institutionen, welche die Regierungsarbeit kontrollieren. Dennoch beklagen Beobachter eine Erosion demokratischer Werte während Modis Regierungszeit. Der "Democracy Index" des "Economist" listet Indien als "mangelhafte Demokratie", die Denkfabrik "Freedom House" bewertet das Land als nur "teilweise frei": "Die Verfassung garantiert die bürgerlichen Freiheiten, einschließlich der Meinungs- und Religionsfreiheit, aber die Schikanen gegen Journalisten, Nichtregierungsorganisationen und andere Regierungskritiker haben unter Modi erheblich zugenommen", beklagt die Organisation.

Wenige Wochen vor der Wahl sorgte die Festnahme eines prominenten Oppositionsführers für Aufsehen: Arvind Kejriwal, Ministerpräsident Delhis und Vorsitzender der Aam Aadmi Party (AAP), steht laut Ermittlungsbehörden unter Korruptionsverdacht.

Studenten der CYSS, des Studentenflügels der Aam Admi Party, während eines Protestmarsches gegen die Verhaftung von Delhis Ministerpräsident Arvind Kejriwal

Studenten der CYSS, des Studentenflügels der Aam Admi Party, während eines Protestmarsches gegen die Verhaftung von Delhis Ministerpräsident Arvind Kejriwal.

© picture alliance / Sipa USA | Hindustan Times

Er bestreitet die Vorwürfe und wirft der Regierung vor, die Strafverfolgungsbehörden zu ihrem eigenen politischen Vorteil zu instrumentalisieren. Die Regierung weist dies wiederum zurück und verweist auf die Unabhängigkeit der Justiz.

Auch die Kongresspartei wirft der Regierung unfaire Methoden vor: Anfang des Jahres wurden in einer Auseinandersetzung mit den Steuerbehörden mehrere ihrer Konten eingefroren. Die Partei fühlt sich davon in ihren Wahlkampfmöglichkeiten stark eingeschränkt. Auch hier bestreitet die Regierung ein politisch motiviertes Vorgehen der Behörden. Welche Sicht auf die juristischen Verfahren zutreffend ist, wurde bisher nicht unabhängig geklärt. Ein Sprecher von UN-Generalsekretär Antonio Guterres teilte mit: "Wir hoffen sehr, dass in Indien, wie in jedem Land, in dem Wahlen stattfinden, die Rechte aller geschützt werden, einschließlich der politischen und bürgerlichen Rechte, und dass jeder in der Lage ist, in einer freien und fairen Atmosphäre zu wählen."

Positiv festzuhalten ist jedoch der demokratische Geist, der mit den Parlamentswahlen einhergeht. So gibt es unzählige Initiativen, welche die Bevölkerung zum Wählen aufrufen und vermehrt Forderungen, um marginalisierte Bevölkerungsgruppen besser in den demokratischen Prozess zu inkludieren. Auch muss festgehalten werden, dass die Wahlen in Indien frei und weitestgehend fair stattfinden. Ein Regierungswechsel wäre also möglich und einige politische Kommentatoren weisen auf Parallelen zu den Parlamentswahlen von 2004 hin, vor denen die damalige BJP-Regierung von Premierminister Vajpayee ebenfalls favorisiert wurde und dann von der Kongress-angeführten Opposition geschlagen wurde.

Dr. Carsten Klein leitet das Regionalbüro Südasien der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Neu-Delhi