EN

Bildungsgipfel
Wer entscheidet über Bildungspolitik?

Klassenzimmer
© picture alliance/dpa | Marijan Murat

„Das deutsche Bildungssystem steckt in einer tiefen Krise“, hatte die Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger in einem Interview mit der Bild am Sonntag erklärt. Der heute beginnende Bildungsgipfel des Bundesministeriums für Bildung und Forschung soll helfen, diese Defizite zu benennen und abzustellen. Spätestens seit der Veröffentlichung des IQB-Bildungstrends im Herbst 2022 ist klar, dass die Krisendiagnose ihre Berechtigung hat: Rund zwanzig Prozent der Viertklässlerinnen und Viertklässler verfehlen die Mindeststandards in den Grundkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen. Doch diese Zahlen sind nur die Symptome einer dramatischen Strukturkrise, in der nicht allein der Fachkräftemangel und die demographische Entwicklung große Herausforderungen darstellen. Gleichzeitig soll die frühkindliche Bildung gestärkt, Ganztagsbildung ermöglicht und zunehmende Heterogenität adressiert werden. Während die Zahlen der Bildungsforschung also einen großen Handlungsbedarf attestieren, stellt sich nicht nur die Frage, was getan werden soll, sondern vor allem, wer eigentlich zuständig ist. Im Folgenden soll daher eine kurze Orientierungshilfe geboten werden.

Eine ausführliche Antwort findet sich im Bildungswesen in Deutschland, einem über tausendseitigen Standardwerk, indem führende Bildungswissenschaftlerinnen und Bildungswissenschaftler Auskunft über „Bestand und Potenziale“ geben. Von den Vereinten Nationen und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung über Bund, Länder und Kommunen bis hin zur Lehrkraft im Klassenzimmer sind unzählige Köche am Menschheitsprojekt Bildung beteiligt. Die Komplexität ist erstmal wenig überraschend, geht es doch letztendlich darum, junge Menschen von der Rassel bis zur Raketenwissenschaft zu begleiten und dabei jene Kompetenzen zu vermitteln, die für die erfolgreiche Navigation innerhalb hochgradig ausdifferenzierter sozialer Systeme notwendig ist. Vor allem in Deutschland ist der Komplexitätsgrad ausgerechnet des Bildungssystems besonders hoch, denn aufgrund historischer Entwicklungen sind die Verantwortlichkeiten breit gestreut.

„Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates“

An erster Stelle steht das Grundgesetz. In Art. 7 Abs. 1 GG: heißt es „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.“ Doch es ist ein Ergebnis von Deutschlands föderaler Entwicklung, dass nicht nur der Bund, sondern auch die Bundesländer „Staatsqualität“ besitzen. Während dennoch viele staatliche Aufgaben mittlerweile zentralisiert worden sind, gilt im Bildungssystem nach wie vor: Schule ist Ländersache. Auch eine kommunale Dimension kommt hinzu. Art. 28 Abs. 2 GG sichert den Gemeinden das Recht zu,  „alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln.“ Im Ergebnis bedeutet dies, dass eine Aufspaltung in „innere“ und „äußere“ Schulangelegenheiten. Die „inneren“ Schulangelegenheiten betreffen letztendlich alles, was im Klassenzimmer geschieht, also beispielsweise die Ausbildung und Zuteilung der Lehrkräfte oder auch die Gestaltung der Lehrpläne. Die „äußeren“ Schulangelegenheiten beziehen sich dagegen auf die äußeren Voraussetzungen wie das Schulgebäude, die Beauftragung von Hausmeisteraufgaben oder auch die Überwachung der Einhaltung der Schulpflicht.

Spätestens seit dem Digitalpakt und der damit verbundenen Grundgesetzänderung hat auch der Bund eine größere Rolle in der (schulischen) Bildungspolitik übernommen, indem er zusätzliche Ressourcen für die Digitalisierung der Schulen und demnächst auch für das Startchancenprogramm bereitstellt. Doch auch über die Hochschulpolitik (Stichwort Lehrkräftebildung), die Bildungsforschung und auch die frühkindliche Bildung, die allerdings beim Bundesfamilienministerium angesiedelt ist, hat der Bund gewisse Hebel (vgl. S. 23 in dieser Ausarbeitung). Das wichtigste Koordinationsgremium ist die Konferenz der Kultusministerinnen und Kultusminister, das sich aus den jeweiligen Vertretern der Länder zusammensetzt – dass mittlerweile auch die Bundesbildungsministerin zu Sitzungen eingeladen wird, ohne dies explizit erbitten zu müssen, ist eine neue Entwicklung und reflektiert womöglich die im Koalitionsvertrag versprochene „neue Kultur der Bildungszusammenarbeit“.

Das größte strukturelle Problem ist die Gliederung des Bildungssektors in unterschiedliche Bereiche

Die Frage, wer über Bildungspolitik entscheidet, lässt sich zwar nicht einfach beantworten, unmöglich ist die Beantwortung grundsätzlich allerdings nicht. Das Subsidiaritätsprinzip, dass es beispielsweise Kommunen ermöglicht, gezielt auf regionale Besonderheiten zu reagieren, ist aus liberaler Sicht durchaus positiv zu bewerten. Was eine Schule benötigt, so lautet die überzeugende Begründung für mehr Schulautonomie, kann im Zweifelsfall eine Schule am besten selbst entscheiden. Auch das umfangreiche Gutachten „Digitalisierung an Schulen“, welche das renommierte MMB-Institut für die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im letzten Jahr erstellt hat, kommt zu ähnlichen Schlüssen: Schulen, Politik und Verwaltung könnten beispielsweise besser zusammenarbeiten, wenn Beschaffungsprozesse über mehr schulische Finanzautonomie vereinfacht würden.

Das größte strukturelle Problem ist allerdings weniger der Bildungsföderalismus als solcher – hier dürfte sich aufgrund der politischen Konkurrenzsituation sowieso schwerlich etwas verändern lassen – sondern die Gliederung des Bildungssektors in unterschiedliche Bereiche, die nur lose miteinander verwoben sind. Frühkindliche Bildung wird beispielsweise von der Bildungsforschung bereits seit langem als Schlüssel für schulischen Erfolg gesehen, in der Regel haben die Kultusministerien damit allerdings wenig zu tun und der Besuch von Bildungseinrichtungen im Elementarbereich ist meist freiwillig. Auch die Ganztagsbetreuung – ab 2026 besteht hierauf sogar ein Rechtsanspruch – passt nicht zum existierenden Geflecht an Zuständigkeiten und kann dem Anspruch „Bildung statt Betreuung“ kaum gerecht werden. Damit der Ganztag gelingt, reicht ein Blick auf die sowieso schon stark in Anspruch genommenen Schulen nicht aus, sondern müssen auch private Initiativen, Vereine und Institutionen miteinbezogen werden. Doch nicht nur der Übergang vom Kindergarten zur Schule, sondern auch beim Übergang von der Schule zum tertiären Bildungsbereich zeigen sich die strukturellen Bruchlinien: So sind die Anforderungen an den Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung von Bundesland zu Bundesland höchst unterschiedlich, was bei der Verteilung der Studienplätze aber kaum berücksichtigt wird.

Spielräume für Entscheidungen auf unterschiedlichen Ebenen

Im Kontext des Bildungsgipfels des BMBF wurde oft diskutiert, ob eine Veranstaltung sinnhaftig ist, wenn die Entscheidungskompetenzen sowieso woanders (und im Zweifel bei den Ländern) liegen. Doch dieser Kritik liegt ein Denkfehler zugrunde: Wie bereits der kursorische Blick auf den filigranen Zuständigkeitsdschungel des deutschen Bildungssystems zeigt, gibt es zwar nicht den einen Ort, an dem alle Entscheidungen über Bildungspolitik getroffen werden. Allerdings gibt es durchaus Spielräume für Entscheidungen auf unterschiedlichen Ebenen – und vor allem für eine Entscheidung zur Zusammenarbeit. Das Startchancenprogramm ist hierfür ein gutes Beispiel: die Schulen, die besondere soziale Herausforderungen bewältigen müssen, sollen gezielt unterstützt werden. Auch der Bildungsforschung kommt eine besondere Rolle zu: Transparenz über Leistungsunterschiede und politische Diskussionen, die von wissenschaftlicher Expertise flankiert werden, können strukturbildend wirken.

Besonders sichtbar war dies in den Diskussionen nach dem PISA-Schock 2001, doch auch der Erfolg von verpflichtenden Sprachkenntniserhebungen mit damit verbundenen verpflichtender Sprachförderung, wie sie beispielsweise in Hamburg praktiziert werden, erhöht den Entscheidungsdruck in anderen Bundesländern. Hier schließt sich dann der Kreis: Der Bildungsgipfel des BMBF wurde an die alle zwei Jahre stattfindende BMBF-Bildungsforschungstagung angeschlossen. Und letztendlich ist es die Bildungswissenschaft, die nicht nur Standardwerke über die verschlungenen Entscheidungswege der Bildungspolitik in Deutschland verfasst, sondern über die Bereitstellung von Wissen über den Erfolg und Misserfolg von Bildungspolitik dazu beiträgt, Anforderungen an Entscheidungsstukturen zu formulieren und damit die unterschiedlichen Akteure zur Zusammenarbeit motiviert.

Verpassen Sie keine Neuigkeiten mehr

Melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an

CAPTCHA