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Algerien
Revolution auf Raten

Algeriens „Mediationspanel“ droht zu scheitern
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Die Algerier protestieren.

© picture alliance / abaca

Acht Jahre nach dem Arabischen Frühling ist Algerien in Aufruhr. Bis Februar hatte Alt-Präsident Abdelaziz Bouteflika noch mit einer Mischung aus Entgegenkommen und Repression 20 Amtsjahre überstehen können. Als jedoch der 82-Jährige ein weiteres Mal für sein Amt kandidieren wollte, war es mit der Geduld der Algerier vorbei. Sie konnten seinen Rückzug im April erzwingen.

Verfassungsgemäß wurde ein Interimspräsident eingesetzt: Abdelkader Bensalah. Dessen 90 Tage Interregnum sind am 9. Juli abgelaufen – ohne dass er, wie von der Verfassung vorgesehen, Neuwahlen hätte abhalten können: Für die am 4. Juli vorgesehenen Wahlen kandidierte niemand. Somit musste der Wahltermin annulliert werden. Das von ihm eingesetzte „Mediationspanel“ hat keine Vertreter der Opposition in seinen Reihen und konnte bislang seiner Aufgabe des Dialogs nicht nachkommen.

Der Leiter Karim Younes, ein Ex-Minister der alten Regierung, der für die blutige Niederschlagung von Protesten im Jahr 2001 eine Mitverantwortung trägt, hatte vergeblich versucht, das Panel zu erweitern und Vertreter der Protestbewegung aufzunehmen. Diese setzt sich konsequent für einen Regierungswechsel ein und fordert den Rücktritt aller hohen Amtsträger aus der Ära Bouteflika. Als weitere Bedingung für ein Gespräch mit den Mediatoren sollen alle politischen Gefangenen freigelassen werden, vor allem diejenigen, die im Zusammenhang mit den Protesten stehen. Auf der Suche nach Legitimität bei den Regierungsgegnern hat sich das Mediationspanel dieser Forderung angeschlossen und zudem die Aufhebung von Sicherheitsmaßnahmen während der Freitagsdemonstrationen verlangt. 

Ausgleich gescheitert

Generalstabschef Ahemd Gaid Salah hatte anfangs mit der Bewegung sympathisiert. Mittlerweile, als der starke Mann des Landes, hat er deren Forderungen als „vergiftete Ideen“ bezeichnet. Damit wäre der Ausgleich zwischen Regierung und Protestbewegung gescheitert – und letztere wieder am Ausgangspunkt angelangt; allerdings mit einem inzwischen klar gegen sie gerichteten Militär. Zwei Mitglieder des Panels sind bereits zurückgetreten. Dennoch erwartet Chef-Mediator Younes bis Ende dieser Woche konkrete Antworten und Schritte. Das Panel will in jedem Fall den Dialog weiterführen und mit den Parteien und Vertretern der Zivilgesellschaft sprechen. „Ein Scheitern wäre tödlich für das Land. Für uns ist es undenkbar, zu scheitern“, heißt es im Umfeld der Mediatoren. 

Die Proteste sind vor allem durch die Teilnahme von jungen Bürgern gekennzeichnet. Mehr als ein Viertel der 43 Millionen Algerier ist unter 15 Jahre alt, knapp die Hälfte unter 25. Die Hauptträger der Proteste haben somit das „Schwarze Jahrzehnt“ (1991–2001) des Bürgerkriegs gegen die Islamisten mit etwa 350.000 Toten selbst nicht erlebt. Sie sind demnach wagemutiger als ihre Väter. Wirtschaftlich ist das Land vorwiegend von Öl- und Gas-Einnahmen abhängig (mehr als 60 Prozent).

Typische Auswirkungen eines Rentierstaates sind Korruption, Nepotismus und überbordende Bürokratie. Die daraus entstandenen Klientels konnten bei sinkenden Öl- und Gasverkäufen nicht mehr zufriedengestellt werden – auch nicht auf Pump: Seit 2014 stieg die öffentliche Verschuldung von 7,6 Prozent des BIP auf 25,8 Prozent (2017).

Vermeidung jeder Form der Destabilisierung

Für die Jugend geht es aber um mehr: um Freiheit, Partizipation und ihre Zukunft. Das Scheitern in anderen arabischen Ländern vor Augen lässt sich diese „Arabellion 2.0“ weder vom Westen noch von Islamisten vereinnahmen. Auch Algeriens Nachbarn Tunesien und Marokko halten sich derzeit auffallend zurück. Sie fürchten etwaige Auswirkungen, zum Beispiel Flüchtlingsströme und die moralische Stärkung der eigenen unzufriedenen Bevölkerung.

Und während Frankreichs Gelbwesten Teile von Paris in Schutt und Asche gelegt haben, erwiesen sich Algeriens Aktivisten als äußerst friedfertig und reinigten sogar anschließend die Straßen. Schließlich vermeiden die Demonstranten jede Form der Destabilisierung wie auch jeden Vorwand für das Militär, „Sicherheit und Ordnung“ herzustellen und damit aber vor allem die eigene Herrschaft zu sichern.

Gleichzeitig akzeptieren sie keine Entscheidung der politischen Führung, da sie diese seit Anfang der Proteste als nicht mehr legitim ansehen und seit dem 9. Juli auch nicht mehr als legal: Denn eine Verlängerung der Mandatszeit des Interimspräsidenten durch den Verfassungsrat, wie geschehen, sieht die Verfassung nicht vor. Das Land befindet sich in einer verfassungsrechtlichen Grauzone. Die Protestbewegung beharrt jedoch ohnehin auf einem Ende des Systems inklusive der bestehenden Verfassung. Insofern dürfte der 23. Protestfreitag nicht der letzte gewesen sein – nur dieses Mal mit verhärteten Fronten.

 

Olaf Kellerhoff ist Projektleiter Marokko/Algerien der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

Abdelkader Bensalah: Ein Kurzporträt

Verfassungsgemäß hat am 9. April 2019 das algerische Parlament den Präsident des Nationalrates Abdelkader Bensalah als Interimspräsidenten Algeriens für 90 Tage bestätigt. Dieses Interregnum lief am 9. Juli ab. Der 77-Jährige hätte nun Neuwahlen innerhalb dieser Frist organisieren müssen (er darf dabei nicht selbst kandidieren). Dies ist ihm nicht gelungen und streng genommen steht Algerien jetzt ohne Präsidenten da, auf den jedoch die Verfassung zugeschnitten ist. Die Demonstrationen der Demokratiebewegung hatten diesen verfassungsmäßigen Fortgang und Bensalah jedoch ohnehin nicht akzeptiert. Für sie ist er ein Produkt des Systems, dessen Wechsel sie anstreben. 

Seit 2002 steht Abdelkader Bensalah dem Nationalrat oder auch Senat vor. Nach dem Schlaganfall des Ex-Präsidenten Abdelaziz Bouteflika im Jahr 2013 war vor allem er das Gesicht der Regierung im In- und Ausland. Er gründet mit einigen anderen Politikern im Jahr 1997 die Regierungspartei Nationale Demokratische Sammlung (Rassemblement National Démocratique, RND) und war zwei Mal deren Generalsekretär. Die RND ist konservativ ausgerichtet und wird von Bürokraten und Autokraten bestimmt. Ebenso gilt Bensalah als treu und diskret dienender Funktionär des Systems ohne rednerisches Talent oder Überzeugungskraft. „Im gegebenen Moment nützlich sein, ist das, was er kann. Selten äußert er sich zu Fragen der Staatsführung“, urteilte die algerische Tageszeitung Al Watan (Das Vaterland) bereits 2015. 

Ebenso wie Ex-Präsident Bouteflika soll Bensalah marokkanischen Ursprungs sein. Geboren am 24. November 1941 in der Region Tlemcen (im westlichen Algerien nahe der marokkanischen Grenze) als Sohn marokkanischer Eltern soll er erst 1964/65 die algerische Staatsbürgerschaft angenommen haben. In den Augen seiner Gegner disqualifiziert ihn dies von der Interimspräsidentschaft und von einer Präsidentschaft. Genau deswegen, so behauptet Bouteflika-Biograf Mohamed Sifaoui (Bouteflika, ses parrains et ses larbins, 2011), habe Bouteflika ihn zum Nationalratspräsidenten gemacht – um einen „medizinischen Staatsstreich zu verhindern“. 

Mit 18 Jahren hatte sich Bensalah der algerischen Befreiungsarmee gegen die französische Kolonialherrschaft angeschlossen. Nach der Unabhängigkeit 1962 erhielt er ein Stipendium und studierte Rechtswissenschaft in Damaskus. 1967 zurück in Algerien arbeitete er in der Redaktion der arabischen Tageszeitung El-Chaab (Das Volk), das damals unter staatlichem Pressemonopol herauskam. Innerhalb der Staatspresse machte er weiter Karriere, wurde unter anderem Auslandskorrespondent. Von 1970 bis 1974 leitete er das Algerische Zentrum für Information und Kultur in Beirut.

1977 wurde er Abgeordneter. Zwei Mal wiedergewählt ist er zudem zehn Jahre lang Mitglied der Parlamentarischen Kommission für Auswärtige Angelegenheiten. Schließlich wurde er 1989 zum Botschafter in Saudi-Arabien und gleichzeitig der Organisation der Islamischen Konferenz ernannt, um ab 1993 als Sprecher des Außenministeriums zu fungieren. Von 1994 bis 1997 war er Präsident des Nationalen Übergangsrats, der nach dem Abbruch der Wahlen 1992 aufgrund des sich abzeichnenden Wahlsiegs der Islamisten, die Funktion eines Parlaments – wenn auch ohne Wahl übernahm. Von 1997 bis 2002 fungierte er als Präsident der Nationalen Volksversammlung, bevor er bis heute dem Nationalrat vorstand.