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Lehren für Deutschland? Mut zum Experiment!

Einwanderungsmodelle im internationalen Vergleich und was Deutschland davon lernen kann

Deutschland spielt aktuell als Zielland von Zuwanderern in einer Liga mit den traditionellen Einwanderungsländern USA, Kanada, Australien und Neuseeland. Dabei gelingt es insbesondere den Punktesystemen in Kanada, Australien und Neuseeland seit Jahrzehnten, eine per Quotierung oder Planungsziel dosierte Zahl ausgewählter Fachkräfte aus dem Ausland dauerhaft für den eigenen Arbeitsmarkt zu gewinnen. Obwohl sich die Punktesysteme generell ähneln, sind die Steuerungsinstrumente in den jeweiligen Ländern durchaus unterschiedlich.

Es stellt sich die Frage, was funktioniert hier bereits gut und welche Lehren kann Deutschland aus den Erfahrungen anderer Länder ziehen? Im Rahmen des Gutachtens "Fachkräfte gewinnen - Konzept für eine aktive deutsche Zuwanderungspolitik", haben sich die Autoren Holger Hinte (IZA) und Dr. Ulf Rinne (IAZ) , verschiedene Auswahlsysteme einmal genauer angeschaut: 

KANADA : Express Entry für Fachkräfte und Poolzugriff für Unternehmen

Seit 2015 ist allen Visaprogrammen für dauerhafte Arbeitsmigration das System Express Entry vorgeschaltet, das in Kombination mit einem Comprehensive Ranking System (CRS) einen Pool an Einwanderungsinteressierten schafft. Im Express-Entry-Pool erhält jeder Teilnehmer im ersten Verfahrensschritt eine Punktzahl entsprechend der individuellen Eigenschaften (Alter, Qualifikation, Sprachkenntnisse). Zusätzlich gibt es Punkte für Arbeitsplatzangebote, frühere Arbeitserfahrung in Kanada oder behördliche Nominierungen.

In der zweiten Verfahrensetappe verschickt die kanadische Immigrationsbehörde unregelmäßig (im Durchschnitt des Jahres 2015 etwa alle 16 Tage) Einladungen an die jeweils Besten innerhalb des Pools, sich mit vollständigen Unterlagen auf ein entsprechendes Visum zu bewerben. Einer der wesentlichen Vorteile des derzeitigen kanadischen Systems ist der Zeitfaktor. Im ersten Jahr nach Einführung von Express Entry dauerte der Prozess für 80 Prozent der Bewerber im Federal Skilled Worker Program weniger als fünf Monate.

AUSTRALIEN : Gezielte Zuwanderung in Mangelberufe

Wie in Kanada gibt es auch in Australien ein System für Fachkräfte, das dem eigentlichen Visumsantrag vorgelagert und zweistufig gestaltet ist. Interessenten müssen zunächst über das Online-Portal SkillSelect eine Absichtserklärung abgeben. Die Bewerber ermitteln online die für sie in Frage kommende Visumsart und nehmen per Eingabe ihrer Daten an einem automatisierten Vorab-Punktetest teil. Natürlich erreicht auch im australischen Punktesystem eine bessere Bewertung und Erfolgschance, wer über eine höherwertigere Ausbildung und längere Berufserfahrung verfügt.

Um zu erreichen, dass keine Einwanderung am Arbeitsmarktbedarf vorbei stattfindet, führt Australien umfangreiche Mangelberufslisten. Das Gesamtsystem einschließlich der Mangelberufslisten und der zugehörigen Kontingente wird ständig wissenschaftlich begleitet und hinsichtlich seiner Zielgenauigkeit evaluiert.

NEUSEELAND : Vorbildliches Online-Portal

Neuseeland hat nur zwei Jahre nach Australien im Jahr 1991 ein Punktesystem für qualifizierte Einwanderer etabliert. Als erster Schritt auf dem Weg zum Skilled Migrant Category Resident Visa ist – wie in Australien – eine Expression of Interest erforderlich. Sie enthält das vorläufige Punkteergebnis basierend auf den Angaben des Bewerbers. Neben den Humankapitalpunkten gibt es Zusatzpunkte für Interessenten, die bereits in Neuseeland arbeiten oder aber ein Arbeitsplatzangebot bekommen haben. 

Alle zwei Wochen findet eine Ziehung der jeweils besten Bewerber aus diesem Pool statt und die entsprechenden Interessenten werden zur Abgabe ihrer eigentlichen Bewerbung eingeladen. Im Anschluss findet behördlicherseits die eigentliche Punktevergabe statt. Eine Möglichkeit für Arbeitgeber, auf diesen Pool zuzugreifen, besteht ausdrücklich nicht. Im Jahr 2003 hat Neuseeland als erstes Einwanderungsland ein Portal eingeführt, um Online-Bewerbungen für permanente Erwerbsmigration zu ermöglichen. Das Land verfügt von der hier betrachteten Staaten derzeit über das mit Abstand transparenteste und intuitivste Online-Portal.

GROßBRITANNIEN : Das Punktsystem vor dem Aus?

Auch das Vereinigte Königreich nutzte bislang ein Punktesystem innerhalb seines Einwanderungsrechts. Mit dem „Brexit“-Votum vom 23. Juni 2016 dürfte dieses System jedoch vor einer gründlichen Revision oder seiner Abschaffung stehen.

Das noch geltende Zuwanderungssystem Großbritanniens für Drittstaatangehörigen ist in fünf Gruppen (Tiers) unterteilt. Tier-1-Visa können neben Unternehmern und Investoren auch überragend qualifizierten Migranten für eine Laufzeit von zunächst fünf Jahren erteilt werden. Tier-2-Visa sind allgemeiner für Fachkräfte vorgesehen. Tier-3-Visa war für Arbeiter gedacht, ist aber seit Jahren ausgesetzt. Tier-4-Visa ist ein Visum für Studenten, Tier-5-Visa eines für zeitlich befristete Aufenthalte. Großbritannien behält bislang eine rigorose Trennung zwischen Asyl und Einwanderung bei: Weder besteht die Möglichkeit eines Statuswechsels vom Asylantrag zu einer Bewerbung als Zuwanderer, noch haben Asylsuchende im ersten Aufenthaltsjahr Zutritt zum Arbeitsmarkt. Der derzeitige Stand des britischen Migrationssystems kann vor diesem Hintergrund nicht mehr als relevant für die deutsche Diskussion angesehen werden.

Österreich  : Rot-Weiß-Rot-Karte in der Bewährungsprobe

Seit Juli 2011 gilt in Österreich eine reformierte Zuwanderungsgesetzgebung, als deren fester Bestandteil eine „Rot-Weiß-Rot-Karte“ (RWR-Karte) ausgegeben werden kann. Bei deren Vergabe greift in einem mehrsäuligen Verfahren ebenfalls ein Punktesystem. Analog zur Blauen Karte EU handelt es sich bei der RWR-Karte nicht um eine permanente Aufenthaltsgenehmigung. Sie erlaubt es Fachkräften in Mangelberufen (derzeit elf erfasste Berufe, v. a. Gesundheitsfachkräfte, Techniker und Ingenieure) und „drittstaatsangehörigen Personen, die auf Grund ihrer Qualifikationen eine Stelle als Schlüsselkraft in einem Unternehmen einnehmen sollen“, für zunächst zwölf Monate in Österreich zu leben und zu arbeiten.

Hervorzuheben ist, dass Österreich innerhalb seiner Punktesysteme einen grundsätzlich plausiblen Weg beschreitet, die Sprachbarriere als Zuwanderungshemmnis zu beseitigen: Bei der Zielgruppe der besonders Hochqualifizierten (Arbeitsplatzsuche) werden Deutsch- und Englischkenntnisse gleichrangig mit (niedriger angesetzten) Punkten bewertet. Im Falle von Fachkräften in Mangelberufen und sonstigen Schlüsselkräften können schwächere Deutschkenntnisse durch bessere Englischkenntnisse aufgewogen werden. 

FAZIT: Und was kann Deutschland daraus lernen?

Unaufgeregtes Selbstbewusstsein im Umgang mit der eigenen Position als Einwanderungsland – das ist es vor allem, was Deutschland aus der Betrachtung der Auswahlverfahren für Zuwanderer in den traditionellen Einwanderungsländern lernen kann. Die dort praktizierten Punktesysteme ähneln sich in ihren Grundzügen, setzen aber landesspezifische Akzente, die auf die jeweiligen Rahmenbedingungen abgestimmt sind. Modelle, die ein vorhandenes Arbeitsplatzangebot besonders stark prämieren oder zur Grundvoraussetzung erheben, stehen neben Konzepten, die allgemeinen Humankapitalaspekten ein höheres Gewicht verleihen oder beide Ziele versuchen in Einklang zu bringen.