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Hildegard Hamm-Brücher

Die 1921 in Essen geborene Hildegard Hamm-Brücher erlebte schon als Jugendliche gewaltige persönliche Zäsuren, die ihr Leben erheblich bestimmen sollten. Zunächst aber wuchs sie mit vier Geschwistern im bildungsbürgerlich geprägten Berlin-Dahlem auf und hatte – nach eigener Erinnerung – eine unbeschwerte Kindheit. Der Vater, Paul Brücher, war Jurist und leitete die Berliner Niederlassung eines Elektrounternehmens, die Mutter Lilly stammte aus
einer wohlhabenden, zum Protestantismus konvertierten und assimilierten, ehemals jüdischen Dresdner Familie. Die religiöse Orientierung erfuhr Tochter Hildegard beim – später zur „Bekennenden Kirche“ gehörenden – Dahlemer Pfarrer Martin Niemöller. Die Erziehung, so überliefert es Hamm-Brücher, war offen und freiheitlich, das Elternhaus politisch eher nationalliberal geprägt, wobei über Politik vor den Kindern nicht gesprochen wurde. Ihre Eltern starben
kurz nacheinander, der Vater 1931, die Mutter ein knappes Jahr später – damit „war unsere Kindheit zu Ende“, resümierte Hamm-Brücher das traumatische Geschehen dieses Lebenseinschnitts.


Die Geschwister – nunmehr Vollwaisen – zogen zur Großmutter mütterlicherseits nach Dresden, eine von Hamm-Brücher als „einsam“ empfundene Zeit. Zudem nahm der nationalsozialistische Druck auf die Familie und ihren Alltag zu: Nach den Nürnberger Gesetzen 1935 galt Hamm-Brücher als so genannte „Halbjüdin“; der wachsenden Ausgrenzung konnte sie 1937 zunächst durch einen Wechsel an den Bodensee auf das Internat Schloss Salem entfliehen. Allerdings war dieses – wie sie es betont – „Stück unbeschwerter Jugend“ nur von kurzer Dauer, weil auch Salem von der Gleichschaltung betroffen war. Das Abitur legte sie dann 1939 an einem Konstanzer Mädchengymnasium ab. Den anschließenden Reichsarbeitsdienst konnte sie verkürzen, indem sie das als kriegswichtig eingestufte Chemiestudium in München aufnahm. Und auch dieses Studium wurde nur möglich, weil der Leiter des Instituts, der Nobelpreisträger Heinrich Wieland, seine Studentin und etliche andere seiner Schüler schützen konnte. Dem intensiven Studium folgte die Promotion über „Hefemutterlaugen bei der Ergosterin-Gewinnung“, eine Forschungsarbeit, die sie im März 1945 unter schwierigen Bedingungen – die Labore waren bereits teilweise zerstört – erfolgreich abschloss.


Überschattet waren diese Jahre durch weitere Zäsuren: Die Familie wurde auseinandergerissen, und als sich ihre Großmutter 1942 das Leben nahm, weil die Deportation nach Theresienstadt bevorstand, verlor Hamm-Brücher „den letzten Rest von Geborgenheit“. Als Schlüsselereignis für ihr späteres Leben empfand sie die Verhaftung und Ermordung einiger ihrer Bekannten im Februar 1943, die zum Widerstandskreis der „Weißen Rose“ gehörten.


Zwar war die junge Studentin in keine konspirativen Gespräche oder Handlungen einbezogen, doch prägte das Geschehen sie nachhaltig: „Die Erschütterung über ihren Opfertod hat mein Leben und Denken fortan bis heute bestimmt und mich nach 1945 unausweichlich in die Politik geführt. Zeitlebens wollte ich mich für die Freiheit und Würde des Menschen einsetzen.“


Mit der Frage nach dem Widerstand und den eigenen Möglichkeiten in der Zeit der NS-Diktatur rang sie anhaltend. Aus ihren Erfahrungen leitete sie später eine unbedingte Pflicht zum politischen Engagement, zur Einmischung und persönlichen Gewissensbefragung ab.