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Verfassungskonvent von Herrenchiemsee 1948
Der 10. August 1948 - Beginn der Demokratiegeschichte im Nachkriegsdeutschland

Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 10.-23. August 1948

Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 10.-23. August 1948

© picture-alliance / dpa | dpa

Am 10. August 1948, vor 75 Jahren, begannen die Beratungen des Verfassungskonvents auf der Insel Herrenchiemsee, der von den Ministerpräsidenten der 11 westlichen Länder eingesetzt wurde. In nur 14 Tagen erarbeiteten Politiker und Juristen – Frauen waren nicht vertreten - einen Entwurf für eine Verfassung für ein demokratisches Deutschland.  Es war der Auftrag der westlichen Besatzungsmächte, das Fundament für einen Neuanfang zu schaffen, drei Jahre nach Kriegsende.

Es war der Beginn der deutschen Demokratiegeschichte, Herrenchiemsee ist ein wichtiger Ort der Demokratiegeschichte in Deutschland.

Auf den Trümmern des Verfalls jeglicher Moral und Menschlichkeit aus fanatischer Rassenideologie, die Millionen Menschen ihre Würde absprach, berieten die Mitglieder des Konvents. Sie wollten Deutschland nach dem Scheitern von Weimar eine zweite Chance für die Demokratie geben.

Sie legten dem Parlamentarischen Rat einen Entwurf vor, der sich mit 149 Artikeln sehen lassen konnte und der Nucleus des Grundgesetzes wurde, das am 23. Mai 1949 mit Zustimmung der Alliierten verkündet wurde. Das als Provisorium gedachte Grundgesetz entwickelte sich zu einem stabilen Fundament der Bundesrepublik Deutschland und machte sie zu einem demokratischen Verfassungsstaat.

Der Obrigkeitsstaat wurde mit dem Grundgesetz abgeschafft. „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“, das war eine Grundvorstellung der Verfassungsberatungen im Konvent, die dann in die rechtsverbindliche Formulierung des Artikels 1 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG) mündete, wonach die Menschenwürde eines jeden unantastbar ist. Diese mit Ewigkeitsgarantie ausgestattete Zentralnorm des Grundgesetzes war eine Antwort auf die millionenfache Verletzung der Menschenwürde während des NS – Regimes.

Es spielte bei den Beratungen im Konvent deshalb auch die Gewaltenteilung, eine unabhängige Justiz als Garant eines funktionierenden Rechtsstaates und die Kontrolle von Regierungshandeln eine wichtige Rolle.

Vor dem Hintergrund des aktuellen Streits in Israel um die Bedeutung der Justiz als unverzichtbare Institution der Demokratie muss die Weitsicht des Konvents betont werden, der Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter Verfassungsrang einzuräumen. Mit einfacher Mehrheit wie in Israel, wo es keine geschriebene Verfassung gibt, können die Kernelemente der Justiz in Deutschland nicht verändert werden.

Es sollten mit der Verfassung die Lehren aus dem Versagen der Demokraten und dem Erfolg der nationalsozialistischen Populisten gezogen werden, zu deren Erfolgsrezept die Hetze gegen Andersdenkende und Andersgläubige gehörte. Der Selbstentmachtung und Selbstauflösung des Parlaments wurden Riegel vorgeschoben und die fundamentalen Säulen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung mit einer sogenannten Ewigkeitsgarantie gesichert. Das heißt, dass auch mit einer Zweidrittelmehrheit die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die Gewaltenteilung und die Rechtsstaatsgarantie nicht aufgehoben werden können. Zum Schutz der Demokratie gingen der Konvent und der Parlamentarische Rat noch andere Wege: So bedroht das Grundgesetz auch Vereinigungen (Art. 9 Abs. 2) und Parteien (Art. 21 Abs. 2) mit Verbot, die gegen die freiheitliche Grundordnung gerichtet sind. Das ist ein scharfes Schwert in einer Demokratie, die Parteien zur Meinungsbildung und zu den Wahlen braucht. Es hat bis heute nur zwei Parteienverbote gegeben.

 

Kein anderer Begriff als die Freiheit steht so im Zentrum unserer Verfassung. Das Grundgesetz garantiert ein Leben nach eigener Fasson. Im Rahmen von Regeln, die ein funktionierendes Gemeinwesen braucht. Aber eben auch selbstbestimmt und sehr weitgehend gelöst von gesellschaftlichen Zwängen. Ein jeder, eine jede kann das Leben so planen und umsetzen, wie es gefällt. Das ist das größte Verdienst des Grundgesetzes.

Aber auch die beste Verfassung schützt nicht vor Feinden der Demokratie und der offenen Gesellschaft.   Das zeigt die aktuelle Entwicklung auch in Deutschland.  Besonders Rechtsextreme, sog. Reichsbürger, Rechtspopulisten und Verschwörungsanhänger bekämpfen unter anderem die Unantastbarkeit der Menschenwürde, unabhängig von Abstammung, Herkunft, Religion, geschlechtlicher Orientierung und politischer Auffassung und gestehen sie nur den gebürtigen Deutschen zu.

Um so wichtiger ist es, immer wieder aufzuzeigen, wohin diese völkische Gesinnung Deutschland mit der Machtergreifung der Nazis geführt hat. Zu Ausgrenzung, Demütigung, Gewalt und massenhafter Verletzung der Menschenwürde.

Demokratie muss gelebt und verteidigt werden. Täglich. Und dazu muss man sich ihres Wertes bewusst sein. Denn sie ist nicht die Herrschaft der Mehrheit, die auch zur Diktatur und Unterdrückung führen kann. Sie ist das gleichberechtigte Miteinander selbstbestimmter Menschen, die Freiheitsrechte haben und nach parlamentarisch legitimierten Regeln, die diese Grundrechte einhalten, leben.

Sehen wir die Gefahren für unsere Demokratie heute. Bringen wir uns ein. Lassen wir den Demokratiefeinden keinen Raum.

Das ist der Auftrag der am 10. August 1948 begonnenen Beratungen des Konvents für unsere bis heute gültigen Verfassungsgrundlagen.

Die Beratungen wurden angesichts der Berlin-Blockade durch die sowjetische Besatzungsmacht von der Gefahr eines Dritten Weltkriegs begleitet. Es verwundert deshalb nicht, dass das Grundgesetz damals eher auf wenig Interesse, ja fast Teilnahmslosigkeit in der Bevölkerung stieß. Die Menschen hatten andere Sorgen, ging es doch um das tägliche Überleben in den vier Besatzungszonen. Die Angst vor der Zukunft beherrschte den Alltag, der von Anweisungen der Militärgouverneure bestimmt wurde. Das Interesse der Bürgerinnen und Bürger für die Grundlagen einer demokratischen und offenen Gesellschaftsform stand nicht so sehr im Vordergrund, wie man rückblickend angesichts der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen im „Dritten Reich“ hätte erwarten können. Die Faszination demokratischen Lebensgefühls entfaltete sich noch nicht.

Viele Menschen im zerstörten Deutschland konnten sich wohl auch gar nicht vorstellen, was es bedeutete, selbstbestimmt in einem demokratisch verfassten Rechtsstaat mit von Parteien unabhängigen Institutionen zu leben. Auch auf die nachfolgend kurz dargestellten drei Schwachstellen der Weimarer Verfassung, die entscheidend die Machtübernahme der Nationalsozialisten ermöglicht und insofern maßgeblich zum Scheitern der Weimarer Republik beigetragen haben, hat das Grundgesetz eine Antwort gegeben und sie nicht mehr aufgenommen (und folgende Regelung vorgesehen).

Ganz oben auf der Liste der Schwachstellen steht der berühmt-berüchtigte Artikel 48 WRV, dessen Absatz 2 folgendermaßen lautet: „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgelegten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.“ Mit dieser auch Diktatur des Reichspräsidenten genannten Bestimmung war der Reichspräsident also ermächtigt, den Reichstag, das demokratisch gewählte Parlament, als ordentlichen Gesetzgeber zu umgehen und mit Not- oder Diktaturverordnungen einzelne oder mehrere Grundrechte teilweise oder vollständig außer Kraft zu setzen. Auf diese Ermächtigung hätte nur im Ausnahmezustand, also bei erheblichen Störungen oder Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zurückgegriffen werden dürfen. Tatsächlich wurde von ihr aber im Zeitraum von Oktober 1919 bis Dezember 1932 sage und schreibe 254-mal Gebrauch gemacht.

Eine zweite Schwachstelle der Weimarer Verfassung war die in ihrem Artikel 25 festgelegte Befugnis des Reichspräsidenten, den Reichstag aufzulösen. Und eine dritte bestand darin, dass verfassungsändernde Gesetze zu ihrer Verabschiedung zwar einer Zweidrittelmehrheit des Reichstags bedurften, diese notwendige Zweidrittelmehrheit aber nicht die Zweidrittelmehrheit aller, sondern nur die der an der Sitzung teilnehmenden, also anwesenden Abgeordneten sein musste.

Es waren solche und ähnliche Schwächen der Weimarer Verfassung, die der Oberpropagandist der Nazis, Joseph Goebbels, im Auge hatte, als er bereits im April 1928 in dem von ihm herausgegebenen NSDAP-Kampfblatt „Der Angriff“ in aller Offenheit ankündigte: „Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. (...) Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache. (...) Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafsherde einbricht, so kommen wir!“

Genau das sollte das Grundgesetz künftig verhindern. Es hat die Demokratie in Deutschland bis heute stabilisiert. Aber auch heute wollen ihre Feinde sie von innen zerstören. Deswegen ist es entscheidend sich mit dem Auftrag des damaligen Konvents diesen Feinden zu stellen. Unsere liberale Demokratie kann am Ende nur weiterleben, wenn wir sie leben und wehrhaft verteidigen."

 

Dieser Beitrag erschien erstmals in gekürzter Fassung am 10. August 2023 beim Münchner Merkur.