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Bildungsgipfel
Auf dem Weg zur bildungspolitischen Trendwende

Bettina Stark-Watzinger (FDP)

Bettina Stark-Watzinger (FDP), Bundesministerin für Bildung und Forschung, spricht beim Bildungsgipfel

© picture alliance/dpa | Christophe Gateau

Bereits in den ersten Sätzen ihrer Eröffnungsrede spricht Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger eines der zentralen Probleme des deutschen Bildungswesens an: 630.000 junge Menschen befinden sich weder in Schule, Ausbildung oder einem Arbeitsverhältnis. Die Zahl der sogenannten NEETs („not engaged in education, employment or training“) ist eine der wichtigsten Kennziffern für die Performanz des Bildungssystems, denn eigentlich soll die Schule auf einen gelungenen Start ins Erwachsenenleben vorbereiten. Bei mindestens 45.000 Schülerinnen und Schülern, die jedes Jahr die Schule ohne mindestens den ersten Schulabschluss verlassen, wird dieses Ziel klar verfehlt. Doch auch anderswo zeigen sich die gravierenden Probleme im deutschen Bildungswesen: Lehrkräftemangel mangelhaft umgesetzte Inklusion und ein dramatischer Leistungsrückstand bereits bei den Grundschülern sind nur drei Einträge im Hausaufgabenheft der Bildungspolitik.

Die 6. Bildungsforschungstagung des BMBF, die politisch durch zwei Paneldiskussionen im Rahmen des „Bildungsgipfels“ aufgewertet wurde, hatte sich zum Ziel gesetzt, nicht nur die Herausforderungen klar zu benennen, sondern auch Wege für eine bessere Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Akteuren aufzuzeigen: „Wir brauchen eine bildungspolitische Trendwende, beginnen wir sie doch gemeinsam“, erklärte die Ministerin hierzu schlüssig. Dass der Gordische Knoten dabei nicht auf einmal zerschlagen werden könnte, war allen Beteiligten bereits im Vorfeld klar, schließlich erfordern die verschachtelten Verantwortlichkeiten stetigen Dialog und Verhandlung. Ein wichtiger Fortschritt im Vergleich zu vergangenen Legislaturperioden ist allerdings bereits die stehende Einladung an die Bundesbildungsministerin zu den Sitzungen der Kultusministerkonferenz, die zweifelsohne der zentrale Ort für die föderale Bildungszusammenarbeit ist und am heutigen Donnerstag tagt.

 

Testleistungen der Schülerinnen und Schüler schon vor der Corona eingebrochen

Ludger Woessmann bereits im Oktober 2021 nachgezeichnet hatte, waren die Testleistungen der Schülerinnen und Schüler schon vor der Corona eingebrochen: 60 % des Fortschritts nach PISA ist wieder verpufft, heute dürften es noch deutlich mehr sein. Dass der Bildungsgipfel von der Frage, welche Kultusministerinnen und Kultusminister teilnehmen würden, überschattet wurde, ist insofern bedauerlich. Gleichzeitig gilt, wie auch der Hamburger Bildungssenator Ties Rabe festhielt, dass "jeder hat an seinem Platz genug Möglichkeiten [hat], um voranzukommen. "Statt über eine neue Föderalismusreform zu brüten, ist es daher zielführender, Projekte in den Blick zu nehmen, die tatsächlich neue Wege aufzeigen. Dass der Bildungsgipfel von manchen Medienvertretern auf bildungsföderale Strukturfragen reduziert wurde, entspricht daher nicht unbedingt dem Geist des Koalitionsvertrags, der einen Bildungsgipfel benannt hatte, „auf dem sich Bund, Länder, Kommunen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft über neue Formen der Zusammenarbeit und gemeinsame ambitionierte Bildungsziele verständigen.“ Wenn man hierunter keine Föderalismusreform, sondern beispielsweise einen neuen Impuls für das Startchancenprogramm versteht, kann dieses Versprechen sogar als eingelöst betrachtet werden. „Wir müssen auch ins Handeln kommen“, betonte Staatssekretär Jens Brandenburg in der bildungspolitischen Paneldiskussion, und nannte dieses Programm dann auch folgerichtig als wichtiges Beispiel.

Das Startchancenprogramm soll Kindern und Jugendlichen „bessere Bildungschancen unabhängig von der sozialen Lage ihrer Eltern ermöglichen.“ Hierzu sollen mehr als 4.000 allgemein- und berufsbildende Schulen, die einen hohen Anteil sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher aufweisen, gezielt gefördert werden. Das Programm kann daher als eine Fortsetzung der „Talentschulen“ betrachtet werden, die einst von der liberalen Bildungspolitik in Nordrhein-Westfalen installiert worden waren. Es steht im Einklang mit den Erkenntnissen der Bildungsforschung, dass schulischer Erfolg ganz entscheidend von der sozialen Herkunft und möglichen „Risikolagen“ abhängt. Gezielt jene Schulen zu unterstützen, wo diese Risikolagen konzentriert sind, ergibt im Sinne der Bildungsgerechtigkeit also durchaus Sinn. Gleichzeitig ist die Tatsache, dass der entscheidende Impuls (und ein wesentlicher Teil der finanziellen Ausstattung) vom Bund ausgeht, ein Beispiel dafür, wie die „neuen Formen der Zusammenarbeit“ dann in der Realität aussehen können.

Eine bessere Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen ist allerdings nur eine Seite der Medaille. Entscheidend für die Zukunft des Bildungsstandorts Deutschland sind selbstverständlich vor allem die Lehrkräfte und Schulleitungen, aber – und dies zeigte die Tagung auf beeindruckende Weise – die Bildungsforschung. Letztere reflektierte nicht nur auf hohem Niveau über die verschiedenen Dimensionen des Begriffs der Bildungsgerechtigkeit, sondern bot auch eine Vielzahl an Foren an, auf denen über das Monitoring des Bildungssystems, den Impact der Künstlichen Intelligenz und den Umgang mit Vielfalt und Demokratiebildung diskutiert wurde. Auch für die Politik fanden sich hier wertvolle Empfehlungen: „Gelingende Reformprozesse benötigen gemeinsame strategische Ziele, datengestützte Entscheidungsfindung und ko-konstruktive Forschungs- und Entwicklungsprozesse“ arbeitete beispielsweise das Forum von Michael Becker-Mortzek und Martina Dietrich zu „Chance Bildung“ heraus.

Negativtrend wird sich nur aufhalten lassen, wenn die Erhebung von Bildungsdaten verbessert wird

Die Ausgestaltung des Bildungsföderalismus selbst bleibt auch nach dieser Tagung das wohl dickste Brett der deutschen Bildungspolitik. Zahlreiche Impulse – beispielsweise zum Handlungsspielraum der einzelnen Akteure und zum Potenzial des Startchancenprogramms – lassen dennoch Raum für einen gewissen Optimismus. Doch der Negativtrend wird sich nur aufhalten lassen, wenn die Erhebung von Bildungsdaten verbessert wird – hierzu gehören auch dringend benötigte Fortschritte auf dem Gebiet der Standardisierung von Daten, damit eine minimale Vergleichbarkeit zwischen einzelnen Schulen und den Bundesländern möglich ist. Nur der ehrliche Blick auf die Wirklichkeit garantiert am Ende, dass der Reformdruck auch wirklich gespürt wird.

Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass das Bildungssystem letztendlich ähnliche Herausforderungen wie das Sozialsystem zu verzeichnen hat. Dass die Zahl der Kinder in Deutschland, die armutsgefährdet sind, in den vergangenen Jahren zugenommen hat, ist letztendlich vor allem ein Ergebnis von Migrationsbewegungen. Ähnliches gilt im Bildungssystem: Der Bildungserfolg hängt stark vom sozialen, finanziellen und kulturellen Kapital der Eltern ab – doch gerade hier gibt es große Unterschiede. Damit das Bildungssystem hier ausgleichend wirken kann, braucht es gezielte Maßnahmen. Hierzu gehören verpflichtende Sprachtests und Sprachförderung bereits in der Vorschule, aber auch das Startchancenprogramm. Gleichzeitig ist allerdings auch das Eingeständnis nötig, dass die steigenden Anforderungen an das Bildungssystem unmöglich von Lehrkräften alleine geschultert werden können: von Erzieherinnen und Erziehern über IT- und Verwaltungsfachkräfte bis hin zu Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeitern muss die Zukunft des Bildungswesens vom Standpunkt multiprofessioneller Teams aus gedacht werden. Auch hier liegt allerdings ein großer Auftrag an die Bildungspolitik, die sich zudem auf einen steigenden Fachkräftemangel (und steigende Schülerzahlen) einstellen muss.

Bei allen Diskussionen über Strukturen und Herausforderungen sollte eine Gruppe allerdings nicht aus dem Auge verloren werden, und dies sind natürlich die Schülerinnen und Schüler selbst. Beeindruckend war hier vor allem die Forderung von Wiebke Maibaum, der Generalsekretärin der Bundesschülerkonferenz. In der Schule solle es nicht nur darum gehen, Gedichte zu analysieren, betonte sie und für einen Moment musste man eine Wiederholung der Naina-Diskussion befürchten: damals waren Steuern, Miete und Versicherungen gegen die Gedichtanalyse ausgespielt worden. Doch Maibaums Forderung ging in eine ganz andere Richtung: „Wie schreibt man selbst Gedichte?“ solle einen stärkeren Platz im Unterricht finden. Kreativität als Bildungsziel – herauf können sich hoffentlich alle beteiligten Akteure einigen.