EN

Afghanistan
Der gescheiterte Krieg gegen den Terror

Meinungsbeitrag von Journalistin und Kriegsberichterstatterin Lynne O'Donnell
Dehi Kalan in Afghanistan
Dehi Kalan, Afghanistan © Sven Gückel

Afghanistan ist das Symbol des Scheiterns der westlichen Allianz. Seit dem 15. August wird das Land von einer der größten kriminellen Banden der Welt und ihren terroristischen Verbündeten kontrolliert. Die Wirtschaft befindet sich im freien Fall, Millionen von Menschen sind vom Hungertod bedroht. Frauen und Mädchen werden auf der Straße verprügelt, aus Arbeit und Bildung verdrängt. Es gibt keine Arbeitsplätze, keine öffentlichen Dienstleistungen, kein Bargeld, keine Hilfe. Die Inflation schießt in die Höhe, während Lebensmittel und Treibstoff immer knapper werden. Die Menschen sind mittellos, verzweifelt und verängstigt.

Zwanzig Jahre und Milliarden von Euro später, Zehntausenden von vergebenen Menschenleben und endlosen Versprechungen dauerhafter westlicher Unterstützung nähert sich Afghanistan nun dem Status eines gescheiterten Staates, ohne Freunde und im Stich gelassen von eben jenen Nationen, die sagten, sie würden niemals gehen - einschließlich Deutschland. Die Vereinigten Staaten und die NATO haben Afghanistan den Rücken gekehrt.

Damit haben sie das Land an den Dschihadismus abgetreten. Afghanistan ist nun praktisch ein regierungsloser Raum, in dem der Terrorismus gedeihen kann und zweifellos auch wird. Die Invasion von 2001 entmachtete die Taliban als Vergeltung für ihre Zusammenarbeit mit Al-Qaida bei den Anschlägen auf die Vereinigten Staaten, bei denen am 11. September fast 3.000 Menschen getötet wurden. 

Nun schloss sich der Kreis des so genannten „Krieg gegen den Terror“ am 15. August 2021, als die Taliban erneut in Kabul einmarschierten und den Sieg über Amerika und die westlichen Verbündeten für sich beanspruchten. Zwei Jahrzehnte der Aufstandsbekämpfung endeten in einer Demütigung. Alle moralische Autorität ist versickert. Das Vertrauen der Welt ist für kommende Generationen, wenn nicht für immer, verloren.

Ich habe gerade drei Monate in Afghanistan verbracht und über den Krieg und den Zusammenbruch des Landes berichtet. Als ich im Mai ankam, wurde im südlichen Mohnanbaugebiet heftig gekämpft, zeitgleich mit der Ernte und der damit verbundenen Notwendigkeit für die Aufständischen, die die Opiumproduktion kontrollieren, die Straßen zu sichern, während sie ihre Produkte in Lager, zu Heroinverarbeitungsanlagen und über die Grenze nach Pakistan transportierten. Das war saisonbedingt und zu erwarten.

Bald jedoch verlagerten sich die Kämpfe nach Norden, und die Taliban begannen, die Grenzübergänge nach Tadschikistan zu bedrohen und dann unter ihre Kontrolle zu bringen. Die für die Republik kämpfenden Soldaten und Polizisten begannen, zu fliehen. Die Kommandos der Special Forces wurden ohne Luftunterstützung zurückgelassen und von den Taliban abgeschlachtet. Armeestützpunkte wurden umzingelt und wochenlang belagert, bis ihnen die Munition und die Lebensmittel ausgingen. Regierungsquellen gaben inoffiziell zu, dass jeden Tag zwischen 300 und 500 Kämpfer getötet wurden. Das war eindeutig nicht durchhaltbar.

Für die Taliban schon. Wie H.R. McMaster, der pensionierte Vier-Sterne-General der US-Armee und einer der nationalen Sicherheitsberater des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, wortgewandt dargelegt hat, haben die Medressen in Pakistan jahrelang bis zu einer Million junger Männer zu Kanonenfutter und Selbstmordattentätern für den Krieg des Landes gegen Afghanistan ausgebildet.

Dies sind die Fußsoldaten der alten-neuen Taliban, die jetzt die Kontrolle über Afghanistan haben. Sie haben keine Werte, keine Prinzipien, keine Selbstachtung. Sie können nicht in das moderne Leben integriert werden - das Leben, das die westliche Allianz dem afghanischen Volk in den letzten 20 Jahren versprochen hatte. Es kann nicht überraschen, dass wir Videoaufnahmen von Taliban sehen, die Frauen auf den Straßen von Kabul verprügeln, nur, weil sie Frauen sind. Diesen Männern wurde von Kindheit an beigebracht, zu hassen und zu töten. Sie sind jetzt die Vollstrecker einer „Regierung“ von Terroristen, Drogenhändlern, Mördern und Dieben.

Dass dies geschieht, wurde mir klar, als ich den Vormarsch der Taliban im Land beobachtete und darüber berichtete. Die Grenzübergänge wurden geschlossen, wodurch der lebenswichtige Handel und die Einnahmen des Binnenlandes abgeschnitten wurden. Die Hauptstädte der Provinzen wurden umzingelt, während die Bezirke (Verwaltungsregionen, die mit Landkreisen vergleichbar sind) eingenommen wurden. Zunächst wurde das Land isoliert, dann wurden die großen Städte belagert. Und dann begann die Einnahme der Provinzhauptstädte in einem solchen Tempo, dass keine Zeit mehr blieb, um zu fliehen.

Nichtsdestotrotz; die Anzeichen waren da, unübersehbar für die riesigen Gehirne der westlichen Geheimdienste. Tatsächlich wurde die US-Regierung von Präsident Joe Biden gewarnt, dass die Regierung des ehemaligen Präsidenten Ashraf Ghani ohne die Unterstützung des internationalen Militärs innerhalb weniger Monate stürzen könnte. Diese Nachricht erschien auf den Titelseiten der amerikanischen Zeitungen. Es wurde nicht nur von Bidens Regierung und dem US-Militär ignoriert, das den bevorstehenden Erfolg weiter vorgaukelte, sondern von der gesamten westlichen Allianz.

In den Wochen nach der Übernahme Kabuls durch die Taliban gab es viel Rechtfertigung seitens der verlegenen zivilen und politischen Führung der westlichen Welt. General Sir Nick Carter, der Oberbefehlshaber der britischen Armee, sagte, die Taliban hätten sich verändert, und deutete damit an, dass sie sich plötzlich in eine moderne politische Organisation verwandelt hätten, mit der wir Geschäfte machen könnten.

Er wurde zu Recht für seine törichten Äußerungen kritisiert, die sich inzwischen als so erbärmlich falsch erwiesen haben, dass sie geradezu lächerlich sind. Aber über die Taliban gibt es nichts zu lachen. Viele Menschen, die ich kenne und liebe, leben in Angst vor einem Klopfen an der Tür, das bedeutet, dass die Taliban zu ihnen gekommen sind, so wie sie seit dem 15. August zu vielen Menschen im ganzen Land kamen. Dies ist eine Herrschaft des Terrors.

Der einfältige Donald Trump war es, der die Ereignisse in Gang gesetzt hat, die uns an diesen Punkt des Grauens geführt haben. Er beschloss, der Weg zur Beendigung des „ewigen Krieges“ bestünde darin, einen Deal mit den Taliban zu schließen, damit er die US-Truppen aus Afghanistan abziehen und sich gegenüber den amerikanischen Wählern, des offensichtlichen Mangels an Fortschritten bei der Niederschlagung des Aufstands überdrüssig, als Held darstellen könne. Kein Gedanke an die Schulen, Krankenhäuser und Straßen, die im ganzen Land gebaut wurden; kein Gedanke an die Millionen von Kindern, die eine gute Ausbildung erfahren, die zur Universität gehen, die internationale Stipendien gewinnen, die ins Berufsleben eintreten; kein Gedanke an die lebhaften Medien, die Handytürme, die Solarzellen auf den Dächern des Landes. Kein Gedanke an die Aspirationen einer der jüngsten Bevölkerungen der Welt, in der die meisten Menschen unter 35 Jahre alt sind und das Durchschnittsalter bei 18 Jahren liegt.

Er überging die Regierung, die von der westlichen Allianz seit 20 Jahren unterstützt wurde. Er ignorierte das afghanische Volk, das in das demokratische Experiment investiert hatte und mit überw.ltigender Mehrheit nicht wollte, dass die Taliban an die Macht zurückkehren. Er schloss nicht nur ein bilaterales Abkommen mit dem größten Verbrecherkartell der Welt, sondern zwang die Regierung der Republik, 5.000 Taliban-Kämpfer aus dem Gefängnis zu entlassen, die daraufhin umgehend auf das Schlachtfeld zurückkehrten.

Die Taliban hielten sich nur an die Bedingungen des Abkommens, die ihnen passten, ansonsten gingen alle Zugeständnisse in ihre Richtung. Sie hielten sich nicht einmal an ihr Versprechen, die Angriffe auf die US-amerikanischen und anderen internationalen Streitkräfte einzustellen. Ihre Angriffe auf die afghanische Zivilbevölkerung haben sie keineswegs reduziert, ganz im Gegenteil.

Die Zahl der von den Taliban getöteten Menschen stieg sprunghaft an, sowohl auf dem Schlachtfeld als auch außerhalb. Sie starteten eine brutale Tötungskampagne, die sich gegen Journalisten, Regierungsbeamte, berufstätige Frauen, Richter und Menschenrechtsverfechter richtete. Als klar wurde, dass der einzige wirkliche Vorteil, den die afghanische Republik in diesem Krieg hatte, die Luftunterstützung war, begannen die Taliban, Piloten zu töten.

Taliban, Al-Qaida und Haqqani

Vielleicht am wichtigsten, zumindest für die westliche Allianz, ist, dass Trump und sein Team die Beziehung zwischen den Taliban und den sanktionierten Terrorgruppen, einschließlich Al-Qaida und dem Haqqani-Netzwerk, grundlegend missverstanden oder vielleicht auch bewusst ignoriert haben. Der Kern des Abkommens zwischen Trump und den Taliban, so wie es der amerikanischen Öffentlichkeit verkauft wurde, bestand darin, dass die Aufständischen zugesagt hatten, die Verbindungen zu Al-Qaida zu kappen und nicht zuzulassen, dass Afghanistan jemals wieder für Terroranschläge gegen die Vereinigten Staaten genutzt wird.

Die Taliban haben ihre Beziehungen zu Al-Qaida nicht abgebrochen und werden dies auch nie tun. 

Al-Qaida ist für die Anschläge vom 11. September auf die Vereinigten Staaten wohl bekannt; diese Anschläge wurden geplant und durchgeführt, während Osama bin Laden in Afghanistan als Gast des Taliban-Regimes lebte, welches damals den größten Teil des Landes kontrollierte. Die Invasion Afghanistans, die am 7. Oktober 2001 begann, sollte die Taliban als Vergeltung für ihre Beteiligung an den Gräueltaten vom 11. September entmachten.

Das Haqqani-Netzwerk dürfte ebenso bekannt sein wie Al-Qaida, da es eine der brutalsten Terrorbanden der Welt ist. Ihr Anführer, Sirajuddin Haqqani, ist stellvertretender Führer der Taliban und jetzt Innenminister Afghanistans.

Der Trump-Deal wurde von seinem „Sondergesandten“ Zalmay Khalilzad ausgehandelt, einem ehemaligen US-Botschafter in Afghanistan, dessen Karriere auf Misserfolgen aufgebaut ist. Er gibt vor, die Taliban zu kennen und zu verstehen, und hat sich im Auftrag der Trump-Regierung darangemacht, sie aus ihrem Schattendasein herauszuführen.

Wenn er jemals die Dynamik der Aufständischen verstanden hat, hat er sich davon nicht beirren lassen. Diese Gruppen haben eine symbiotische Beziehung, die Jahrzehnte zurückreicht; sie sind miteinander verheiratet, miteinander verflochten und untrennbar. Wie ich schon wiederholt gesagt habe, wäre es für die Taliban, ihre Verbindungen zu Al-Qaida zu kappen, als würde man das Salz aus dem Meer entfernen. Das wird einfach nicht passieren.

Ressourcen und Finanzierung

Im Jahr 2020 wurde ich von der NATO beauftragt, einen Bericht über die Finanzierungsquellen der Taliban zu verfassen, den ich am 1. Juli vorlegte. Der Bericht gibt einen detaillierten Überblick über die Position der Taliban als weltweite Könige des Heroins, die fast 100 Prozent des globalen Heroinhandels kontrollieren. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie auch die Kontrolle über den afghanischen Bergbausektor übernommen und arbeiten mit anderen kriminellen Netzwerken zusammen, um mit dem Schmuggel von Mineralien und Edelsteinen fast eine halbe Milliarde Dollar pro Jahr zu verdienen. Inzwischen habe ich über das neue Geschäftsfeld der Taliban, Methamphetamin, geschrieben, das billiger und einfacher herzustellen ist als Heroin und daher viel größere Gewinne abwirft.

Der NATO-Bericht ging auch auf die Beziehungen der Taliban zu Al-Qaida und den Haqqani ein und warnte vor den Folgen eines Einverständnisses mit Trumps unklugem Vorhaben, das gesamte US-Militär bis zum 1. Mai 2021 aus Afghanistan abzuziehen. Mir ist nicht bekannt, welche interne Verteilung der Bericht erfahren hat. Ich weiß aber, dass er den Weg zu den US-Geheimdiensten gefunden hat und auf höchster Ebene der ehemaligen afghanischen Regierung verbreitet wurde. Einigen Medienorganisationen, darunter Radio Free Europe, wurde er von unbekannten Quellen zugespielt.

Er enthielt eine Reihe von Empfehlungen, darunter die, die Taliban nicht beim Wort zu nehmen. Und Beweise dafür zu verlangen, dass sie tatsächlich ihre Verbindungen zu Al-Qaida abgebrochen haben, bevor mit dem Abzug fortgefahren wird. In den Monaten nach der Vorlage meines Berichts wurde viel Besorgnis darüber geäußert, dass die Beziehungen nach wie vor so eng seien wie eh und je. Weder die Vereinigten Staaten noch andere NATO-Mitglieder haben etwas unternommen, um sicherzustellen, dass sich die Taliban als Bedingung für den Abzug der internationalen Streitkräfte von Al-Qaida trennen. Wie sich herausstellte, waren die NATO-Streitkräfte schon lange abgezogen, bevor die Vereinigten Staaten auf dem Luftwaffenstützpunkt Bagram die Lichter ausschalteten und mitten in der Nacht am Wochenende des vierten Julis abzogen.

Westliche Scheinheiligkeit

Die Ausrede, dass die Verbündeten ohne Zugang zu amerikanischen Luftstreitkräften nicht funktionieren können, ist erbärmlich und peinlich und lässt mich fragen, wozu die deutsche Luftwaffe oder die europäischen Luftstreitkräfte überhaupt da sind. Zahlen wir mit unseren Steuern für milliardenschwere Flugshow-Ausschmückungen? Für Spielzeug, das nur für die Spiele eingesetzt wird, die wir alle paar Jahre miteinander spielen? Sind unsere Verteidigungsmechanismen nur zur Schau gestellt? Wenn die NATO-Staaten ihren eigenen Streitkräften keine Luftunterstützung bieten können, warum haben sie dann überhaupt Luftstreitkräfte? Wenn jetzt gejammert wird, dass das internationale Militär Afghanistan nie hätte verlassen dürfen, dann ist das, als würde man Salz in die Wunden der Verratenen streuen.

Wenn man sieht, wie die afghanische Bevölkerung in den europäischen Ländern, die sie aufgenommen haben, behandelt wird, muss man vor der entsetzlichen Heuchelei des Westens erschaudern. Und dass nach der hoffnungslos verpfuschten und unzureichenden „Evakuierungs“-Übung nach dem Zusammenbruch am 15. August. Die neue Klasse der afghanischen Flüchtlinge ist eine gebildete Mittelschicht, die an die Demokratie und die angeblich von der internationalen Gemeinschaft garantierten Freiheiten geglaubt und dafür gearbeitet hat. Wieder einmal verraten, sind sie gezwungen, bei den Menschen um Schutz zu betteln, die ihnen versprochen haben, sie zu beschützen.

Afghanistan ist ein historischer Schandfleck für Europa. Es ist das Symbol für das Versagen der NATO. Dass Afghanistan in die Hände der Kriminellen und Terroristen gefallen ist, vor denen das Land vor 20 Jahren „gerettet“ wurde, ist eine Schande, die Europa niemals vergessen darf. Das afghanische Volk wird das nie vergessen. Und die Feinde des Westens werden es uns niemals erlauben, zu vergessen.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus der Publikation "Weltpolitikfähigkeit – Was der Afghanistan-Moment für Deutschland, EU und  NATO bedeutet"