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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Corona-Zahlen
Die Obrigkeit will offenbar ihr Herrschaftswissen behalten

Das Robert-Koch-Institut versagt komplett in der Kommunikation. Statistische Deutung ist Mangelware.
RKI
picture alliance / Eibner-Pressefoto | Fleig / Eibner-Pressefoto

Seit fast zwei Jahren hält Corona Deutschland in Atem. Fast zwei Jahre hatte das Robert-Koch-Institut (RKI) also Zeit, sich darauf einzustellen, dass die Öffentlichkeit – täglich aktuell – neue Informationen zum Stand und zur Entwicklung der Pandemie braucht.

Naheliegend wäre es zum Beispiel gewesen, eine tägliche Video-Botschaft des RKI einzuführen, pünktlich zum Frühstück. Ihr Inhalt: Präsentation und Deutung der aktuellen Corona-Daten, mit Schwerpunkt auf deren Veränderung im Zeitablauf. Trends und Schwankungen von Inzidenzen, Hospitalisierungs- und Todesfällen sowie vielen anderen wichtigen Statistiken werden kurz erläutert, zusammen mit den Schwächen und Schwierigkeiten der Interpretation – jüngst etwa beim üblichen Melde- und Testverzug über die Feiertage. Auch die Rückschau auf die (mangelnde) Qualität früherer Prognosen könnte dazu gehören, wenn Trendwenden unterschätzt wurden, wie zuletzt Anfang Dezember bei der Abbremsung der vierten Welle. Kurzum: ein Paket an Corona-Informationen für eine breite Öffentlichkeit, ähnlich einem täglichen Wetterbericht.

Nichts dergleichen ist geschehen. Schaut man auf die Website des RKI und klickt sich zum täglichen Lagebericht durch, was gar nicht so einfach ist, ertrinkt man in einer Zahlen-Flut. Die „Zusammenfassung der aktuellen Lage“ besteht dabei in wenigen Bullet-Points, die einige aktuelle Fakten resümieren, ohne die so wichtige längerfristige Einordnung des Materials zu leisten. Man muss schon ein Fachkenner sein, um diese Zahlen in ihrer Tragweite zu verstehen. Wieso kommt niemand im RKI auf die Idee, den Zahlen-Wust vernünftig zu strukturieren und zeitgemäß zu präsentieren – so wie es etwa allmorgendlich der WELT-Journalist Olaf Gersemann tut?

Wer die Antwort auf diese Frage sucht, stößt auf ein Grundproblem des deutschen Staates. Denn es drängt sich auch in anderen Zusammenhängen der Eindruck auf, dass der deutsche Staat auf allen seinen Ebenen – Bund, Länder und Gemeinden, Ministerien, untergeordnete Behörden wie das RKI – gar kein Interesse zeigt, dass die Öffentlichkeit die Fakten genau kennt und verfolgt. In dieser Hinsicht symptomatisch war kürzlich der Versuch des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst, über Weihnachten und Neujahr keine aktuellen Zahlen zu Corona-Inzidenzen zu veröffentlichen, weil die Meldedisziplin der Ämter und die Testintensität rund um die Feiertage nachlassen – mit der Folge ungewöhnlich niedrig ausgewiesener Werte. Das Volk sollte offenbar daran gehindert werden, mit einer (verzerrten) Realität konfrontiert zu werden, damit es keine falschen Schlussfolgerungen zieht. Was für eine abwegige Vorstellung: Information wird zurückgehalten, damit niemand auf dumme Gedanken kommt! Glücklicherweise war der Protest so massiv, dass die Zahlen dann doch publiziert wurden.

Hinter all dem steht eine alte preußische Tradition: Die Welt wird säuberlich eingeteilt in Staat einerseits und die Menschen andererseits. Der Staat als Obrigkeit verfügt über „Herrschaftswissen“, das zu komplex und gefährlich ist, als dass es den Menschen zugemutet werden könnte. Und der Staat ist keineswegs dazu verpflichtet alles zu tun, um den Menschen die Zusammenhänge und Entwicklungen so zu erläutern, dass sie auch verstanden werden können. Zu groß ist möglicherweise auch die Angst der Verantwortlichen, bei einer Fehlprognose erwischt zu werden – insbesondere dann, wenn sie zu optimistisch ausfallen könnte. Vielleicht häufen sich auch deshalb bei Corona die Fälle von Katastrophenszenarien, die sich dann Gott sei Dank nicht bewahrheiten, aber den Menschen Angst und Schrecken einjagen. Nach dem Motto: lieber zu pessimistisch als zu blauäugig!

Diese Vorgehensweise zerstört Vertrauen in den Staat. Man glaubt ihm einfach nicht mehr, weil man weiß: Er hält Informationen zurück, um seine Rolle als Mahner und Warner zu bewahren. Oder zumindest diskontiert man alles, was er verlauten lässt, als übertriebene Panikmache. Im Fall von Corona spielt dies natürlich den rechtspopulistischen Impfgegnern in die Hände. Sie fühlen sich in ihrem Misstrauen und Verschwörungswahn bestätigt, und sie finden zunehmend Gehör.

Es wird höchste Zeit, dass diese fatale Entwicklung gestoppt wird. Dies kann nur gelingen, wenn der Staat seiner Informationspflicht endlich nachkommt. Beim RKI ließe sich in diesem neuen Jahr 2022 ein Anfang machen. Es gilt, statistisch geschulte Fachleute für Kommunikation einzustellen – mit dem klaren Auftrag, die RKI-Website neu zu gestalten und täglich per Video die Öffentlichkeit über die Lage und ihre Veränderung zu informieren. Und zwar sachlich und nüchtern, ohne Angstmache und Panik. 

 

Dieser Artikel erschien erstmals  am 05. Januar 2022 in Der Welt und ist online hier zu finden.