Große Öffnung, große Erleichterung? Chinas Netizens diskutieren Kehrtwende in der Pandemiepolitik
Was ist passiert?
Nach drei Jahren strikter Corona-Maßnahmen verkündete die chinesische Regierung im Dezember 2022 plötzlich das Ende der „Null-Covid-Politik“. Innerhalb eines Monats erließ die Zentralregierung in Form der „Zwanzig Maßnahmen“ und der „Zehn Maßnahmen“ Vorgaben für Lokalregierungen, eine „langsame Rückkehr zur Normalität bei minimalen Kosten durchzusetzen“. Lokale Behörden interpretierten die nur sehr vage formulierten Vorgaben zwar unterschiedlich, öffneten aber alles nahezu komplett, indem sie beispielsweise Ausgangssperren und Testpflichten aufhoben.
Wie sehr sich die Rhetorik der Zentralregierung schlagartig geändert hat, zeigt ein Blick in die staatliche Volkszeitung (人民日报). Bis Mitte 2022 wurde die „Dynamische Null-Covid-Politik“ (动态清零) als nationale Priorität und als Zeichen der Überlegenheit des chinesischen Systems im Umgang mit dem Virus kommuniziert. Die Regierung und staatliche Medien riefen wiederholt zum „Durchhalten“ (坚持) auf und verwiesen stets auf die große Gefahr des Coronavirus für die Bevölkerung.
Im November schlugen staatliche Medien dann plötzlich andere Töne an: Gesundheitsexpert:innen, die zuvor vor der Gefahr des Virus warnten, sprachen nur noch von einer „Corona-Erkältung“ (新冠感冒) und betonten die geringe Sterberate. Der bekannte Virologe Zhong Nanshan (钟南山) erklärte in einer Vorlesung, dass „die Bürger:innen keine Angst mehr vor der Omikron-Variante […] haben“ müssten.

Von gefährlicher Krankheit zu harmloser Erkältung
Der plötzliche Umschwung in der Corona-Politik hatte weit mehr als nur eine einfache Erkältungswelle zur Folge. Eine Flut an Neuinfektionen überrollte Chinas Gesundheitssystem: Bilder und Videos von überlasteten Krankenhäusern und Krematorien kursierten in Chinas sozialen Netzwerken ebenso wie Hilferufe nach schnell ausverkauften fiebersenkenden Medikamenten wie Ibuprofen. Laut offiziellen Zahlen der nationalen Gesundheitsbehörde erreichte die Infektionswelle mit etwa 150 Millionen positiven PCR-Tests am 9. Dezember 2022 sowie 128.000 neuen Covid-Fällen in Krankenhäusern am 5. Januar ihren Höhepunkt. Falschinformationen, wie zum Beispiel über die Covid-lindernde Wirkung von Durchfallmitteln, verunsicherten die ohnehin besorgte Bevölkerung zusätzlich.
Was sagen chinesische Netzbürger:innen dazu?
Einblick in Diskussionen zur Öffnung geben zum Beispiel chinesische Onlineforen. Um Reaktionen aus der chinesischen Bevölkerung zu analysieren, haben wir auf Zhihu (知乎), einer populären chinesischen Frage-Antwort-Plattform, die Frage ausgewählt, die zum Thema der Öffnungspolitik bis Mitte Januar die meisten Antworten erhalten hatte: „Bereuen diejenigen, die die ganze Zeit nach Koexistenz mit dem Coronavirus gerufen haben, das jetzt?“ (那些当初整天喊着提倡和新冠共存的人现在有没有后悔? ).
Auf diese Frage wurden bis zum 17. Januar 2023 fast 6000 Antworten gepostet, von denen manche über 19.000 Likes erhielten. 1052 der Antworten wurden von anderen Nutzer:innen gelikt, davon haben wir die meist gelikten 20% auf Themen, Kritik und Positionierung zur Öffnung analysiert.
Zwei Extreme und eine breite Mitte
Unsere Analyse zeigt ein sehr gemischtes Bild, was die Verunsicherung der chinesischen Bevölkerung durch den plötzlichen Politikwechsel widerspiegelt. Im Meinungsspektrum finden sich die zwei Extreme: die „Koexistenzler:innen“ (共存派) befürworten die Öffnung und ein „Leben mit dem Virus“, während „Null-Covid-Anhänger:innen“ (清零派) die bisherige strenge Politik der Pandemiebekämpfung unterstützen. Neben diesen beiden Positionierungen überwiegen allerdings die Nutzer:innen, die sich keiner Position klar anschließen.
Beschuldigung der jeweils anderen Position
Das eine Lager beschuldigt Anhänger:innen der anderen Seite für deren als egoistisch empfundene Haltung (6,67%) der analysierten Posts.
So kritisieren die Befürwortenden der Null-Covid-Politik die Koexistenzler:innen für zu wenig Verantwortungsbewusstsein:
„[…] Die ‚Koexistenzler‘, die jubeln, wenn sie von der Öffnung hören, und die ihre Familien vernachlässigen, um zu feiern. Sie mögen in diesen Jahren aktiv sein und viele Spuren hinterlassen, aber der Wind der Geschichte wird sie mit Sicherheit wie Müll wegwehen.“
那些听到清零就如临大敌,听到开放就欢呼雀跃,不顾家人也要去凑热闹的“共存派”。也许他们在这几年会很活跃,会留下很多痕迹,但历史的风一定会像吹走垃圾一样吹走他们。
毒舌的Dr.Li, 2367 Likes
Die Koexistenzler:innen werfen umgekehrt den Befürwortenden der strikten Covid-Politik vor, dass sie nur an sich denken würden, auch weil sie aufgrund ihres privilegierten Status weniger unter den Maßnahmen gelitten hätten:
„Diejenigen, denen die Idee des Lockdowns gefällt, sind entweder Karrieristen, haben viel Geld oder ein persönliches Interesse an der Pandemie. Aber wissen Sie was? Die Mehrheit der Armen in China muss kämpfen, um über die Runden zu kommen. Die sind barfuß und Sie [die Null-Covid-Anhänger] tragen Schuhe.“
喜欢封控的要么事业单位,要么家底丰厚的,要么疫情既得利益者。但你知道吗?中国穷人以及在温饱线上挣扎的人占绝大多数,他们是光着脚,你们是穿着鞋。
李松林, 1187 Likes
Zweifel und Ablehnung der Null-Covid-Politik
In der Auswertung der Kommentare zeigt sich auch, dass viele Netizens (26,67%) die frühere Politik als nicht länger tragfähig betrachten:
„Eine Stadt zu versiegeln, um Null-Covid zu erreichen, ist wie einen Felsbrocken einen steilen Berg hinaufzuschieben, anfangs kann man noch durchhalten, aber die Kraft ist begrenzt und irgendwann kann man nicht mehr schieben.“
用封城来清零,就像是推着巨石上陡坡,一开始尚能坚持,但体力终究是有限的,终究有推不动的时候。
太行一棵草, 293 Likes
Verhaltene Akzeptanz der neuen Politik
Ein Großteil der Kommentierenden bezieht keine klare Stellung oder wägt ihre Position vorsichtiger ab. Viele akzeptieren die Öffnung als gegebene Tatsache, die sie zwar kommentieren, nicht aber ändern können. Obwohl sich die Kommentare auch auf Themen wie wirtschaftliche und gesellschaftliche Auswirkungen oder die langen Lockdowns beziehen, bleibt diese Gruppe in ihrer Positionierung eher neutral. Und während oft individuelle Situationen, wie die der Studierenden oder der Haustierhalter:innen, dargelegt werden, können viele Netizens der neuen Situation durchaus positive Aspekte abgewinnen:
„Ich bin besonders froh darüber, dass sich die düstere Atmosphäre der Seuchenkontrolle gelichtet hat und dass die Menschen um mich herum merklich weniger feindselig sind und einen freundlicheren Blick haben.“
特别开心,层层加码的疫情管控的阴霾散去了,身边的人明显戾气少了很多,眼神柔和了很多。
Anonym, 2433 Likes
Kritik an der Regierung
Nur ein kleiner Teil der Netzbürger:innen (3,33%) findet im Rahmen der Corona-Kehrtwende Anlass für direkte Kritik an der chinesischen Regierung. Deutlich mehr Kommentierende (12,4%) kritisieren nicht die Regierung direkt, sondern die konkreten Maßnahmen der Öffnungspolitik:
„Wenn die Öffnung richtig war, warum mussten dann die Kriterien für die Feststellung des Todes durch eine neue Coronavirus-Infektion nach der Öffnung überarbeitet werden? Warum hat die CDC [Chinesisches Zentrum für Krankheitskontrolle und -prävention] solch skandalöse Daten veröffentlicht? […] Rechtsstaatlichkeit ist kein Lippenbekenntnis, sondern geltendes Recht.“
如果放开是正确的,何至于在放开后修改新冠病毒感染死亡认定标准?何至于疾控中心公布的数据如此离谱?[…] 依法治国,不仅仅是嘴上说说.
协同教育, 237 Likes
„Es ist egal, ob man [pro-Null-Covid] oder [pro-Koexistenz] ist, die nationale Politik hat nichts mit einem zu tun, Null oder Lüge, man kann sie nur akzeptieren und dann im Internet rummotzen. Das ist alles!“
不管你是清零派还是共存派,国家政策都与你无关,清零也好躺平也好,你只能接受然后在网上哔哔赖赖。仅此而已!
不清不楚不明不白, 65 Likes

Die Debatte selbst wird zum Thema
Bemerkenswert ist, dass sich unter den Kommentierenden Kritiker:innen und Anhänger:innen von sowohl Null-Covid-Politik als auch der neuen Öffnungspolitik finden. Beide Seiten bringen zum Ausdruck, dass sie als einfache Bürger:innen keinen Einfluss auf politische Entscheidungen haben und auch nicht nach ihrer Meinung gefragt werden. Direkte Kritik an der Regierung ist eher selten, kommt aber ebenso wie die Hinterfragung des „Systems“ vor.
Interessant ist weiterhin, dass das Coronavirus selbst sowie die von Regierung und parteistaatlichen Medien oft genannten „ausländischen Kräfte“ in dieser Diskussion nur selten thematisiert werden.
Neben der Erklärung ihrer individuellen Situationen und der Auswirkungen der Covid-Politik darauf befassen sich viele Kommentierende auch mit der entstandenen Debatte an sich: Positionierungen anderer Netizens werden hinterfragt und teils harsch kritisiert. Dabei thematisieren Nutzer:innen vor allem sozio-ökonomische Unterschiede und als unterschiedlich wahrgenommene Lebensrealitäten.
Was bedeutet das?
Die plötzliche Kehrtwende der zentralen Covid-Politik hat für Chinas Bevölkerung enorme Auswirkungen: Erkrankungen, Folgeerscheinungen sowie unzählige Todesfälle, aber auch eine abrupte Änderung der Lebensrealität nach fast drei Jahren strenger Maßnahmen und vieler Einschränkungen. Bürger:innen äußern sich auch über wiedergewonnene Freiheiten, eine neue Normalität und bessere wirtschaftliche Aussichten.
In den Online-Foren werden die Auswirkungen sowohl der strengen Covid-Politik als auch der plötzlichen Öffnung für die Bevölkerung diskutiert: Abhängig von der individuellen Lebenssituation positionieren sich die Netizens. Interessant ist die Diskussion vor allem, da die Regierung durch ihre politische Kehrwende ein Vakuum für Erklärungen geschaffen hat. Vor allem im Kontrast zur stark richtungsweisenden Kommunikation der letzten drei Jahre eröffnet dies nun neue Spielräume zum Ausdruck der eigenen Meinung und zur Diskussion verschiedener Positionen.
Diese Fragmentierung in der Politik wird auch innerhalb der Gesellschaft deutlich und online zum Ausdruck gebracht. Ein großes soziales Gefälle und sehr unterschiedliche Lebensrealitäten werden sichtbar. Abhängig von individuellen Lebensumständen, wie der familiären Situation, der Art der Arbeitsstelle und der persönlichen finanziellen Sicherheit, wirkten sich die Pandemiemaßnahmen unterschiedlich auf die Menschen aus. Anders als in demokratischen Gesellschaften fehlt es in der Volksrepublik an Mechanismen, diese gesellschaftlichen Spannungen offen zu thematisieren, auszuhandeln und im besten Fall abzubauen.
Die Online-Diskussionen machen deutlich, dass diese Spannungen existieren und ausgetragen werden, wenn eine Möglichkeit dazu besteht. Covid-Maßnahmen sind nicht der einzige Faktor, der gesellschaftliche Disparitäten deutlich macht und befördert. Die Sichtbarkeit der Diskussion um die chinesische Covid-Politik könnte aber ein Anlass für chinesische Regierungsbehörden auf verschiedenen Ebenen sein, die unterschiedlichen Lebensrealitäten innerhalb Chinas bei der Planung und Umsetzung politischer Maßnahmen stärker zu berücksichtigen. Für Beobachter:innen zeigt die Diskussion, wie divers und kontrovers Debatten auch in einem stark eingeschränkten Raum geführt werden können.
China Spektrum Reader Februar 2023
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Debatten über Ende von Null-Covid, TikTok unter Druck und Beziehungen zur EU
Ökonom Wen Tiejun: Mehr Staat für die Wirtschaft in unsicheren Zeiten
Die Proteste gegen die strenge Covid-Politik der chinesischen Führung und willkürliche Lockdowns haben deutlich gemacht, dass sich Menschen in vielen Teilen des Landes in ihrer Lebensgestaltung grundlegend eingeschränkt fühlen. Der Kontrollanspruch des Parteistaats droht den eigenen Traum von individueller Freiheit und Wohlstand sowie deren Grundlage, die nationale Wirtschaftsdynamik, zu ersticken.
In diesem Zusammenhang hat die bereits seit längerer Zeit geführte Grundsatzdebatte unter Chinas Eliten, wieviel Markt und wieviel Staat die chinesische Wirtschaft braucht und bzw. die Kommunistische Partei (KPC) erlauben soll, weiter an Dringlichkeit gewonnen. Besorgt beobachten Expert:innen und Unternehmer:innen in der Volksrepublik jede öffentliche Äußerung von Partei- und Staatschef Xi Jinping, insbesondere zur Konkretisierung seines Konzepts des „gemeinsamen Wohlstands“. Einige befürchten, dass Xi durch seine Betonung von Autonomie und seinem Vorgehen gegen die private Digitalwirtschaft China wieder Richtung Planwirtschaft wie zur Zeiten Mao Zedongs verändern will.
Weiter angefacht wurde die Debatte Ende September 2022, kurz vor dem 20. Parteitag der KPC. Auf verschiedenen sozialen Medien, u.a. der Videoplattform Douyin, tauchte ein Interview zum Thema Wirtschaftspolitik mit Wen Tiejun auf, einem der bekanntesten Agrarökonomen des Landes. Eingerahmt wurde das nicht klar einem Medium zuzuordnenden Gespräch von Archivaufnahmen aus den 1960er und -70er Jahren, die Szenen von landwirtschaftlichen Kollektiven zeigten. In dem Interview sprach sich Wen für eine „volksorientierte Wirtschaft“ aus. Der Beitrag löste eine rege Debatte aus.
Rückkehr zur Planwirtschaft? Wens Konzept der „volksorientierten Wirtschaft“
Wen definiert die „volksorientierte Wirtschaft“ (人民经济) dieses zunächst als ein „die autonome Entwicklung des Landes schützendes, patriotisches Wirtschaftswesen“ mit vier Besonderheiten: es ist autonom (自主性), lokal (在地性), umfassend (综合性) und auf die Bedürfnisse der Bevölkerung ausgerichtet (人民性).
Obwohl diese Begriffe wie typischer Parteijargon klingen, ließ insbesondere Wens Interpretation des Begriffs „umfassend“ aufhorchen. Wen spricht sich für die Definition größerer „sozialer Bereiche“ (社会事业) aus, die in kollektivem Besitz bleiben. Private chinesische Unternehmen oder ausländische Firmen sollen hier keinen Zugang haben. Liberalere chinesische Ökonomen kritisierten Wens Äußerungen scharf und werteten sie als Plädoyer für die Rückkehr zu planwirtschaftlichen Strukturen:
So äußerte sich Ren Zeping, ehemaliger Chefökonom beim Immobilienriesen Evergrande stellvertretend für andere führende liberale Ökonomen:
„Kürzlich lehnte ein sogenannter ‘Professor’ [gemeint ist Wen Tiejun] die Marktwirtschaft ab und propagierte eine Rückkehr zu Planwirtschaft und Abschottung. Dieses Modell ist weltweit schon mehrfach gescheitert. […] Er ist ungebildet und seine Ansichten sorgen bei Privatunternehmen für große Befürchtungen. […] China hat von der Marktwirtschaft und Globalisierung profitiert, sie gefördert und mitvorangetrieben). China wird auch in Zukunft am System der Marktwirtschaft und Internationalisierung festhalten.”

Steckbrief Wen Tiejun
Wen Tiejun hatte bereits im Sommer 2021 auf dem renommierten „Forum mit 40 Wissenschaftlern zur politischen Ökonomie Chinas“ das Konzept der „roten Wirtschaft“ (红色经济) vorgestellt. Neben den vier Charakteristika der „volksorientierten Wirtschaft“ betonte Wen in seinem Vortrag vor allem die nationalistisch aufgeladenen Dimensionen des „Antiimperialismus“ und „Antikolonialismus“. „Rot“ steht dabei für eine ideologisch verklärte Wahrnehmung von Kommunismus und Sozialismus – definiert und bewahrt durch die Kommunistische Partei.
In seinen früheren Publikationen und Reden zur Lage des ländlichen Chinas hatte sich Wen zwar bereits klar für eine stärkere Rolle des Staates ausgesprochen. Er betonte dabei jedoch eine stärker moderierende Rolle des Parteistaats, der vor allem soziale Ungleichheit und den ökologischen Raubbau in der chinesischen Landwirtschaft bekämpfen sollte.
Ökonom:innen meinen, dass Wen mit dem Konzept der „volksorientierten Wirtschaft“ planwirtschaftliche Mechanismen als Lösung für Chinas kriselnde Wirtschaft propagieren will und dabei von populistischen Vertretern einer maoistischen Linken in der Partei unterstützt wird. Die unter Xi Jinping jüngst wiederbelebten „Versorgungs- und Absatzgenossenschaften“ (供销社) bieten Wen und seinen Mitstreitern dabei eine unverfängliche Anknüpfmöglichkeit, auch wenn er dies selbst nicht erwähnt. Die 1950 gegründeten Genossenschaften waren vor Beginn der Reform- und Öffnungspolitik 1978 eine bedeutende planwirtschaftliche Organisationsform und zuständig für den Handel zwischen Stadt und Land. Im Laufe der Zeit verloren sie immer mehr an Bedeutung, gänzlich verschwunden sind sie jedoch nie.
2022 initiierte die Zentralregierung in unterschiedlichen Teilen des Landes, darunter auch Guangdong und Beijing, die Wiederbelebung von bestehenden und die Einrichtung von neuen Genossenschaften. Diese sind offensichtlich sowohl ein Element von Xis wirtschaftlicher Strategie für den Aufbau einer einheitlichen Versorgung als auch eine Entlastung für mögliche Engpässe, z.B. durch die strikte „Null-Covid-Strategie“.
Mehr Staat oder mehr Markt – der Kurs bleibt unklar
Wen Tiejun äußerte sich kaum zur Kritik an seinen Ideen und ließ stattdessen andere für sich sprechen. Diese Kommentatoren wiesen den Vorwurf zurück, dass er eine Rückkehr zur Planwirtschaft forderte. Sie bezeichneten Wen als einen der wenigen Wissenschaftler, denen die Entwicklung des ländlichen Chinas ein Anliegen sei.
Ob das Konzept der „volksorientierten Wirtschaft“ tatsächlich als ein Testballon oder Signal für eine stärkere staatliche Lenkung der Wirtschaft angesehen werden kann, lässt sich nicht sagen. Die Verunsicherung der Experten hängt auch damit zusammen, dass Xi Jinping sein Konzept des „gemeinsamen Wohlstands“ bislang nicht mit konkreten Inhalten gefüllt hat. Dies liegt auch daran, dass Xi in der Partei zwischen den Befürwortern einer markt- und denen einer staatsorientierten Wirtschaft offensichtlich trotz seiner Machtfülle weiter Kompromisse suchen muss. Er wolle zunächst „den Kuchen“ größer machen, um dann eine Umverteilung vornehmen zu können, lautet derzeit Xis Devise.
Mit welchen Mechanismen und Mitteln dies geschehen soll, ist vor dem Hintergrund der jüngsten Protestwelle eine drängende Frage für die Parteiführung. Zwar wurden die strikten Covid-Restriktionen in weiteren Teilen des Landes im Dezember auch mit Blick auf die Revitalisierung der Wirtschaft gelockert. Doch bringen auch Krankheitswellen wirtschaftliche Kosten, die insbesondere kleinere Unternehmen und sozial Schwächere treffen. Es ist daher wichtig zu beobachten, ob das Konzept der „volksorientierten“ Wirtschaft weiter Aufwind bekommt und welche konkreten Maßnahmen damit möglicherweise verknüpft werden.
Weiterführende Informationen:
- Global University for Sustainability. Wen Tiejun: China’s Ten Economic Crises Lecture 1 (1949–1951) (Part 1), YouTube
- China’s Strategic Responses to Crises and for Rural Vitalisation 2019. Author: Sit Tsui, Lau Kin Chi, Erebus Wong, Wen Tiejun, PDF
- 对谈01 | 少年不识温铁军 , Podcast
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