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Brexit
Britannien braucht einen Brexit Break

Nur ein zweites Referendum kann helfen, ein Desaster für das Vereinigte Königreich und Europa zu verhindern
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Brexit Demonstrationen in England

© picture alliance/ZUMA Press

Am kommenden Dienstag soll das britische Parlament über Theresa Mays Entwurf für den Brexit entscheiden. Alle Indizien sprechen dafür, dass sie keine Mehrheit dafür bekommt. Dann darf es nicht zu einem ungeordneten Brexit kommen, sondern das britische Volk muss neu entscheiden. Zu viel ist seit dem Brexit-Vote im Juni 2016 geschehen, von dem viele nichts ahnten. So sieht es unser Vorstandsvorsitzende Professor Paqué.

Es ist merkwürdig: Das Vereinigte Königreich und Europa bewegen sich scheinbar seelenruhig auf ein Desaster zu. Am Ende des ersten Quartals, genauer: am Freitag, 29. März 2019, 11 Uhr, müssen die Briten die EU verlassen, wenn bis dahin kein ratifizierter Brexit-Vertrag vorliegt. Wird Theresa Mays Entwurf vorher vom britischen Parlament durchgewunken, ist diese Frist natürlich kein Problem - jedenfalls in dem Sinne, dass danach die Briten faktisch in der Zollunion verbleiben, bis dann irgendwann eine umfassende Einigung über die Scheidung erarbeitet und durchverhandelt ist. Scheitert aber Mays Vertragsentwurf, kommt es sofort zum ungeordneten Austritt - mit langen Schlangen an den britischen Grenzen und einem völlig unberechenbaren Chaos in vielen Dienstleistungsbranchen, deren EU-Markt zusammenbricht - mangels vertraglich gesicherter Regeln.

Man könnte mit den Achseln zucken, wenn nicht die Wahrscheinlichkeit, dass es so kommt, drei Monate vor dem Stichtag sehr hoch wäre. Wie soll Theresa May ihre Tory-Fraktion im Unterhaus auf Linie bringen, wo es dort derzeit über 100 Gegner ihres Vertrags gibt? Und wie soll der Koalitionspartner, die Democratic Unionist Party, von ihr diszipliniert werden, obwohl sein Kernanliegen, die Integrität des Vereinigten Königreichs einschließlich Nordirlands, mit Mays Vertragswerk nicht gesichert wird? Und wie sollen die oppositionellen Labour und Liberaldemokraten dazu veranlasst werden, durch ihre Zustimmung die Möglichkeit verstreichen zu lassen, die Premierministerin zum Rücktritt zu zwingen - mit der Folge von (chancenreichen) Neuwahlen? Theresa May versucht anscheinend, große Teile des Unterhauses politisch zu erpressen, aber das wird wohl nicht funktionieren, gerade weil das Vereinigte Königreich eine reife Demokratie ist.

Also tatsächlich ungeordneter Brexit? Im Anblick dieses Ausblicks sollten alle tief durchatmen und zur Vernunft kommen - und die kann nur heißen: ein neues Referendum, mit oder ohne Neuwahl des Parlaments. Der Grund dafür liegt eigentlich auf der Hand: Mit dem Scheitern von Theresa Mays Vertragsentwurf ist die Alternative doch offenbar nicht mehr jene, die den Menschen beim Brexit-Vote im Juni 2016 vorschwebte, nämlich Verbleib in der EU oder ein Austritt, von dem alle damals annahmen, dass er vernünftig gestaltet werden würde. Dies ist aber der Politik nicht gelungen, sei es aufgrund der sachlich begründeten Schwierigkeiten des Austritts, allem voran der "irischen Frage", sei es aufgrund fehlender Klugheit des britischen Polit-Estabishments, sei es aufgrund einer ungeahnt festen EU-Front, die zu keinem Zeitpunkt bröckelte.

All dies haben die Briten zweieinhalb Jahre geradezu tagtäglich beobachten können. Nun wissen sie, um was es wirklich geht. Sie sind vielleicht noch immer nicht gut, aber jedenfalls unendlich viel besser informiert als im Juni 2016. Nimmt man die Demokratie ernst, muss man sie nach einem parlamentarischen Scheitern des May-Plans neu befragen. Dies gilt allemal für das Vereinigte Königreich, dem Mutterland der Demokratie. Die Europäische Union sollte bereitstehen, mit einer Fristverlängerung für den Austritt die Vorbereitung eines Referendums zu erlauben. Das wird sie wohl auch tun, alles andere wäre politisch töricht, zumal ein ungeordneter Brexit auch für sie peinlich und teuer wird.

Wie ein solches neues Referendum ausgeht, weiß heute niemand. Denn jeder Wahlkampf hat seine eigene Dynamik. Vieles spricht allerdings dafür, dass es zu einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung zwischen "Brexiteers" und "Remainers" käme, viel leidenschaftlicher als dies 2016 der Fall war. Vor allem junge Leute, die damals nicht zur Wahl gingen, wären hochmotiviert, sich zu äußern und zu beteiligen, wie ja auch schon die jüngsten Großdemonstrationen in britischen Großstädten gezeigt haben.

Manche Briten sagen, ein solches zweites Referendum könnte das Land tief spalten - vor allem dann, wenn es zur Revision des Brexit-Votums käme. Tatsache ist allerdings, dass Großbritannien längst gespalten ist, und zwar mehr denn je, nicht zuletzt dank des ersten Brexit-Votums und dessen politischen Folgen. Im Übrigen mag man mit Ironie rückfragen: Seit wann hat ausgerechnet das Mutterland der Demokratie Angst vor einer harten politischen Auseinandersetzung?

In gewisser Weise muss das Vereinigte Königreich zu seiner vielleicht stolzesten Tradition zurückfinden. Und die lautet: schwierigsten Fragen nicht feige ausweichen, sondern sie nach offener Diskussion beantworten. Und warum nicht auch im Ergebnis schwerwiegende Fehler rückgängig machen? Dies haben die Briten oft genug bewiesen: mit Größe im Kampf gegen Hitler, den Churchill nach Chamberlain beschwor, mit Grandezza bei der Preisgabe des Imperiums nach dem Zweiten Weltkrieg, als Gandhi den indischen Subkontinent in die Unabhängigkeit führte. Geht doch.