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Zwischen Erfolg und Unfrieden

Israel am Vorabend des 70. Unabhängigkeitstages
Israel

Die Altstadt von Jerusalem

© sangaku/ iStock / Getty Images Plus

Am 70. Jahrestag seiner Gründung blickt der Staat Israel auf eine beispiellose Entwicklung zurück und darf sich als „das erfolgreichste Start-up der jüngeren Geschichte des Nahen Ostens“ (Yossi Vardi, israelischer High-Tech Unternehmer) feiern. Aber das Land verharrt in Unfrieden, bleibt in einer instabilen Region militärisch bedroht und herrscht über ein anderes Volk. Israels Erfolgsgeschichte droht hinter der Unfreiheit und Lebenssituation der Palästinenser in ihrem historischen Rang zu verschwinden. In welcher Verfassung begeht also Israel seinen Unabhängigkeitstag? Der dem Unabhängigkeitstag vorausgehende Gedenktag für Israels in Krieg und Terror Gefallene ist unserem Autor Anlass für Betrachtungen zum israelisch-palästinensischen Konflikt, der auch an Israels 70. Geburtstag ungelöst ist.

Noch in der Nacht der Staatsgründung wurde Israel am 15. Mai 1948 von den arabischen Nachbarstaaten angegriffen, als Folge des Sechstagekrieges von 1967 herrscht Israel über die Palästinenser. Es sind die Zentraldaten des anhaltenden Konflikts zweier Völker und Ethnien um dasselbe Land, um die territoriale Definition ihrer Identität.

Israel ist ein Land, dessen Staatsgründung auch nach 70 Jahren noch immer nicht abgeschlossen ist, weil es keine endgültigen Grenzen hat und seine Hauptstadt Jerusalem de facto geteilt ist. Der jüdische Staat, und das ist Israel, befindet sich in einer Art chronischem Ausnahmezustand, seine Gesellschaft ist von den äußeren wie von inneren Konflikten tief geprägt. Aber Israel ist eine Demokratie, und die Palästinenser müssen verstehen, dass auch sie durch ihre Politik und ihre Strategie des Widerstandes beeinflussen, ob es in Israel eine demokratisch Mehrheit für Kompromiss und Frieden gibt oder ob nicht.

Politik ohne Vision

Eine Friedenslösung ist möglich, mit den aktuellen politischen Verantwortlichen ist sie aber kaum denkbar: Im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern sind eine Vision und die Hoffnung verlorengegangen, beide Seiten stehlen sich mit der Polemik aus der Verantwortung, sie hätten auf der Gegenseite „keinen Friedenspartner“. Israels Premierminister Netanyahu pflegt eine Politik des „Nicht-Friedens“ (sagt Efraim Halevy, ehemals Chef des Mossad), um seine Machtbasis im nationalistischen politischen Spektrum nicht zu gefährden, Palästinenserpräsident Abbas ist neun Jahre nach Ablauf des demokratischen Mandats seiner Wahl von 2005 ohne Legitimation, sieht sich gesellschaftlicher Unzufriedenheit gegenüber und hätte keine politische Kraft mehr für notwendige, dramatische Konzessionen in einem Friedensprozess.

Gesellschaften ohne Hoffnung

Beide Konfliktparteien glauben, dass sie Frieden wollen, die Gegenseite aber nicht. Beide glauben, dass die Unwägbarkeiten eines Friedenskompromisses schwerer wiegen als das, was es im Frieden zu gewinnen gäbe. Glaubten sie an die Möglichkeit von Frieden, wären sie zu den notwendigen Zugeständnissen bereit. Das beschreibt die psychologische Sackgasse des Konfliktes. Es herrscht eine beidseitige Angst vor dem Frieden. In den 1990er Jahren des Osloer Friedensprozesses war das anders, damals überwog eine – wenngleich skeptische – Hoffnung.

Zwischen Erfolg und Unfrieden
Die Mauer bei Bethlehem - Grenze zu Jerusalem © CC BY 2.0 Flickr.com/ SarahTZ

Heute liegt die palästinensische Gesellschaft in Agonie, die jungen Generationen haben resigniert und sind in großen Teilen unpolitisch. Auf israelischer Seite hat die Gleichgültigkeit gegenüber der Lebenssituation der Palästinenser und ihrem nationalen Anspruch zugenommen. Schriftsteller David Grossmann meint, Israel herrsche inzwischen ganz gerne über die Palästinenser. Diese leisten sich den Luxus einer politischen Spaltung im Inneren, bringen ein Bekenntnis zum Existenzrecht Israels allenfalls verschämt über die Lippen und finden nicht zu einer unzweideutig gewaltfreien Strategie, um ihre Staatlichkeit zu fordern. Was nach der Welle palästinensischer Gewalt der zweiten Intifada wiederum von Israels Friedensbewegung übriggeblieben ist, wird von der eigenen Regierung zu „linken Feinden Israels“ erklärt. Es ist fatal, wenn die Palästinenser von Gaza ihre aktuellen Proteste unter das Motto des „Marsches der Rückkehr“ stellen. Damit trägt ihr Widerstand eine Forderung nach Israel, die dort die Angst vor Zuwanderung, Instabilität und der Schwächung des jüdischen Staates schürt.    

Hindernisse für Frieden

Frieden im Nahen Osten, also eine Anerkennung Israels und die Normalisierung seiner Beziehungen mit den arabischen Staaten, wird es ohne die Anerkennung eines unabhängigen palästinensischen Staates nicht geben. Auch wenn man davon in Israel gerne träumt. Zudem: Es besteht auf beiden Seiten kein politischer Wille zu Kompromissen in den Kernfragen des Konfliktes, präziser: Kompromisslosigkeit ist die Essenz der demokratisch legitimierten Regierungspolitik Israels, Kompromissunfähigkeit ist die Essenz palästinensischer Politik, wo die Akteure über die Linien der Oslo-Verhandlungen von 1993 nicht hinausgehen wollen. Israelis und Palästinenser haben von einer Zwei-Staaten-Lösung und ihren Kernelementen (Grenzen, Sicherheit, Siedlungen, Rückkehrrecht und Jerusalem) eine jeweils gänzlich andere Vorstellung als der Kontrahent und Friedenspartner.

Kernpunkte einer Friedenslösung

Die Parteien sollten sich darauf einigen können, dass der palästinensische Staat entmilitarisiert sein und sich in einer Sicherheitskooperation mit Israel und entsprechenden Sicherheitsstrukturen engagieren wird. Die gegenseitige volle Anerkennung der Staaten in einem Friedensabkommen wird zu einer intensiven Kooperation auf allen Gebieten, vor allem in der Wirtschaft, führen. Für den Augenblick der Gründung des palästinensischen Staates sagt die Arabische Friedensinitiative von 2002 die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen aller arabischen  Staaten mit Israel zu. So wäre ein Prozess eröffnet, in dem über viele Jahre hinweg Vertrauen wachsen kann.

Strittig sind diese Punkte:

Ein palästinensischer Staat soll auf 22% des früheren Mandatsgebietes Palästina westlich des Jordan in den Grenzen des 4. Juni 1967, dem Tag vor Beginn des Sechs-Tages-Krieges, errichtet werden – das ist die Grundformel bisheriger Friedensverhandlungen. Ein Austausch gleichwertiger Gebiete auf der Grundlage eins zu eins ist denkbar. Dem stehen der Siedlungsbau und israelische Pläne zur Annexion palästinensischer C-Gebiete entgegen.

Die Palästinenser wollen die uneingeschränkte Souveränität ihres Staates, zu Land, Wasser und Luft, einschließlich des Zugangs zu den natürlichen Ressourcen wie Wasser, Gas und Bodenschätzen. Die Kontrolle über die Außengrenzen des zukünftigen Staates müsse unter palästinensischer Hoheit sein, ggf. im Zusammenwirken mit dritten Parteien wie den arabischen Nachbarn, den UN und der EU, nicht aber Israel. Israel will diese Souveränität nur eingeschränkt akzeptieren und besteht auf der Kontrolle der Außengrenzen des palästinensischen Staates.

Die Palästinenser fordern den Abbau aller Siedlungen und die Evakuierung aller Siedler, soweit deren – grenznahe – Siedlungen nicht Israel angegliedert und territorial ausgeglichen werden. Konsens in Israels Politik ist das Bestehen auf den großen Siedlungsblöcken Gush Etzion in der südlichen Westbank, Maale Adumim östlich von Jerusalem und Ariel im Norden. In einem territorialen Ausgleich könnte Land im Negev nahe Gaza an die Palästinenser gehen. Frühere Friedenspläne sahen die Räumung isolierter und illegaler Siedlungen ebenso vor wie einen Landkorridor (unter israelischer Souveränität und Kontrolle) zwischen der Westbank und Gaza.

Die Palästinenser wollen ihr Rückkehrrecht ganz grundsätzlich anerkannt sehen, ein Kompromiss mit der symbolischen Rückkehr von 100 - 300.000 Palästinensern ist ihre Formel. Für die Nachkommen der Flüchtlinge von 1948 soll darüber hinaus die Wiederansiedlung im zukünftigen Staat und die Aufnahme mit vollen Bürgerrechten in arabischen und anderen Drittstaaten zugesagt werden. Israel lehnt ein Rückkehrrecht kategorisch ab und will keine Nachkommen der palästinensischen Flüchtlinge und Vertriebenen ins Land lassen und das Flüchtlingsproblem außerhalb seiner Grenzen gelöst sehen, um den jüdischen Charakter des Staates nicht zu schwächen. Israel hatte in früheren Verhandlungen ein sehr viel kleineres als das von den Palästinensern geforderte Kontingent in Betracht gezogen.

Jerusalem (Ost) als zukünftige Hauptstadt Palästinas ist für die Palästinenser der wichtigste Bestandteil einer endgültigen Regelung. Israel beansprucht hingegen das gesamte Jerusalem einschließlich des im Grundgesetz von 1980 annektierten Ost-Jerusalem: „.. das vereinte Jerusalem .. (ist) in seiner Gesamtheit die Hauptstadt Israels“. In früheren Friedensverhandlungen konzedierte die israelische Seite eine Teilung der Souveränität über die jüdischen bzw. arabischen Stadtteile. Diese Formel hat die palästinensische Seite wegen der Frage der Souveränität über die in Ost-Jerusalem gebauten jüdischen Vorstädte (die sie als Siedlungen qualifizieren) nie akzeptiert. Die Palästinenser bieten Israel in einer geteilten Souveränität die gemeinsame Verantwortung für die kommunale Infrastruktur an.

Die Souveränität über die Altstadt von Jerusalem ist mit der Annexion für Israel geklärt, sie ist einschließlich der Heiligen Stätten integraler Bestandteil des Staates. Anders die Position der Palästinenser, der folgend frühere Friedenspläne das Modell der Souveränitätsausübung durch eine internationale Staatengruppe entwickelt haben. Die Palästinenser sehen darin das einzige geeignete Arrangement für die Sicherung der freien Religionsausübung und für den Zugang zu den Heiligen Stätten.

Zwischen Erfolg und Unfrieden
Trumps Entscheidung, die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen, wurde scharf kritisiert © CC0 Pixabay.com/ greissdesign

Jerusalem – vereint und geteilt 

Wenn die Akteure in Jerusalem und Ramallah selbst zum Frieden unfähig sind, geht der Blick nach Washington. Dort entschied Präsident Trump, die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen. Und, dramatischer, fügte er die Aussage an: „Die Frage Jerusalems ist vom Tisch“.

Trumps Entscheidung wird selbst von israelischen Kommentatoren ohne Enthusiasmus als ein Schritt zur Unzeit bewertet, der die Kontrahenten einer Zwei-Staaten-Lösung nicht näherbringt. Die Entscheidung ist eine Mitgift zu den Feierlichkeiten zu Israels 70. Geburtstag, und Israel darf sich über eine Geste der Solidarität seines wichtigsten Verbündeten freuen, aber weder löst sie die Frage nach den Grenzen des israelischen und des palästinensischen Jerusalem, noch bringt sie irgendeine positive Dynamik in die (fehlende) Bereitschaft beider Seiten zu einer Verhandlungslösung. Die Amerikaner werden von der palästinensisch-arabischen Seite erst einmal nicht mehr als Vermittler im Konflikt anerkannt, und die Position der internationalen Gemeinschaft einschließlich Deutschlands und der Europäischen Union bleibt unverändert dieselbe wie vor der Entscheidung. Die Verlegung der Botschaft zementiert die Stagnation in den Positionen der Seiten.

Nicht nur skeptischer Ausblick

Es gibt nach Trumps Entscheidung zu Jerusalem keinen internationalen Akteur von Gewicht, dessen Mediation beide Seiten zu folgen bereit wären. So sehen wir derzeit nur Hindernisse und keine Politiker mit der Fähigkeit zu einem aus harten Kompromissen zu schmiedenden Frieden.

Im Schatten des Konfliktes hat Israel unter widrigsten Umständen eine Erfolgsgeschichte geschrieben, die ein kleines Wunder ist. Israels stabile Rechtsstaatlichkeit, seine parlamentarische Demokratie in einer Region ohne demokratische Tradition, die Aufnahme und Integration von Millionen von Zuwanderern, die wirtschaftliche Stabilität und Innovationsfähigkeit sind ebenso zu würdigen wie seine engagierte Zivilgesellschaft, die sich auch für die Belange von nicht-jüdischen Bevölkerungsgruppen einsetzt und einen politischen Diskurs führt, der plural, scharf und lebendiger ist als in irgendeiner anderen liberalen Demokratie.

Zwischen Erfolg und Unfrieden
Flugparade über Tel Aviv anlässlich des 61. israelischen Unabhängigkeitstags © CC BY 2.5 commons.wikimedia.org/ אורן פלס Oren Peles

Am Jahrestag von Israels Unabhängigkeit darf man den Kontrahenten wünschen, dass sie zu Frieden finden und in hoffentlich weniger als 70 weiteren Jahren auch die Palästinenser das gewonnen haben werden, was die israelische Nationalhymne, die ‚Hatikva‘, so bewegend besingt: „ ... zu sein ein freies Volk, in unserem Land”. Und der Staat Israel möge in seinem Existenzrecht, seinem Recht, in Sicherheit zu leben, in seiner Identität und Legitimität als Nationalstaat des jüdischen Volkes von allen Staaten der Region anerkannt werden. Das ist der doppelte Traum an diesem Geburtstag.

Ulrich Wacker ist Projektleiter Israel und Palästinensische Gebiete der Friedrich-Naumann-Stiftung Jerusalem.