EN

Türkei
„Der Staat kommt an erster Stelle“ – Meinungsumfrage zu Grundrechten und Datenschutz in der Türkei

Passanten in Ankara
Passanten im historischen Zentrum vom Ankara © picture alliance

Um Menschenrechte und Datenschutz ist es in der Türkei nicht zum Besten bestellt. Daran hat auch die Corona-Krise nichts geändert. Eher das Gegenteil ist der Fall. „Wir sehen eine Verschlechterung der Situation der liberalen Rechte“, sagt Can Selcuki, Direktor des Meinungsforschungsinstituts „Istanbul Ekonomi Arastirma“, bei der Vorstellung einer aktuellen Umfrage zu den Einstellungen der türkischen Bevölkerung zum Datenschutz und den Bürgerrechten. Das Projekt ist Teil der #LiberalHomeworksOnline-Serie, die das Projektbüro Istanbul der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Zuge der Pandemie umgesetzt hat.  

In der Studie, die nun der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, gehen die Meinungsforscher der Frage nach, wie die türkische Bevölkerung zu den Freiheitsrechten steht, welche ihnen wichtig sind und auf welche sie einen weniger großen Wert legen.

Die Erhebung zeigt eine – wenn es um die Grundfrage des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat geht – tiefgespaltene türkische Gesellschaft. Die Polarisierung zwischen Befürwortern und Gegnern von Präsident Erdogan zeigt sich exemplarisch in den Antworten auf die Frage, ob der Staat in bestimmten Situationen berechtigt ist, die Bürgerrechte einzuschränken oder nicht. Über 40 Prozent der Befragten sind der Meinung, der Staat darf dies, wenn er es für geboten hält. Besonders ausgeprägt ist diese Position im Lager der Regierungsanhänger.

Aus liberaler Sicht beunruhigend ist das Ergebnis, dass lediglich 23 Prozent der Befragten meinen, dem Staat stehe es nicht zu, die Grundrechte einzuschränken. Staatsgläubigkeit zu Lasten der Rechte des Einzelnen habe in der Türkei Tradition, sagt die Meinungsforscherin Ilkem Gök. „Unsere Ergebnisse zeigen die Kultur der Türkei. Der Staat kommt an erster Stelle und das Individuum ist zweitrangig.“

Der türkische Staat sollte Grundrechte außer Kraft setzen dürfen, wenn er dies für geboten hält.

Sorge um den Rechtsstaat

Auf die Frage, welches Grundrecht für sie am wichtigsten ist, nennen 65 Prozent das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren. Wenn rund zwei Drittel dieses Grundrecht für elementar erachten, deutet dies auf den Vertrauensverlust vieler Türken in den Rechtsstaat hin. Belege, über den Unabhängigkeitsverlust der türkischen Justiz, häufen sich. Die Umfrage zeigt, dass viele Menschen hiermit ein Problem haben – und zwar parteiübergreifend.

Bemerkenswert ist, dass der Unmut über die Aushöhlung der Rechtssicherheit bis in die Reihen der regierenden AKP reicht. Die Daten liefern einen weiteren Beleg für die Erosion im Erdogan-Lager. Dass es um den Zusammenhalt der Regierungspartei nicht zum Besten steht, zeigt unter anderem die Gründung von zwei neuen Parteien durch entfremdete Ex-Vertraute des Präsidenten. Der Vorwurf der Aushöhlung des Rechtsstaates ist auch im konservativen Lager nicht zu überhören.     

Die Reisefreiheit kommt mit 61 Prozent der Nennungen auf den zweiten Rang der wichtigsten Grundrechte. Dies hängt mit den weitreichenden Bewegungsbeschränkungen in der Hochphase der Corona-Krise zusammen.

An dritter Stelle rangiert die Meinungsfreiheit, die 59 Prozent der Befragten für ein wichtiges Grundrecht halten. Gleichwohl: 34 Prozent der Befragten – also gut ein Drittel – sind der Ansicht, die Regierung habe das Recht, Nachrichten zu unterbinden, wenn sie es für geboten hält. Diese Zahlen zeigen: Erdogan hat eine vergleichsweise große Zahl von Landsleuten auf seiner Seite, wenn er gegen die Presse und oppositionelle Stimmen in den sozialen Medien zu Felde zieht.

Bei der Jugend sieht das Ergebnis allerdings anders aus: In der Altersgruppe zwischen 18 und 24 Jahre ist der Zuspruch für die Meinungsfreiheit und die Rechte der Opposition am höchsten. Auch in der Türkei ist erkennbar, dass die nachwachsende Generation liberalere Einstellungen hat als ältere Menschen. Das heißt aber nicht, dass die Jugend in Scharen zu den offiziellen Oppositionsparteien strömt. „Junge Menschen sind auf örtlicher Ebene in zivilgesellschaftlichen Gruppen aktiv“, sagt Özgehan Senyuva von der Middle East Technical University. „Sie halten nicht Ausschau nach einem alten Mann, der sie retten will.“

Politischer Hoffnungsschimmer?

Seit den gewaltsam beendeten Protesten um und über den Istanbuler Gezi-Park im Jahre 2013 ist es auf türkischen Straßen ruhiger geworden, politisch motivierte Demonstrationen sind eine Seltenheit. Auf die Frage, welchen friedlichen Protesten sie zustimmen, erhielten Demonstrationen für die Erhöhung des Mindestlohnes, Frauenrechte und Umweltschutz die höchsten Zustimmungswerte. Am Ende der Skala rangieren Proteste der LGBTI-Bewegung. Diese ist in der Türkei gut aufgestellt, indes nicht zuletzt aus kulturellen Gründen mit vielen Anfeindungen konfrontiert.

In ihrem Zahlenwerk erkennen die Meinungsforscher einen politischen Hoffnungsschimmer. „Die Ergebnisse zeigen, dass ungeachtet der Polarisierung in der Gesellschaft, die Anhänger der unterschiedlichen Parteien in wichtigen Fragen einer Meinung sind“, heißt es in der Studie. Dabei geht es vor allem um die Akzeptanz von Bürgerprotesten in sozialen Fragen und beim Schutz der Umwelt.

Der Datenschutz hat in der Türkei einen schweren Stand. Ohne lange Diskussionen hat die Regierung zu Beginn der Krise eine Corona-Warn-App eingeführt. Von Freiwilligkeit oder Schutz der persönlichen Daten kann keine Rede sein. Wer das Flugzeug besteigen oder mit dem Zug übers Land fahren will, muss die Regierungs-App auf das Smart-Phone laden. Die Akzeptanz der Anwendung ist jedoch eher bescheiden. Laut einem Medienbericht haben fünf Prozent der Bevölkerung die App heruntergeladen. Laut der vorliegenden Meinungsumfrage wollen rund die Hälfte der Türkinnen und Türken die App verschmähen. Diese Zahl belegt, dass auch in Erdogans Türkei der Zugriff des Staates auf das Leben der Menschen Grenzen hat.