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Mexico
Kehrt in Mexiko der Populismus alter Schule zurück?

Birgit Lamm, Büroleiterin der Stiftung in Mexiko-Stadt, über die anstehenden Wahlen
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Der Palacio Nacional (Nationalpalast) ist Sitz der Regierung von Mexiko. Er liegt am Zócalo, dem zentralen Platz von Mexiko-City.

© iStock / Getty Images Plus / stockcam

Mexiko steht am 1. Juli vor der größten Wahl seiner Geschichte. Noch nie wurden so viele politische Ämter gleichzeitig vergeben. Neben dem Präsidenten stehen 128 Senatoren, 500 Kongressabgeordnete, neun Gouverneure sowie rund 2.600 kommunale und regionale Mandate (Bürgermeister, Stadträte, regionale Abgeordnete) zur Wahl. Die mediale Aufmerksamkeit richtet sich jedoch vor allem auf die Präsidentschaftswahl. Um das Präsidentenamt bewerben sich drei Kandidaten, die von programmatisch sehr heterogenen Wahlbündnissen unterstützt werden sowie ein unabhängiger Kandidat ohne Parteibindung.

Für die derzeitige Regierungspartei PRI (Partido Revolucionario Institucional) und ihr Wahlbündnis „Todos por México“ (Alle für Mexiko) tritt der parteilose bisherige Finanzminister José Antonio Meade an. Der erst 39-jährige Parteiführer des konservativen PAN  (Partido Acción Nacional) Ricardo Anaya tritt für das Parteienbündnis „Por México al Frente“ (Für Mexiko nach vorne) an, das neben seiner eigenen Partei auch die sozialdemokratischen Parteien PRD (Partido de la Revolución Democrática) und Movimiento Ciudadano umfasst. Der dritte und aussichtsreichste Kandidat ist der Parteichef der linken Sammlungsbewegung MORENA, Andrés Manuel López Obrador („AMLO“), der für das Wahlbündnis „Juntos haremos historia“ (Gemeinsam werden wir Geschichte schreiben) antritt, das aus der kommunistischen Arbeiterpartei PT, der wertekonservativen, evangelikalen Partei Encuentro Social und MORENA besteht.

Mexiko erlebt somit einen Paradigmenwechsel im Parteienspektrum. Die Dauerregierungspartei PRI wird mit ihrem traditionellen Wahlbündnis aus der Lehrerpartei Nueva Alianza und der Grünen Ökologischen Partei PVEM wohl bei den Wahlen am 1. Juli abgeschlagen auf dem dritten Platz landen. Nach Meinungsumfragen wird der Linkspopulist Andrés Manuel López Obrador die Wahl mit deutlichem Vorsprung vor dem konservativen Kandidaten Ricardo Anaya gewinnen. Damit erteilen die von der politischen Klasse generell enttäuschten Mexikaner dem Establishment eine Absage und stimmen für einen Kandidaten, der sich über die letzten Jahre erfolgreich als Alternative zu den etablierten Politikern und Parteien etablieren konnte. "AMLO", der seit 2006 jetzt zum dritten Mal für das Präsidentenamt kandidiert, führte einen konsequenten anti-System-Wahlkampf gegen die "korrupte Mafia der Macht", wie er es nennt. Dabei ist er selbst kein Außenseiter, sondern ein Berufspolitiker, der seine Karriere bei der jetzigen Regierungspartei PRI als Landesvorsitzender des Bundestaates Tabasco begann, dann mit führenden Politikern des linken PRI-Flügels die sozialdemokratische Partei PRD gründete und 2000 als Bürgermeister von Mexiko-Stadt für diese Partei politische Verantwortung übernahm. Nun tritt er mit seiner Bewegung MORENA gegen diese Parteien zur Präsidentschaftswahl an und hat sehr gute Aussichten, das Rennen im dritten Anlauf zu machen und die abgewirtschaftete PRI zu beerben.

Schlechter Pakt für Mexiko

Dabei sah es 2012 zum Amtsantritt des aktuellen Präsidenten Peña Nieto gar nicht so schlecht aus für die alte Regierungspartei PRI. Nach 12 Jahren Opposition und zwei PAN-Regierungen war der PRI wieder an die Macht zurückgekehrt. Der „schmutzige Krieg“ gegen die Drogenkartelle von Präsident Calderón hatte seit 2006 für einen Anstieg der Gewalt mit tausenden von Todesopfern im Lande gesorgt. Deshalb gaben die Wähler 2012 dem „neuen, reformierten“ PRI und ihrem jungen, strahlenden Präsidentschaftskandidaten Enrique Peña Nieto die Chance, das Vertrauen die Regierung zu übernehmen. Bereits direkt nach seinem Amtsantritt im Dezember 2012 trat Präsident Peña Nieto mit einem ehrgeizigen und strategischen Reformprojekt, dem sog. „Pakt für Mexiko“ an die Öffentlichkeit. Sein Stern sank jedoch schnell und drastisch, als er selbst und die „neue PRI-Generation“ in immer weitere, große Korruptionsfälle verwickelt wurden. Letztlich erwies sich die „neue PRI-Generation“ als mindestens ebenso korrupt wie ihre Vorgänger. Hinzu kommt eine negative Bilanz im Bereich öffentliche Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Das Ansehen der Regierung sank auf ein Rekordtief, aus dem sie sich bis heute nicht befreien konnte. Schon bei den „mid-term elections“  2015 zeigte sich, dass die Machtbasis der Regierungspartei deutlich bröckelte. Dieser Trend hat sich konsequent weiter fortgesetzt.

Um überhaupt eine Chance bei diesen Wahlen zu haben, entschied sich die Regierungspartei PRI bewusst für einen Kandidaten, der nicht dem engen Kreis der Vertrauten um Präsident Peña Nieto zugerechnet wird: den parteilosen Technokraten José Antonio Meade. Allerdings zeigte sich bald, dass der wenig charismatische, aber regierungserfahrene Wirtschaftsfachmann im Duell mit den anderen Kandidaten keine Chance hatte. Das Negativ-Image des PRI ist einfach zu übermächtig und ließ ihn kaum ein eigenes Profil gewinnen. Die politische Konjunktur favorisiert Andrés Manuel López Obrador.

"Der Wahlkampf hat die Öffentlichkeit stark polarisiert."

Birgit Lamm

Der Wahlkampf hat die Öffentlichkeit stark polarisiert, denn an López Obrador scheiden sich die Geister: Während “AMLOs“ Anhänger ihn als den Retter Mexikos sehen, wird er von seinen Gegnern als zweiter Hugo Chávez gesehen, der Mexiko in ein nordamerikanisches Venezuela verwandeln will. Diese Polarisierung des Wahlkampfes kommt der Strategie von López Obrador sehr entgegen. Seine Gegenkandidaten haben sich auf weite Strecken darauf eingelassen, direkt einen negativen Wahlkampf gegen ihn zu führen und haben so - ungewollt - AMLO und seine Botschaft im Gespräch gehalten. Trotzdem reißt auch er die Mehrheit der Mexikaner nicht wirklich mit. Nach vielen Korruptionsskandalen quer durch alle politischen Lager und einer Welle der Gewalt ist die Politik generell bei den Bürgern diskreditiert und viele Menschen haben eher den Eindruck, sich für das kleinste Übel entscheiden zu müssen.

Wenn es auch als sehr wahrscheinlich gilt, dass die jahrzehntelange Vorherrschaft der PRI am 1. Juli zu Ende geht, bedeutet das jedoch nicht das Ende des etablierten Politikstils der PRI. Die PRI hatte lange ihre Vormachtstellung durch klientelistische Strukturen und Allianzen mit gesellschaftlichen Massenorganisationen und Interessengruppen abgesichert, deren Führer im Austausch für politischen Einfluss und Ämter ihre Mitglieder eher kontrollierten als dass sie deren Interessen vertraten. Diese Allianzen funktionieren jetzt in dieser vertrauten Form nicht mehr für die PRI. Ironischerweise ist es gerade der MORENA-Kandidat López-Obrador, der in seinem Wahlkampf den rückwärtsgewandten, traditionell klientelistischen Politikstil der PRI fortsetzt: er zeichnet sich aus durch eine nationalistische, messianische Rhetorik und einen fast ausschließlich auf ihn persönlich zugeschnittenen Wahlkampf mit wenigen bis gar keine oder widersprüchliche Aussagen. Hinzu kommen Allianzen mit zum Teil sehr fragwürdigen Gewerkschaftsführern und Politikern alter Schule, die seine Botschaft vom Neuanfang und der "Transformation" Mexikos zweifelhaft erscheinen lassen. Sein autoritärer Führungsstil als Parteivorsitzender, der kaum innerparteiliche Demokratie zulässt, erinnert an den klassischen Präsidial-Populismus der PRI bis in die 1980er Jahre.

Der eigentliche Außenseiter unter den vier Präsidentschaftskandidaten ist der Konservative Ricardo Anaya. Er ist zudem der einzige Kandidat ohne PRI-Vergangenheit im politischen Werdegang. Letzteres könnte als Vorteil gelten, es ihm jedoch nicht gelungen, sich im Wahlkampf und in den drei TV-Kandidatendebatten als Alternative zu positionieren. Die hohen Opferzahlen des schmutzigen Drogenkrieges aus der Regierungszeit von PAN-Präsident Calderón (2006-2012) haben die Mexikaner noch nicht vergessen. Dazu kommen unbewiesene Geldwäsche-Vorwürfe, die zu Beginn des Wahlkampfes gegen ihn erhoben wurden und die ihn daran hinderten sich auf seine eigene Kampagnen-Agenda zu konzentrieren.

Der Wahlkampf selbst war stark geprägt durch persönliche Angriffe der Kandidaten untereinander. Sachthemen spielten kaum eine Rolle. Zu den wichtigen aktuellen Themen wie Korruption, öffentliche Sicherheit und Kriminalität konnte kein Kandidat ein schlüssiges Konzept präsentieren. Als Journalisten fragten, wie man die organisierte Kriminalität denn bekämpfen wolle, antwortet Anaya, das man eine neue zivile Kultur schaffen müsse, AMLO wollte gar eine Amnestie für Bandenmitglieder erlassen und der unabhängige Kandidat Jaime Rodríguez forderte, Kartell-Mitgliedern die Hand abzuhacken (!).

Historisch große Wahl

Unbestreitbar ist, dass Mexiko seit einem Jahr eine beispiellose Welle der Gewalt erlebt. Einerseits ist dies zurückzuführen auf den Kampf der Kartelle um neue Einflusszonen nach der Auslieferung des Drogen-Kartell-Chefs Chapo Guzman an die USA. Andererseits war und ist politische Gewalt leider immer ein Teil des politischen Lebens in Mexiko. Rückt der Wahltermin näher, eskaliert die Gewalt. Sie ist diesmal auch besonders ausgeprägt, weil noch nie so viele Mandate zur Wahl standen. Hinzu kommt der zu erwartende politische Paradigmenwechsel. Von den bisher über 120 Morden und rund 400 Gewalttaten gegen Parteiaktivisten und Wahlkämpfer, sind alle Parteien betroffen, generell trifft es aber v.a. die jeweiligen Oppositionskandidaten auf lokaler und regionaler Ebene. Kandidaten für Ämter auf Bundesebene sind weniger betroffen. Grund dafür ist, dass Oppositionskandidaten mit Aussicht auf einen Wahlsieg die bisherigen Machtkonstellationen und –vereinbarungen zwischen organisiertem Verbrechen und Politik in Frage stellen. Da kriminelle Banden in erster Linie Interesse daran haben, Einfluss auf Territorien zu gewinnen, steht vor allem die kommunale und regionale Ebene im Fadenkreuz. Brennpunkte dieser politischen Verbrechen sind die beiden armen südlichen Bundesstaaten Guerrero und Oaxaca, die durch das organisierte Verbrechen stark dominiert werden.

Ob die letzten Umfragen, die den klaren Sieg von MORENA und Andrés Manuel López Obrador voraussagen, tatsächlich so eintreffen, bleibt abzuwarten. Umfragen sind in Mexiko generell unzuverlässiger geworden, weil sich viele der grossen Gruppe der Wechselwähler immer später entscheiden. Zudem konzentrieren sich die Meinungsumfragen stark auf die urbanen Zentren und vernachlässigen die Stimmungslage in den ländlichen Räumen, die traditionell bisher PRI wählten. Die ländliche Wählerschaft macht offiziell rund 20% der Wähler aus.

Für den Handlungsspielraum des zukünftigen Präsidenten spielen auch die Ergebnisse der Gouverneurswahlen und die Parlamentswahlen eine erhebliche Rolle. Für die beiden Kammern des Parlaments wird ebenfalls eine Mehrheit für MORENA prognostiziert. Bei den neun anstehende Gouverneurswahlen gilt MORENA als klarer Favorit in fünf  Bundesstaaten (Mexiko-Stadt, Veracruz, Chiapas, Tabasco und Morelos), der konservative PAN in zwei Bundesstaaten (Guanajuato und Yucatán), während Movimiento Ciudadano als aussichtsreichste Partei im Staat Jalisco gilt. Im wichtigen Bundesstaat Puebla liefern sich PAN und MORENA ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Sollten sich die Prognosen für die Gouverneurswahlen so bewahrheiten, würde die derzeitige Regierungspartei PRI nur noch zwölf der 32 Bundesstaaten kontrollieren. Damit wäre eine seit 1929 andauernde strukturelle Vorherrschaft des PRI, wohl die längste einer Partei überhaupt, beendet.

In jedem Fall wartet auf die neue Regierung eine Herkules-Aufgabe: Innenpolitisch muss sie sich mit der prekären Sicherheitslage, einer allgegenwärtige Korruption und einer immer stärkeren Durchsetzung von Politik und Verwaltung durch das organisierte Verbrechen auseinander setzen. Außenpolitisch muss Mexiko auf die Unberechenbarkeit der US-Regierung Trump reagieren. Wachstumsimpulse, die der Industrieregion Mexikos hohe Wachstumsraten bescheren, müssen auf die armen und rückständigen südlichen Landesteile ausgeweitet und die schwachen staatlichen Institutionen gestärkt werden. Schlüssige Konzepte dafür hat kein Kandidat überzeugend präsentiert. Wer immer das Rennen macht, Mexikos Zukunft bleibt ungewiss.

Mord, Korruption und die Rückkehr des „Populismo". Am Morgen nach der Wahl analysiert unsere Büroleiterin in Mexiko-Stadt für uns das Wahlergebnis. Um 16:30 live bei uns auf Facebook. Sei dabei! 

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