EN

Machtkampf im Libanon

Verfassungsgerichtspräsident adressiert aktuelle Herausforderungen der libanesischen Verfassung in “Garage 664”
Beirut
Blick auf das nächtliche Beirut © CC BY 2.0 Flickr.com/ Ahmad Moussaoui

Gegenwärtig überschattet ein Disput zweier Verfassungsorgane den Libanon. In einer ohnehin turbulenten Zeit droht sich dieser Streit zu einem Machtkampf auf dem Rücken der libanesischen Verfassung auszuwachsen, der die komplexe Machtteilungsformel im Libanon in Frage stellen könnte. Mal wieder. Welche Bedeutung hat eine Verfassung, die nur schwer zu schützen ist, aber von jedem anders interpretiert wird? Unter Schirmherrschaft der Deutschen Botschaft im Libanon und in Partnerschaft mit allen deutschen politischen Stiftungen fand nun in der Garage 664, dem Büro der Stiftung für die Freiheit im Libanon, ein Gespräch mit dem Präsidenten des libanesischen Verfassungsgerichtes statt, welches der Frage nachging, wo im Libanon die Probleme liegen und wie sie angegangen werden müssen.

Libanons Konflikte auf dem Rücken der Verfassung

Eigentlich hat der Libanon schon genügend „dicke politische Bretter“ zu bohren. Ein Ausblick auf die Herausforderungen des kleinen Zedernstaates lässt jedenfalls nur wenig andere Schlüsse zu. In den nächsten Monaten sollten die Staatsfinanzen saniert, die ersten Parlamentswahlen seit 2009 organisiert, die nun schon seit Jahren andauernde Flüchtlingsfrage gemeistert und die Umsetzung der Selbstverpflichtung zur Neutralität in Bezug auf Regionalkonflikte eingehalten werden. Dies sind nur einige der anstehenden Schwierigkeiten. Dennoch ist das derzeit alles überragende innenpolitische Thema die Auseinandersetzung um einen eskalierenden Kompetenzstreit zweier Verfassungsorgane. Hintergrund des Streits zwischen Staatspräsident Michel Aoun und Parlamentspräsident Nabih Berri ist ein Dekret zur Beförderung von 200 Offizieren der libanesischen Armee (davon 185 Christen, 15 Muslims), die direkt unter Präsident Aoun gedient hatten, als dieser Ende der 1980er Jahre Oberbefehlshaber der Armee war. Berri beklagt insbesondere eine Verschiebung der religiösen Balance zugunsten der Christen. In diesem – seit Mitte Dezember andauernden – Streit hat sich inzwischen Premierminister Saad Hariri eingeschaltet. Auch Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah hat in einem Fernsehinterview angekündigt, in der Auseinandersetzung vermitteln zu wollen. Der Disput überschattet derzeit alles und droht sich zu einem Machtkampf auszuwachsen, der die komplexe Machtteilungsformel im Libanon in Frage stellen könnte.

Konfliktreiche Situationen auf dem Rücken der Verfassung auszutragen, hat durchaus einige Tradition im Libanon. Als die Amtszeit von Staatspräsident Emile Lahoud im Jahr 2007 endete, wählte das Parlament beispielsweise zunächst keinen Ersatz und blieb für sieben Monate in einem Zustand der Lähmung. Verschiedene Initiativen wurden organisiert, um dies zu lösen, darunter eine Reihe von Dialogsitzungen, die von der Schweiz organisiert wurden (der Mont-Pèlerin-Prozess 2007). Erst im Mai 2008 wurde in Doha eine Vereinbarung erzielt, Michel Suleiman als Präsident zu wählen. Als Suleimans Amtszeit als Präsident im Mai 2014 ablief, war das Parlament erneut nicht in der Lage, einen Nachfolger zu wählen, diesmal über zwei Jahre. Die Krise war so akut, dass die Abgeordnetenkammer ihr eigenes Mandat einseitig verlängerte. Diese Krise wurde erst im Oktober 2016 gelöst, als Michel Aoun vom Parlament gewählt wurde, nach 44 Fehlversuchen.

Auch das Verfassungsgericht selbst war längere Zeit nicht in der Lage, seiner verfassungsgemäßen Funktion nachzukommen. Vor allem aufgrund von Zusammensetzungsfragen, welche sich aus den unklaren Verfahrensregeln der Verfassung ergeben.

Mehr Handlungskompetenz für das libanesische Verfassungsgericht

In seiner aktuellen Form wurde das libanesische Verfassungsgericht im Jahr 1993 etabliert. An seiner Spitze steht der Verfassungsrat, bestehend aus zehn Mitgliedern. Jeweils fünf Mitglieder werden vom Parlament und Ministerrat für einen Zeitraum von sechs Jahren ernannt. Die Aufgaben des Gerichts bestehen darin, sowohl Wahlen zu überwachen, als auch Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung zu überprüfen. In beiden Fällen kann das Gericht – wie in Deutschland auch – aber nicht aus eigener Initiative handeln. Hier sieht der aktuelle Präsident Issam Sleiman den größten Verbesserungsbedarf. Damit das Gericht effektiv handeln kann, braucht es ein Initiativrecht. Zudem steht die aktuelle konfessionelle Staatsordnung im klaren Widerspruch zur Verfassung. Seit dem Abkommen von Taif 1989 ist es das erklärte Ziel des Libanons, sein konfessionelles System zu ersetzen. Noch immer gelten jedoch effektiv die alten Regeln, nach denen Sitze im Parlament nach Religionszugehörigkeit vergeben werden. Das Verfassungsgericht ist hier machtlos und kann die Politik nicht dazu zwingen, dem Abkommen von Taif endlich nachzukommen und ein überarbeitetes System einzurichten. Denn auch bei der Überprüfung von Gesetzen hat das Verfassungsgericht kein Initiativrecht. Dies steht nur dem Staatspräsidenten, dem Premierminister, dem Präsidenten des Parlaments und einer Zusammensetzung von mindestens zehn Parlamentariern zu. Allerdings muss dies innerhalb von 50 Tagen nach Verabschiedung eines Gesetzes geschehen, danach kann es nicht mehr angefochten werden. Dadurch bleiben alte, überholte Gesetze unantastbar, selbst wenn sie in klarem Widerspruch zur Verfassung stehen.  

Unabhängigkeit als persönliche Verantwortung

Essentiell, so Issam Sleiman, ist für ein Gericht, dass es von der Politik unabhängig bleibt, um seine Arbeit ausführen zu können. Im Libanon bestimmen jeweils das Parlament und der Ministerrat zu Hälfte, wer im Verfassungsgericht sitzt. Das immer wiederkehrende Problem ist, die Ernennung als politisches Instrument zu nutzen. Ernennt das eine Verfassungsorgan Mitglieder, mit denen das andere nicht einverstanden ist, kann die Ernennung der restlichen Richter absichtlich verzögert werden. Dadurch wird die Bildung eines neuen Rates von Verfassungsrichtern beliebig in die Länge gezogen und das Gericht komplett handlungsunfähig gemacht. Wichtiger als der Schutz vor politischen Machtspielen ist für den Verfassungsgerichtspräsidenten allerdings die individuelle Pflicht eines jeden Richters, sich nicht von der Politik beeinflussen zu lassen. Seiner Erfahrung nach ist es die wichtigste klare Linie, die es einzuhalten gilt. Für Issam Sleiman ist es also nicht notwendig, das System zu ändern, um die Unabhängigkeit der Richter zu garantieren. Er sieht die Verantwortung bei jedem Einzelnen, sich gegen die Einflussnahme zu wehren und mit gutem Beispiel voran zu gehen.

Ausblick

Ob das Gericht seiner Verantwortung in der aktuellen Form gerecht werden kann, bleibt fraglich. Die Befugnisse sind beschränkt und das komplizierte politische Klima des Landes erschwert jeden Schritt. Aus liberaler Sicht bleibt zu wünschen, dass vor allem die Anfechtung von Gesetzen eine baldige Reform erlebt und beispielsweise auch einfache Bürger die Möglichkeit haben, ihre Anliegen vor das Gericht zu tragen. Für die aktuellen Fragen des oben genannten Konflikts zwischen dem Staatspräsidenten und dem Präsidenten des Parlaments über die Beförderung von 200 Offizieren kommen all diese Überlegungen wohl zu spät. Aber vielleicht bringen ja die anstehenden Parlamentswahlen im Mai 2018 neuen Schwung in die Debatte und treiben dringend benötigte Reformen voran.

Dirk Kunze ist Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit für den Libanon und Syrien

Philip Müller ist Praktikant im Stiftungsbüro Beirut.

Die Veranstaltung mit dem Verfassungsgerichtspräsidenten fand statt im Rahmen des “Lebanese Youth Constitutional Dialogues (LYCD)“ Projektes, welches die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Libanon unter Schirmherrschaft der Deutschen Botschaft im Libanon und in Partnerschaft mit allen deutschen politischen Stiftungen im Libanon sowie den lokalen Partnern „Beyond“ (https://www.beyondrd.com/) und International Institute for Democracy and Electoral Assistance (International IDEA) (https://www.idea.int/) durchführt.