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Schulschließungen und ihre Folgen für eine Volkswirtschaft

Wie robust sind die modernen gesellschaftlichen Arrangements der Volkswirtschaften?
Leeres Klassenzimmer
Ein leeres Klassenzimmer in Deutschland © picture alliance

Im Kampf gegen die Ausbreitung von Covid-19 mussten Regierungen bereits radikale Schritte unternehmen. Dazu gehörte unter anderem die Schließung von Schulen und Kindertagesstätten. In insgesamt 173 Staaten wurden bereits landesweite Schulschließungen verhängt, in vier erfolgten Schließungen örtlich begrenzt. In Deutschland fällt der Unterricht für elf Millionen Schüler aus, weltweit sind es 1,5 Milliarden.

Anders als bei Pandemien in der Vergangenheit – etwa der Spanischen Grippe 1918/19 – hat sich die Arbeitsgesellschaft insbesondere im globalen Westen erheblich verändert. In den 36 OECD-Staaten ist durchschnittlich in 61 Prozent der Haushalte mit Kindern bis 14 Jahren jeder Erwachsene erwerbstätig. Die Spitze bildet Schweden mit 83 Prozent, in Deutschland sowie den USA sind es jeweils rund 64 Prozent. Schul- und Kitaschließungen treffen diese Haushalte besonders schwer, wenn die Eltern nicht im Home Office oder zu flexiblen Arbeitszeiten tätig sein können.

Grafik OECD
Grafik der OECD zum Erwerbsstatus in Haushalten mit Kindern, 2018

Studien zu ökonomischen Auswirkungen von geschlossenen Schulen in Zeiten einer Pandemie wurden in den 2000ern vor allem in Großbritannien durchgeführt, wo der Anteil erwerbstätiger Eltern nahezu identisch zu Deutschland ist. Den Berechnungen der Londoner Gesundheitsforscher Zia Sadique und Elisabeth Jane Adams zufolge müssten 16 Prozent der gesamten arbeitenden Bevölkerung aufgrund der Fürsorge für Kinder unter 16 Jahren um eine Freistellung bitten.

Besonders betroffen wären Berufsgruppen im Gesundheits- und Sozialbereich, in welchem bis zu 30 Prozent ihrer Tätigkeit nicht nachgehen könnten. Gerade diese Berufsgruppen haben keinerlei Möglichkeiten von zu Hause aus zu arbeiten und nicht die finanziellen Ressourcen, um anderweitig Hilfe zu engagieren. Zudem werden sie in Zeiten einer Pandemie für die Betreuung von Kranken und Schwachen gebraucht. Auf vorübergehende Betriebsschließungen können diese Berufsgruppen in jedem Fall nicht hoffen.

Fast fünf Prozent Produktionsrückgang möglich

In Großbritannien wies das Bildungsministerium vor dem Beschluss, Schulen landesweit zu schließen, auf die ökonomischen Konsequenzen hin und prognostizierte bei einer vierwöchigen Unterrichtspause eine dreiprozentige Verringerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf das gesamte Jahr gesehen. Das entspricht rund 62 Milliarden Britischen Pfund (70 Milliarden Euro). Auch deshalb versuchte die Regierung um Boris Johnson länger als viele EU-Staaten die Einrichtungen offen zu halten.

Bildungsminister Gavin Williamson speiste seine Bedenken aus einem Modell des Oxford-Ökonomen Simon Wren-Lewis, das 2009 im Journal "Health Economics" veröffentlicht wurde. Wren-Lewis ist der Ansicht, dass der Produktionsrückgang aufgrund von krankheitsbedingten Ausfällen während einer Pandemie weitestgehend zu vernachlässigen ist, aufgrund von Schulschließungen und damit verbundenen Fehltagen der Eltern aber deutliche Auswirkungen haben kann. Seinen Berechnungen zufolge könnte das BIP fast fünf Prozent sinken, wenn Schulen drei Monate lang keinen Unterricht durchführen. Eine dreimonatige Pause ist in etwa das, was unter anderem Berater des britischen Premierministers Johnson als angebracht erachten, damit sich ein positiver Effekt auf die Ausbreitung des Virus bemerkbar macht.

Die Wirtschaftsberatung "Capital Economics" zeichnet ein ähnliches Bild. Sie geht ebenso wie Sadique und Adams davon aus, dass zwischen 15 und 20 Prozent der arbeitenden Bevölkerung in den USA, Großbritannien sowie der Eurozone frei nehmen müssten, um sich um die eigenen Kinder zu kümmern. Demzufolge würde innerhalb einer dreimonatigen Spanne die Produktivität um sechs Prozent und auf das gesamte Jahr betrachtet um 1,5 Prozent sinken. Home-Office- und Teilzeitregelungen könnten den Effekt nur begrenzt abdämpfen.

Diffizil stellt sich die Situation im exportabhängigen Deutschland dar. Laut einer Befragung von "YouGov" arbeiten hierzulande aktuell 22 Prozent der Erwerbstätigen im Home Office. Für viele hat sich jedoch an der Arbeitssituation nichts verändert, weil sie ihren Beruf schlichtweg von zu Hause aus nicht ausführen können. Und wenn einige aktuelle Betriebsschließungen nach und nach wieder aufgehoben werden, steigt die Zahl derer, die nicht von zu Hause arbeiten können, weiter an.

In Schweden, wo der Anteil der Haushalte mit Kindern, in denen alle Erwachsenen berufstätig sind, im OECD-Vergleich am höchsten liegt, wird auf die generelle Schließung von Schulen komplett verzichtet. Dortige Gesamtschulen bis zur neunten Klasse sind weiterhin offen. Die umstrittene Begründung von schwedischen Epidemiologen lautet, dass Kinder das Virus nicht derart stark weiterverbreiten. Die Regierung des Sozialdemokraten Stefan Löfven äußert aber auch offen die Befürchtung, Eltern könnten durch Schulschließungen massenhaft im Job ausfallen – und das in einer Krisenzeit, in der ihr Einsatz benötigt wird. Dass die Großeltern als besondere Risikogruppe, wie so oft in der Not einspringen, stellt keine gangbare Alternative dar.

Gesellschaften sind weniger robust

In Zeiten einer Pandemie, die bereits vielen tausenden Menschen das Leben gekostet hat und noch kosten wird, erscheint es zuweilen ungebührlich, über die ökonomischen Folgen zu sprechen und diese womöglich als Argument für eine Lockerung momentaner Restriktionen ins Feld zu führen. Die potenziellen wirtschaftlichen Konsequenzen von Schulschließungen werfen allerdings eine grundlegende Frage zur Robustheit von modernen gesellschaftlichen Arrangements auf.

Weitestgehende Vollbeschäftigung in einigen westlichen Ländern wird als große Errungenschaft der heutigen Zeit erachtet, bringt aber in der aktuellen Ausnahmesituation auch neue Herausforderungen mit sich. Die Ökonomen Sergio Correia, Stephan Luck und Emil Verner analysierten den Umgang US-amerikanischer Städte mit der Spanischen Grippe vor rund 100 Jahren. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Städte mit strikteren Vorschriften nicht nur weniger Tote zu verzeichnen hatten, sondern auch wirtschaftlich weniger Schaden nahmen. Städte, die früher als andere weitreichende Ausgangssperren und Betriebsschließungen verhängten oder diese Maßnahmen länger als andere aufrechterhielten, verzeichneten nach der Krise vier bis sechs Prozent höhere Produktivität.

Allerdings war 1919 generell nur ein Teil der Bevölkerung erwerbstätig, während sich ein anderer Teil ausschließlich um den Haushalt kümmerte. Die ersten Schulschließungen in demokratischen Staaten im Zuge der Covid-19-Pandemie erfolgten vor allem dort, wo der soziale Druck auf Frauen, sich anstelle einer Berufstätigkeit um die Erziehung der Kinder zu kümmern, immer noch hoch ist. Das gehört in Teilen Europas zu Recht der Vergangenheit an. Gleichzeitig ist jedoch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie weiterhin ein großes Hindernis. Viele Länder sind somit in ruhigen Zeiten um einiges produktiver als vor einigen Jahrzehnten, aber auch weniger flexibel, wenn ein großer Schock einsetzt.

 

Constantin Eckner promoviert an der University of St Andrews, Schottland, zur Asyldebatte in Deutschland seit Beginn der 1980er-Jahre. Er war von 2016 bis 2019 Promotionsstipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und Chefredakteur des Stipendiaten- und Altstipendiaten-Magazins „freiraum“.