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Goliath schießt mit Steinschleuder

Die Umkehr von Marokkos demokratischer Entwicklung
Marokko-Flagge
In Marokko flammen wieder Proteste auf - und stellen den Demokratisierungsprozess des Landes in Frage © CC0 Pixabay.com/ RonnyK

In Marokkos Minenstadt Jerada verkehrt sich nicht nur seine bislang positive demokratische Entwicklung, sondern gleich ein ganzes Weltbild.

Es sind Polizisten, die mit Steinschleudern bis dahin friedliche Demonstranten angreifen. Bilder und Filme dazu kursieren derzeit in den sozialen Medien und haben als einzige Fraktion die Parti du Progrès du Socialisme (PPS) veranlasst, am 15. März eine Erklärung vom Innenminister Abdelouafi Laftit (Parteiunabhängig) einzufordern. Ein Kommuniqué des Innenministeriums leugnet den Zusammenhang mit Jerada, sondern verweist auf falsche Posts, die nichts mit dem Polizeieinsatz vor Ort zu tun hätten. Nach einer straffrechtlichen Untersuchung sollen sich die Urheber dieser Posts vor Gericht verantworten. Nach Darstellung des Innenministerium waren hingegen 80 Angehörige von Gendarmerie und Hilfskräfte verletzt worden.

Auslöser für die mehrmonatigen Demonstrationen war der Tod zweier Brüder in einer illegalen Kohlemine im Dezember 2017. Diese große Mine der Stadt war 1999 geschlossen worden, doch seitdem ging der heimliche Abbau bei fragwürdigen Sicherheitsvorkehrungen unter Einbeziehung und zum Vorteil lokaler Notabeln weiter – ohne physische und soziale Absicherung der Arbeiter. Nach dem Unfall in der „Todesmine“ protestiert die lokale Bevölkerung dieser Provinzhauptstadt im Nordosten des Landes gegen die Arbeitsbedingungen sowie grundsätzlich gegen die Marginalisierung der Region und soziale Ungleichheit. Ein weiterer Todesfall Ende Januar hat den Aufruhr weiter in Gang gehalten, und zuletzt hatte die Verhaftung von vier Aktivisten die Lage angespannt. Bei den letzten Protesten hatten sich die Bürger außerhalb der Stadt bei der Kohlemine versammelt, nachdem das Innenministerium mehrere Demonstrationsverbote vor allem innerstädtisch erlassen hatte.

Parallelen werden schnell zu den Rif-Demonstrationen gezogen, ausgelöst durch den Tod eines Fischhändlers (vgl. Analyse Weder Arabisch noch Frühling). Diese sind derzeit lahmgelegt und die Gerichtsverhandlungen der rund 450 Festgenommenen werden immer wieder herausgezögert. Doch anders als in al-Hoceima und anderen Berber-Hochburgen des Nordens haben die Jerada-Proteste keine ethnische – geschweige denn religiöse – Komponente: Die Minenstadt entstand in den 1920ern während des französischen Protektorats zur Ausbeutung der Kohlelager. Die Bevölkerung stammt aus ganz Marokko.

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Demnach nutzen die Jerada-Demonstrationen anders als ihre Mitbürger aus dem Rif keine Berbersymbole oder gar Flaggen der unabhängigen Rif-Republik. Sie treten ausschließlich mit Flaggen Marokkos auf und nutzen Parolen des Königs, geben sich königs- und staatstreu. Sie haben aber gemein, dass sie sich mit ihren Forderungen direkt an den König wenden – unter Umgehung sämtlicher demokratischer Repräsentanten und Institutionen: Die Demonstranten haben kein Vertrauen mehr in das marokkanische, demokratische System. Dies schließt die politischen Parteien ein. Dabei sind beide Hotspots – al-Hoceima und Jerada – Hochburgen der königsnahen Parti de l’Authenticité et Modernité (Partei der Authentizität und Modernität, PAM). Der Vertrauensverlust ist auch dadurch begründet, dass insbesondere auch die Vertreter von Institutionen und Parteien oft eine Teilhabe an Unternehmen, Lizenzen etc. haben und so nicht nur von schlechten Arbeitsbedingungen finanziell profitieren, sondern auch eine unternehmerische Chancengerechtigkeit nicht zulassen.

Zwar hatten Regierungsvertreter nun Zugeständnisse und Versprechungen gemacht. Ein „Wirtschaftlicher Aktionsplan“ hatte die Lage erst beruhigt. Doch insgesamt wollen sich die Demonstranten darauf nicht verlassen und machen weiter, bis sie „konkrete Antworten“ bekommen. Die regierenden Islamisten (PJD) bestärken den Vertrauensverlust und verlieren dabei ihre Wähler bzw. stärken die Anhänger ihres abgesetzten Vorsitzenden und vorigen Premiers Abdelilah Benkirane, indem sie sich in dem Konflikt hinter das Innenministerium stellen. Dieses fällt jedoch in eine Rhetorik aus der Zeit des vorigen Königs zurück: die verbotene islamistische Organisation al-adl wa’l-ihsan (arab: Gerechtigkeit und Wohlfahrt) und die extreme marxistisch-leninistische Partei an-nahj ad-dimokrati (arab: Der demokratische Weg) sollen aufgewiegelt haben. Dass die mitregierenden Sozialisten der PPS diese Position herausfordern, könnte bei einer Verschärfung der Lage die Regierung destabilisieren. Aber das wird den Demonstranten egal sein, denn in ihren Augen hat das demokratische System ohnehin ausgedient.

Olaf Kellerhoff ist Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Marokko