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Gastarbeiter
Gastarbeitermodelle sind eine sozioökonomische Katastrophe

Eine schleichende Zersetzung der sozialen Marktwirtschaft
Spargelstecher in Niedersachsen
Spargelstecher in Niedersachsen © picture alliance / Ingo Wagner/dpa

Deutsche Spargelbauern sollen billige Arbeitskräfte aus dem Nicht-EU-Ausland anwerben, damit das Gemüse bezahlbar bleibt. Ein Musterbeispiel für eine schleichende Zersetzung der sozialen Marktwirtschaft – zum Schaden des ganzen Landes.

Was hat die Volkswirtschaft zum deutschen Spargel zu sagen? Die Frage drängt sich auf angesichts der Diskussion, aus dem Nicht-EU-Ausland billige Spargelstecher als Saisonarbeitskräfte anzuwerben und so deutschen Spargelbauern einen konkurrenzfähigen Anbau des delikaten Stängelgemüses zu ermöglichen. So fundamental die Wiedererweckung alter Gastarbeiterträume ökonomischem Sachverstand widerspricht, so sehr liefert die Spargelidee ein Musterbeispiel dafür, wie omnipräsent nackte Interessenpolitik zum Schaden von Gemeinwohl ihr Unwesen treibt.

Denn was dem Spargelbauern recht sein soll, steht stellvertretend für eine schleichende Zersetzung der sozialen Marktwirtschaft durch Sonderinteressen, die sich in Zeiten einer aufgeheizten Klimadebatte an vielen Stellen offenbart, durchaus nicht selten im Tarnanzug moralisch scheinbar berechtigter Anliegen daherkommend.

Eine unparteiische, dem Gemeinwohl aller verpflichtete Ökonomie kann überzeugend nachweisen, dass die Zahlungswilligkeit der Kunden für kostbaren deutschen Spargel ganz offenbar nicht den Kosten entspricht, die eine nachhaltige Produktion hierzulande verursacht. Bezahlten die Spargelbauer ihre Erntehelfer so gut und anständig, wie es der anstrengenden, mühseligen und wenig abwechslungsreichen Feldarbeit angemessen ist, wird einheimischer Spargel so kostbar, dass er vielen Liebhabern zu teuer wird.

In einem marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystem sollten steigende Preise „automatisch“ dazu führen, dass sich Verbraucher nur noch weniger oder gar keinen deutschen Spargel mehr leisten können oder wollen. Verzicht oder Ersatz durch billigere ausländische Konkurrenz sind die logischen Folgen von Kosten- und Preissteigerungen – nicht nur beim Spargel. 

Sie sind bei einer Vielzahl von Lebensmitteln die Regel und zeigen sich beispielsweise bei elektronischen Geräten ganz natürlich, wenn Samsung Smartphones oder Apple iPhones die deutschen Hersteller von Telefonapparaten schon seit Langem aus dem Markt verdrängt haben. Daraus aber nun wirtschaftspolitischen Handlungsbedarf abzuleiten, widerspricht so ziemlich allen Grundsätzen einer Marktwirtschaft.

Eine Verbilligung der hiesigen Spargelproduktion durch den Einsatz kostengünstiger Saisonarbeiter aus dem Nicht-EU-Ausland ist ein gesamtwirtschaftlich zu finanzierendes Geschenk an die Liebhaber, die für deutschen Spargel weniger zu bezahlen haben, als er tatsächlich kostet. Genauso gut könnte es Feinschmecker geben, die gerne in Deutschland angebaute Ananas und Bananen genießen wollen, aber nicht etwa zum Preis, der den hiesigen Anbaukosten entspricht, sondern lediglich zum Preis der Massenware aus (sub-)tropischen Gebieten. Ihre Interessenvertreter würden dann Subventionen für den Anbau fordern, um billige deutsche Tropenfrüchte für alle anbieten zu können.

Gastarbeitermodelle sozialisieren die Nachteile

Saison- und Gastarbeitermodelle privatisieren die Vorteile und sozialisieren die Nachteile. Sie sind für die kleine Gruppe der Nutznießer ein kurzlebiger Vorteil, weil sie beispielsweise den Anbau von zu billigem deutschen Spargel oder eben auch von Gewerbe-, Handwerks- oder Bauarbeiten ermöglichen. Aber für die Gesellschaft insgesamt entstehen alle die Kosten, die mit Umsetzung und Kontrolle, Fehlanreizen und Fehlverhalten anfallen sowie die Aufenthalts- und späteren Integrationskosten, die an sich ungewollt ansteigen, wenn wider Erwarten und Absicht halt doch aus vorläufig eingeplanten Gästen eines Tages Daueraufenthalte werden.

Die Chuzpe, mit der diverse Interessengruppen – nicht etwa nur beim Spargelanbau, sondern genauso in einer Vielzahl anderer Branchen bis hin zu einem Fachkräfte-Einwanderungsgesetz – eine Wiederbelebung von Saison- und Gastarbeiterregelungen für Nicht-EU-Ausländer fordern, macht mehr und mehr sprachlos. Man muss gar nicht erst die Moralkeule hervorholen, um zu hinterfragen, wie sich rechtfertigen ließe, Saisonarbeiter aus weiter Ferne auf deutschen Feldern arbeiten zu lassen zu Bedingungen, die nicht nur für Deutsche, sondern auch für Arbeitskräfte aus Osteuropa offenbar nicht zumutbar sind. Wieso nicht einfach Löhne, Kosten und Preise ansteigen lassen, und die Gourmets sollen entscheiden, was ihnen unter anständigen Bedingungen angebauter deutscher Spargel wirklich wert ist?

Es genügt der Verweis, dass innerhalb der EU Millionen von Menschen in ihrer Heimat einen Bruchteil dessen an Lohn erhalten, was sich beim Spargelstechen in Deutschland erwirtschaften lässt. Und trotzdem scheint es zu wenig zu sein, um von den problemlos ausübbaren europäischen Freizügigkeitsrechten Gebrauch zu machen und – auch saisonal und temporär, mit oder ohne Familienangehörige – bei deutschen Landwirtschaftsbetrieben mitzuarbeiten. Daraus folgt, dass deutsche Verbraucher entweder bereit sein müssen, für hierzulande angebaute Früchte, Gemüse und andere Esswaren mehr zu bezahlen, oder darauf zu verzichten. Alles andere ist scheinheilig, weil der Wille fehlt, für deutsche Qualität zu bezahlen.

Unverfrorenheit und Ignoranz sind deshalb so deplatziert, weil die Empirie so erdrückende Belege für die Fehlanreize von Saison- und Gastarbeitermodellen liefert. Die negativen Langzeitwirkungen künstlicher Arbeitskostensubventionierung der deutschen Erfahrung der 1960er- und 1970er-Jahre bieten eingängige Belege. Der Import billiger Arbeitskräfte aus Südeuropa, dem früheren Jugoslawien und der Türkei hatte zur Folge, dass – da scheinbar günstiger – mit viel Arbeit und zu wenig Kapital, also zu arbeitsintensiv „von Hand“, produziert wurde, was andernorts längst mit Maschinen und Technologie hergestellt wurde.

Dadurch blieben erst der technologische Fortschritt und die Produktivität, danach die allgemeine Lohnentwicklung und schließlich das Wohlstandsniveau hinter ausländischen Spitzenreitern zurück. Ein „made in Germany“, das auf Billigarbeit setzt und das bei der Arbeit das Augenmerk auf Quantität statt Qualität, auf Masse statt Klasse und auf billige Gastarbeiter statt leistungsfähige Facharbeitskräfte legt, wird in Zukunft gegen die mit Robotern, Algorithmen und künstlicher Intelligenz arbeitende Konkurrenz erst recht keine Chancen haben.

Letztlich und entscheidend, haben sich Saison- und Gastarbeitermodelle als sozioökonomische Katastrophe erwiesen. Werden Zuwandernde nur als Gäste behandelt, darf sich niemand wirklich wundern, dass sie sich auch wie Gäste verhalten. Bei allem, was sie tun, werden Saison- und Gastarbeiter deshalb stets ihren temporären Gaststatus bedenken.

Das gilt für Investitionen in Sprache, Kultur, Freundschaft, soziale Kontakte und berufliche Karriere. Wie der kanadische Migrationsexperte Doug Saunders unter Verweis auf aktuelle Studien der OECD und der Bertelsmann-Stiftung eindeutig folgert, müsste Deutschland aus den Erfahrungen von klassischen Einwanderungsländern wie Kanada folgende Lehre ziehen: „Man sollte weniger über die Auswahl der Zuwanderer nachdenken, sondern vielmehr darüber, wie man die Neuankömmlinge so schnell wie möglich zu Deutschen macht.“ 

Saison- und Gastarbeitermodelle widersprechen genau dieser Einsicht diametral. Sie sollten deshalb dahin verbannt werden, wo sie eindeutig hingehören – in den Hades der Misserfolge.

Dieser Artikel erschien erstmals am 15. Januar 2020 in der Welt und ist hier zu finden.