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Serbien
Wahl im Schatten des allmächtigen Präsidenten

Serbien
© Andjelka Milić, Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Wenn am Sonntag die Bürgerinnen und Bürger Serbiens aufgerufen sind, ein neues Parlament zu wählen, denken über sechzig Prozent der Wahlberechtigten, dass sie über ihren Präsidenten Aleksandar Vučić abstimmen. Der steht jedoch überhaupt nicht zur Wahl – ist zugleich aber in der öffentlichen Debatte allgegenwärtig und steht im Mittelpunkt aller Diskussionen.

Die Grenzen zwischen Staat und der alles beherrschenden „Serbischen Fortschrittspartei“ (SNS) von Präsident Aleksandar Vučić verschwimmen zusehends. Für ausnahmslos alles Positive im Land ist der Präsident persönlich verantwortlich, alles Schlechte hingegen tritt trotz des aufopferungsvollen Einsatzes des Präsidenten, meist gegen den übermächtigen, heuchlerischen Westen ein.

So ist es nicht verwunderlich, dass über die Hälfte der Wahlberechtigten glaubt, in der von Vučić vorzeitig ausgerufenen Parlamentswahl ginge es um die Zukunft ihres Präsidenten. Die Liste, mit der die SNS zur Wahl antritt, heißt dementsprechend „Aleksandar Vučić – Serbien darf nicht stehenbleiben“. Und von allen Wahlplakaten lächelt der Präsident, obwohl er a) gar nicht zur Wahl steht, und b) auch in Serbien zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet wäre. Doch um Rechtsstaatlichkeit geht es in Vučićs Serbien längst nicht mehr.

Staat und Partei sind eins

So zahlte die Regierung drei Wochen vor dem Wahltermin anlasslos 20.000 Dinar (ca. 170,- EUR) an über 1,6 Mio. Rentnerinnen und Rentner im Land aus. Eltern von Schulkindern bekamen 10.000 Dinar (ca. 85,- EUR) geschenkt. All das verkündet in Serbien der Präsident höchstpersönlich: über dreihundert Mal wandte sich Aleksandar Vučić allein in diesem Jahr live im Fernsehen an sein Volk, mit einer durchschnittlichen Redezeit von vierzig Minuten pro Ansprache. In den öffentlich-rechtlichen Abendnachrichten erhielt der Präsident vierzehn Mal mehr Sendezeit als die gesamte politische Opposition zusammen: elfeinhalb Stunden entfielen auf den Präsidenten, 44 Minuten auf die Opposition.

Doch nicht nur durch Missbrauch von Steuergeldern und unfaire Medienberichterstattung stellt die SNS ihre Wiederwahl sicher. Insbesondere öffentliche Angestellte berichten von Druck, die „staatstragende Partei“ zu wählen und ihren Vorgesetzten Handyfotos ihres ausgefüllten Stimmzettels zu schicken. In einem Land, in dem neben der öffentlichen Verwaltung auch die Strom- und Gasversorgung, die Post und die Telekommunikation in staatlicher Hand sind, sind dies eine Menge Wählerinnen und Wähler. Zudem gibt es begründete Verdachtsmomente der Manipulation von Wählerlisten und des Missbrauchs privater Daten von Bürgerinnen und Bürgern.

Rückschritte statt demokratischer Konsolidierung

Zudem wird am 17. Dezember nicht nur das Parlament neu gewählt, auch finden in knapp der Hälfte aller serbischen Gemeinden Kommunalwahlen statt. Präsident Vučić hatte zuvor festgelegt, welche Bürgermeister zurückzutreten haben, die dies auch prompt taten. Unter anderem wird in Belgrad eine neue Stadtversammlung gewählt. Es gibt Indizien, dass Parteimitglieder aus Ortschaften, in denen keine Kommunalwahlen stattfinden, in Gemeinden registriert werden, wo gewählt wird. So vergrößert die SNS ihre Wählerschaft.

„In einem normalen Land sind Wahlen ein Fest der Demokratie“, sagt Raša Nedeljkov, Leiter der Wahlbeobachtungsmission von CRTA, dem größten „Democracy Watchdog“ des Landes und langjährigem Stiftungspartner. „In Serbien hingegen gibt es viele unbeantwortete Fragen: Aus welchem Grund wurde lediglich in einem Teil der Gemeinden Kommunalwahlen ausgerufen? Verhalten sich die staatlichen Institutionen neutral, oder dienen sie einer bestimmten Partei? Wie viel Vertrauen können die Bürgerinnen und Bürger in Wählerlisten haben, die einem von der regierenden Partei geführten Staatsapparat entstammen?“

„Serbien gegen Gewalt“ bewegt die Massen

Trotz aller Ungereimtheiten im Vorfeld des Wahltermins besteht zumindest in der Hauptstadt die begründete Hoffnung, die Alleinherrschaft der SNS zu brechen: hier hatten nach zwei Massakern, bei denen im Frühsommer zwei jugendliche Täter unabhängig voneinander insgesamt neunzehn zumeist junge Menschen und Kinder töteten, landesweite Massenproteste ihren Ursprung, die Hunderttausende auf die Straße brachten. Aus einer Bürgerbewegung gegen die Glorifizierung von Gewalt in der serbischen Gesellschaft entstand das oppositionelle Wahlbündnis „Serbien gegen Gewalt“, dem sich nahezu alle demokratischen Parteien anschlossen.

Das Bündnis, das sowohl bei der Parlaments- als auch bei vielen Kommunalwahlen gemeinsam antritt, wird von der sozialdemokratischen „Partei für Freiheit und Gerechtigkeit“ angeführt und von linken über grüne bis hin zu konservativen Parteien unterstützt. Auch die liberale „Bewegung Freier Bürger“ (Pokret slobodnih gradjana, PSG) unter ihrem erst 30-jährigen Vorsitzenden Pavle Grbović schloss sich früh „Serbien gegen Gewalt“ an. Die junge liberale Partei, derzeit mit drei Sitzen im serbischen Parlament vertreten, hofft darauf, künftig mehr Abgeordnete in der „Skupština“ zu stellen.

„Die Geringschätzung der wahren Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger, die Umsetzung absurder, nicht dem Gemeinwohl dienender Infrastrukturprojekte, sowie die umfassende Vereinnahmung des Staates durch Interessengruppen sind auch Formen von Gewalt an den Bürgerinnen und Bürgern“, erklärt Grbović. „Unser Vorteil sind die Bürgerinnen und Bürger, die es gewagt haben, der Autokratie die Stirn zu bieten. Man kann dem Fernsehen Glauben schenken oder nicht, aber tagtäglich mit der Ungewissheit konfrontiert zu sein, ob an der Supermarktkasse das Geld für den Einkauf reicht, ob das eigene Kind unversehrt nach Hause kommt, oder sich betrogen zu fühlen, wenn stets die Unfähigen vorgezogen werden, weil sie politische Beziehungen haben, sind persönliche Erfahrungen, die für sich selbst sprechen.“

Aleksandar Vučić hingegen bleibt siegesgewiss: „Wir werden sie überzeugender denn je schlagen“, verkündete er wenige Tage vor der Wahl. „Der Durchschnittslohn wird sich in vier Jahren verdoppeln, wir werden Serbien in die EU führen und gleichzeitig unsere Freundschaft zu Russland und China ausbauen. Und wir werden Kosovo niemals anerkennen!“ Derlei Luftschlösser reichen, um eine medial völlig verblendete Bevölkerung bei der Stange zu halten.

Markus Kaiser ist Büroleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit für die Staaten des Westbalkans mit Sitz in Belgrad.