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EU-Westbalkan-Gipfel
Kleine Schritte in die richtige Richtung

Die Regierungschefs sitzen bei der Arbeitssitzung beim EU-Westbalkan-Gipfel

Die Regierungschefs sitzen bei der Arbeitssitzung beim EU-Westbalkan-Gipfel

© picture alliance/dpa | Michael Kappeler

In Serbien sieht man sich tagtäglich Angriffen von außen ausgesetzt: das Überleben der von Feinden umzingelten serbischen Nation stehe permanent auf dem Spiel, während die EU lediglich als ein Spielball US-amerikanischer Interessen dargestellt wird. Die eigene staatliche Souveränität wird mit jeder einzelnen politischen Entscheidung verteidigt. Die Blockbildung – aus serbischer Sicht: Blockfreiheit – aus Zeiten des Kalten Krieges hat hier niemals aufgehört.

Nationalismus allenthalben

Der Konflikt mit Kosovo, das sich vor fast fünfzehn Jahren für unabhängig erklärte und in dem ethnischen Serben inzwischen noch 90.000 Einwohner bei einer Gesamtbevölkerung von 1,8 Millionen stellen, wird täglich in den Medien aufgegriffen. Er ist das wichtigste außenpolitische – aus serbischer Sicht: innenpolitische – Anliegen, inklusive eines eigenen Ministeriums und pausenloser Berichterstattung.

Zuletzt wurde ein Krieg heraufbeschworen, weil Kosovo die Umschreibung serbischer Kfz-Kennzeichen von in Kosovo lebenden Serben auf kosovarische durchsetzen wollte. Im Zuge dessen verließen sämtliche Repräsentanten der „Serbischen Liste“, einer Art serbischer Einheitspartei unter direkter Kontrolle Belgrads die staatlichen Institutionen Kosovos: Rund 600 serbischstämmige Polizistinnen und Polizisten und 500 weitere Staatsbedienstete quittierten ihren Dienst. Als der kosovarische Premierminister Albin Kurti daraufhin vergangene Woche einen Serben zum Minister für Minderheiten ernannte, der nicht von Belgrad kontrolliert wird und die EU nach serbischer Lesart nicht scharf genug dagegen protestierte, verkündete Präsident Aleksandar Vučić kurzerhand den Boykott des kommenden EU-Westbalkan-Gipfels: „Sie haben den schlimmsten serbischen Abschaum gewählt; Leute, die von niemandem im Kosovo respektiert werden, die aber das Vertrauen des terroristischen Abschaums Albin Kurti und westlicher Agenten genießen“, schimpfte der ansonsten fast biedermännisch daherkommende Vučić. „Sie denken, dass sie dadurch Serbien zerstören und in Angst und Schrecken versetzen.“ Europa solle sich schämen und einfach ohne Serbien weitermachen.

Doch das war alles nur Show. Einen Tag vor Beginn des Gipfels, und nachdem er glaubhaft für die serbische Volksseele gekämpft hatte, erklärte Vučić dann doch seine Teilnahme: „Es ist besser mit am Tisch zu sitzen, als auf der Speisekarte zu stehen“, rechtfertigte er seine Kehrtwende mit den üblichen Sprüchen „zum Wohle Serbiens“. Denn es steht viel auf dem Spiel und die EU, anders als oftmals kolportiert, bewegt sich.

Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen

Erstmals in der langjährigen Geschichte der EU-Westbalkan-Erweiterung kamen die 27 Staats- und Regierungschefs in einem der sechs Nicht-EU-Mitgliedsstaaten – Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien – zusammen. Und auch wenn nach wie vor große und zum Teil begründete Vorbehalte gegen einzelne Beitrittskandidaten bestehen, so ging es in der albanischen Hauptstadt Tirana in kleinen Schritten voran:

Bereits im Vorfeld hatten sich die EU-Mitgliedstaaten darauf geeinigt, die längst überfällige Visafreiheit für Bürgerinnen und Bürger aus Kosovo ab 2024 einzuführen. Schon im Sommer beschlossen die Staats- und Regierungschefs der EU, Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien aufzunehmen, drei Jahre nachdem Frankreich und Bulgarien einen solchen Schritt blockiert hatten.

In Tirana selbst bekräftigten die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten gerade auch aufgrund der weltpolitischen Lage und des wachsenden Einflusses Russlands und Chinas in der Region, ihr „uneingeschränktes und eindeutiges Bekenntnis zur EU-Beitrittsperspektive“ für die sechs Staaten des Westbalkan. Dies müsse jedoch auf der Grundlage „glaubwürdiger Reformen der Partner sowie fairer und strenger Bedingungen“ geschehen, hieß es in dem Abschlusskommuniqué.

Josep Borrell, der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, wurde noch deutlicher: „Wir erwarten von der Region, dass sie wichtige Reformen durchführt und den Willen zeigt, sich den europäischen Ehrgeiz und Geist zu eigen zu machen. Viele tun das, aber wir sehen auch Zögerlichkeiten.“

Das alte Rezept: Zuckerbrot und Peitsche

Diese Zögerlichkeiten betreffen zum einen die Weigerung Serbiens, Sanktionen gegen Russland aufgrund des Angriffskriegs gegen die Ukraine mitzutragen. Noch heute spricht die serbische Regierung von einer „Krise“ und nimmt das Wort Krieg nicht in den Mund. Zwar wird Serbien in der Abschlusserklärung nicht explizit genannt, allerdings heißt es dort, dass sich die künftigen Mitglieder der EU-Sanktionspolitik anzuschließen haben.

Des Weiteren werden Serbien und Kosovo aufgefordert, „ihre Beziehungen zu normalisieren“ und bereits Vereinbartes umzusetzen. Dabei gehe es laut EU-Vertretern nicht um gegenseitige Anerkennung, sondern um substanzielle Fortschritte hin zu einem konstruktiven Verhältnis beider Staaten zueinander. Deutschland und Frankreich hatten zuletzt einen Plan vorgelegt, der sich an den Beziehungen der beiden deutschen Staaten zwischen 1949 und 1990 orientiert: keine gegenseitige Anerkennung, aber ein „geregeltes Nebeneinander“. Quasi parallel dazu erklärte der serbische Außenminister Ivica Dačić in Belgrad, dass Serbien im Einklang mit internationalem Recht handele und er bezweifle, dass die Tirana-Erklärung „Pristina zur Vernunft bringe“.

Die sechs Westbalkanstaaten verpflichten sich zudem dazu, die Migration über die Westbalkan-Route einzudämmen sowie die Klimaschutzziele der EU zu übernehmen. Die EU wiederum sichert den Ländern des Westbalkan ihre Unterstützung in der Energiekrise infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine in Höhe von einer Milliarde Euro zu. Auch wird eine Reduzierung der Roaming-Gebühren ab Oktober 2023 eingeführt und eine Abschaffung ab 2027 in Aussicht gestellt. Zudem wurde am Rande des Gipfels bekannt, dass Kosovo noch in diesem Jahr und als letzter der sechs Staaten einen Beitrittsantrag stellen wird.

„Die EU ist der größte Investor. Wir sind der engste Partner, und deshalb geht es in der Diskussion auch darum, dass Sie sich entscheiden müssen, auf welcher Seite Sie stehen“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Richtung der sechs Staaten. Klar ist seit diesem Gipfel, dass Kosovo der EU beitreten möchte, während EU-Beitrittskandidat Serbien sich diese Option zumindest offenhalten will. Eine Umfrage ergab jüngst, dass 51 Prozent der Serben bei einem Referendum gegen die EU-Mitgliedschaft stimmen würden, während vierzig Prozent der Befragten den russischen Staatschef Wladimir Putin positiv sehen. Doch solange die Verteidigung serbischer Souveränität einen höheren Stellenwert genießt als die Annäherung an die EU, wird es keine substanziellen Fortschritte geben. Hier also müsste Präsident Vučić Politik gegen die Mehrheitsmeinung seiner Wählerinnen und Wähler machen. Es ist bekannt, dass sich Populisten damit schwertun.

Markus Kaiser ist Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für den Westbalkan mit Sitz in Belgrad.