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Bosnien und Herzegowina
„Die Eskalation geht dieses Mal schon weiter …“

Interview mit dem Balkan-Experten Prof. Florian Bieber über die aktuellen Entwicklungen in Bosnien und Herzegowina
Prof. Florian Bieber
Univ. Prof. dr. Florian Bieber © UniGraz

 „Bosniens Serben drohen mit Abspaltung“ titelte der SPIEGEL vor wenigen Tagen. Im Mittelpunkt steht einmal mehr Milorad Dodik, das serbische Mitglied der dreiköpfigen Staatsspitze. Er betreibe die „schrittweise Auflösung“ der Balkanrepublik, so der SPIEGEL weiter. Wie bewerten Sie diese neuerliche Eskalation? Handelt es sich nur um ein Manöver des „Meisters der selbstausgelösten Krisen“, wie in einem weiteren Kommentar zu lesen war, oder haben wir es tatsächlich mit einer neuen Qualität zu tun?

Die Eskalation geht dieses Mal schon weiter als die bisherigen, so die Drohung, eine neue Armee der RS zu schaffen. Dies verursacht nicht nur Angst unter zahlreichen Bürgern und Bürgerinnen Bosniens, für die die Erinnerung an den Krieg noch frisch ist. Es ist auch ein deutlicher Gesetzesbruch. Dodik hat zwar immer wieder Krisen ausgelöst und ist dann von den extremsten Positionen abgekehrt, aber es ist ihm so gelungen, Bosnien in den letzten 15 Jahren immer mehr auszuhöhlen und den Staat zu untergraben. Diese Dauerpolitik schafft langfristig eine Realität, die den Staat immer mehr bedroht. Viele, ich inklusive, reden seit Jahren von einem negativen Status Quo, der stetig zu einer Verschlechterung der Lage führt. Kurz, die Manöver, auch wenn nicht alles so heiss serviert wird, wie es gekocht wurde, zersetzen den Staat. Und das ist sein Ziel, die Entwicklung in Bosnien so zu steuern, dass am Ende alle die Auflösung akzeptieren, weil der Status Quo unerträglich geworden ist. Dafür hat er natürlich Partner unter den anderen ethnonationalistischen Parteien, so insbesondere in der HDZ. 

Was sind die Motive des Präsidenten: Sorge um den Machterhalt, Ablenkung vor innenpolitischen Problemen: Armut, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit? Oder verfolgt er konsequent eine Strategie?

Beides hängt zusammen. Nationalismus und das Hervorrufen von Krisen lenkt ab von all dem, was die eigentlichen Probleme im Land sind: Armut, Abwanderung und Perspektivlosigkeit sowie die Korruption und Aushöhlung der Demokratie im Lande. In dieser Hinsicht betreibt er es konsequent und nützt die Demontage des Staates als Ablenkung. Damit kann man “nationale Einheit” beschwören, es der Opposition schwer machen und immer leicht Sündenböcke für alles finden, was nicht funktioniert. Es ist eigentlich erstaunlich, wie lange diese sehr simple Strategie aufgeht. Er selbst begann ja als ein pragmatischer Reformer und unterstützte den letzten jugoslawischen Ministerpräsidenten Ante Marković. Dann stand er im Ruf, in Schwarzmarkt und Korruption verwickelt zu sein. Seine nationalistische Linie hat er ja erst 2006 entdeckt mit Unterstützung westlicher Politikberater und aus Pragmatismus. Es kann gut sein, dass er nun selbst daran glaubt, aber es geht letztlich um das eigene politische Überleben und den eigenen Vorteil. 

In einem SPIEGEL-Interview bestreitet er Sezessionsgedanken: „Wir planen keine Sezession.“ (23.10.21).  Allerdings beschreibt er die nächsten Schritte wie folgt: “Wir werden die Verfassung von Bosnien und Herzegowina respektieren und das, was demnach in unsere Zuständigkeit fällt, selbst regeln. Wir werden die von den Hohen Vertretern auferlegten Gesetze auf dem Gebiet der Republik Srpska aufheben und eigene Gesetze erlassen – mit einer Übergangsphase, die so lange andauern wird, wie nötig … Was uns nicht ausdrücklich entzogen ist, werden wir, ohne zu zögern, selbst übernehmen.“ Dabei geht es u.a. um eigene Streitkräfte, Justiz, Polizei. Für wie wahrscheinlich halten Sie dieses Szenario? Hat er dafür die Unterstützung aus Serbien? Und was würde es für das Land bedeuten?

Bei anderen Gelegenheiten hat er immer wieder betont, dass sein Ziel die Auflösung Bosniens sei. Somit ist das eine Aussage für ein deutsches Publikum. Im Land selbst ist er oft viel deutlicher. Letztlich geht es ihm darum, alle Bemühungen seit 1995, staatliche Strukturen aufzubauen, rückgängig zu machen. Dabei unterscheidet er nicht zwischen jenen, die vom Hohen Repräsentanten oktroyiert wurden und jenen, wie die Verteidigungsreform, die von den Entitäten und dem Staat entschieden wurden. Es geht bei dem Abbau darum, den Staat de facto verschwinden zu lassen. Der Staat, der in Dayton geschaffen wurde, hatte drei Ministerien, keine gemeinsame Währung oder Armee und konnte kaum etwas entscheiden. So ein Staat kann weder der EU beitreten noch in anderen Bereichen entscheiden. Der Staat war letztlich weitaus schwächer als die EU als Gebilde ist. So ein Staat kann nicht von Bestand sein, und das weiß Dodik. Somit ist dieser Staatsabbau eine gewollte Vorstufe zu einer Unabhängigkeit der Republika Srpska. Ich denke, er tastet sich langsam zu diesem Ziel vor und wenn die Konstellation günstig ist, dann wird er es machen. Aber wenn nicht, dann ist jede Krise, jeder Schritt eine Gelegenheit, den Staat zu schwächen und den Zerfall scheinbar unausweichlicher zu machen. 


Bezüglich des Verhältnisses zur EU macht Dodik durchaus einen Punkt, wobei er die eigenen Anteile an diesem Zustand unerwähnt lässt: „Der Westbalkan war nie weiter von der EU entfernt als jetzt“. Die EU, die internationale Gemeinschaft insgesamt machen in der gegenwärtigen Situation einen offensichtlich sehr zurückhaltenden Eindruck. Müsste hier nicht klarer und eindeutiger reagiert werden?

Er hat sicherlich recht, dass der EU-Beitritt in weiter Ferne zu sein scheint und in der Region große Enttäuschung herrscht. Aber natürlich ist es eine unaufrichtige Aussage. Nur wenige Politiker haben mehr Verantwortung zu tragen dafür, dass es so ist. Die EU-Mitgliedstaaten haben ihre Verantwortung, so Bulgarien für die Blockadehaltung gegenüber Nordmazedonien, aber die autoritäre und nationalistische Linie von Dodik, Vučić und anderen ist gleichermassen oder noch mehr verantwortlich. Dodik hat seit 15 Jahren alles unternommen, dass Bosnien institutionell zu schwach ist, um überhaupt ein EU-Mitglied zu werden. Er hat immer wieder die Einrichtung von Behörden blockiert, Gesetze torpediert, die für eine Annäherung unabdingbar sind. Die EU müsste schon längst klarer reagieren, Sanktionen anwenden und deutlichere Worten finden. Sie hat die Lage in Bosnien abdriften lassen in der Hoffnung, dass der Status Quo von Dauer sei. Stattdessen befindet sich das Land fast jährlich in der schlimmsten Krise seit Kriegsende und es wird somit immer schwieriger, dort herauszufinden. Natürlich ist das nicht leicht und die Dynamik kann nicht ohne weiteres umgekehrt werden. Letztlich ist es wichtiger, sich stärker zu engagieren, weniger mit den ethnonationalistischen Parteien zusammenzuarbeiten, die Bürgergesellschaft zu stärken und rote Linien zu ziehen. 

Eine abschließende grundsätzliche Frage: Vor einem Jahr haben wir - 25 Jahre nach Dayton - Bilanz gezogen. Die Historikerin Marie-Janine Calic meinte, das Dayton-Abkommen habe den zugrunde liegenden Konflikt lediglich eingefroren, aber die Kriegsursachen nicht überwinden können. Dayton sei vielmehr zu einem „Synonym für Dysfunktionalität und Politikversagen“ geworden. Wie ist Ihre Einschätzung? Was müsste sich ändern, damit dieses Land eine glaubwürdige positive Perspektive entwickeln kann? Und was halten Sie in absehbarer Zeit für wahrscheinlich?

Dayton war immer nur eine kurzfristige Lösung, ein Provisorium und nicht die Grundlage für einen langfristigen Frieden. Einerseits hat Dayton Bosnien zu viel aufgedrängt, nämlich eine Verfassung, die eigentlich nur ein Provisorium sein sollte. Auf der anderen Seite gab es neben dem ICTY, dem Strafgerichtshof, kein Instrument, um die Vergangenheit aufzuarbeiten und die Grundlage für einen gemeinsamen Staat zu schaffen. Leider scheiterten die Versuche, dem Land eine bessere und funktionsfähigere Verfassung zu geben. Aber auch das ist nicht genug. Es hätte Unterstützung für einen positiven Staatsaufbau geben sollen, stattdessen gab es zu viel Vertrauen, dass der Perspektiv-Wechsel von Dayton nach Brüssel, wie es Mitte der 2000er Jahre hieß, ausreicht als gemeinsames Ziel. Eine positive Perspektive und ein funktionierender Staat war vor 15 Jahren schon schwierig und ist heute noch komplizierter zu erreichen. Es hängt davon, ob sich die regionale Dynamik zum Positiven wendet, was in erster Linie bedeuten würde, dass Kroatien weniger negativ Einfluss nimmt und in Serbien die Vučić-Ära zu Ende geht. Die jetzige Dynamik eines autoritären Serbiens, das sich einen Einfluss in den Nachbarstaaten sichern will, ist für Bosnien kaum hilfreich. Dazu braucht es nicht nur eine klare Linie der EU und Zusammenarbeit mit den US, sondern auch mehr Selbstvertrauen.