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Pandemie
Was, wenn alles besser wird?

Menschenmasse auf einem Straßenübergang

Würde Corona nicht alle anderen Themen erschlagen, wäre die Nachricht eine Sensation: "Die Bevölkerung in Deutschland ist auf Rekordgröße gewachsen." Das Sensationelle liegt nicht einmal so sehr in der Tatsache, dass heute mehr Menschen als jemals zuvor in Deutschland leben - nämlich nach einer ersten Schätzung des Statistischen Bundesamtes 83,2 Millionen Menschen Ende 2020. Der an sich viel spannendere Aspekt findet sich anderswo. Er zeigt sich im Vergleich von Prognose und Wirklichkeit. Denn wie ein Mantra dominierte der Mythos einer schrumpfenden Bevölkerung die Diskussion und schürte Ängste. Da war von "demografischer Krise", "Überalterung" und "Fachkräftemangel" die Rede.

Erwartet wurde, dass die Bevölkerung in Deutschland spätestens Anfang der 2020er-Jahre abnehmen würde. Die Realität jedoch liefert ein konträres Bild: "Seit den 1990er-Jahren hat sich die demografische Lage wesentlich anders entwickelt, als nach Vorausberechnungen zu erwarten war. Insbesondere hat sich die Schrumpfung der Bevölkerung nicht in der erwarte- ten Form eingestellt", so knallhart nüchtern formuliert das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, was Sache ist, in seinen gerade vorgelegten "Fakten zur demografischen Entwicklung Deutschlands 2010 - 2020". Deutlicher lässt sich nicht zum x-ten Male in Erinnerung rufen, dass Prognosen eben immer nur so gut sein können, wie die Annahmen, die dahinterstehen. Genau genommen sind die Bevölkerungsvoraussagen ja eigentlich Projektionen und damit Modellrechnungen, die nie wirklich falsch sein können, selbst wenn sich im Wirklichkeitstest zeigen sollte, dass die tatsächlichen Entwicklungen weit neben den Erwartungen liegen. Andererseits haben Bevölkerungsprojektionen wie alle ähnlichen Vorausberechnungen - beispielsweise bei Pandemieverläufen - den Ehrgeiz, mit maximaler Wahrscheinlichkeit und minimaler Abweichung relativ präzise die zukünftigen Entwicklungen abzubilden. Ein Blick zurück befördert Interessantes zutage. In der 11. "Bevölkerungsvorausberechnung" von 2006 hatte das Statistische Bundesamt für 2020 zwischen 80,1 und 81,3 Millionen Menschen als plausibelste Entwicklung prognostiziert. In der 12. Vorausberechnung von 2009 lagen die Prognosen zwischen 79,9 und 80,4 Millionen und in der 13. Vorausberechnung von 2015 zwischen 81,4 und 82,0 Millionen. Nicht in einem einzigen der Szenarien, nicht einmal bei den zu damaligen Zeiten extremsten Vorstellungen, wie es bereits wenige Jahre später werden könnte, kam man für 2020 auch nur annähernd zu den tatsächlich erreichten 83,2 Millionen. Immer lag man deutlich darunter und erwartete bis Mitte der 2010er-Jahre einen mehr oder weniger dramatischen Bevölkerungsrückgang. Erst die bis anhin letzte, 14. Vorausberechnung von Mitte 2019 traf für 2020 mit 83,4 Millionen Menschen zu - was bei einem Prognosehorizont von wenigen Monaten auch kein Wunder ist.

Offensichtlich liegen Bevölkerungsvorausberechnungen systematisch daneben. Und das nicht erst heute. Fehlprognosen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Oft lagen die Prophezeiungen kläglich neben der Realität. Es gab immer wieder das Undenkbare, das Unerwartete, Überraschungen und Ungewissheiten - wie Kriege, Naturkatastrophen, Gastarbeiterwanderungen, Wiedervereinigung oder Flüchtlingswellen. Dass Prognosen danebenliegen, ist somit eigentlich nicht erstaunlich. Aber das Bemerkenswerte liegt darin, dass der Prognosefehler bei Vorausberechnungen so dramatisch groß ausfällt, obwohl die Prognosen lediglich von drei Bestimmungsfaktoren abhängig sind: von der Anzahl der Menschen, die geboren werden, die sterben und die ein-oder auswandern. Mehr gibt es bei Bevölkerungsprognosen nicht - im Gegensatz zu Voraussagen in anderen Gebieten, in denen sich Dutzende von Einflüssen teils über Nacht dramatisch ändern können. Wie groß müssen demgemäß die Fehlerquellen bei viel komplexeren Sachverhalten sein, wie etwa bei der Prognose von Pandemieverläufen? Und damit stellt sich die Frage der Voraussagequalität im Zeitalter des Coronavirus. Wie Donnergrollen hallt da "Bergamo ist überall" durch die Modellwelten der Prognostiker. Wer nun in der sich anbahnenden dritten Welle einen dramatischen Weiterverlauf der Pandemie und ihren Opferzahlen voraussagt, droht jedoch einem immer wiederkehrenden Prognosefehler zu verfallen. Horrorszenarien zu drohenden existenzgefährdenden Krisen wurden und werden im Laufe der Menschheitsgeschichte vielfach gemacht. Meistens jedoch unterschätzen oder missachten sie, dass seit eh und je Menschen zwei fundamental wichtige "lebensrettende" Fähigkeiten eigen sind. Sie lernen und sie passen sich an.

Die ganz sicher nicht zu Bagatellisierung neigende Max-Planck-Forscherin Viola Priesemann hat in einem Interview einige mehr als bedenkenswerte Überlegungen angestellt: "Wenn Fallzahlen lokal steigen, nehmen sich viele ganz von alleine zurück und werden vorsichtiger. Umgekehrt wird der Ruf nach Lockerungen lauter, wenn die Fallzahlen sinken. Aber ganz genau lässt es sich nie vorhersagen, wie Menschen auf sich verändernde Fallzahlen reagieren werden. Die Prognose von Covid-Fallzahlen kann man mit einer Wettervorhersage vergleichen. Kurzfristig funktioniert das mit allen Modellen gut. Bei langfristigen Aussagen sind aber nur Szenarien möglich. Zum Beispiel: Wenn sich das Verhalten der Menschen nicht ändert, dann werden sich die Fallzahlen so entwickeln. Weil sich das Verhalten aber ändern kann, müssen wir alternative Szenarien berechnen." Es wäre an der Zeit, Viola Priesemann nicht nur wohlwollend zustimmend zuzuhören, wenn sie die Szenarien so wählt, dass alarmistische Prognosen mit stark steigenden Opferzahlen verkündet werden. Gerade mit Blick auf die immer wieder falschliegenden Bevölkerungsvoraussagen sollten auch jene Szenarien weit mehr Aufmerksamkeit erhalten, die für einmal von extrem positiven Verhaltensänderungen und erfolgreichen Anpassungsreaktionen der Bevölkerung ausgehen, schnellen Massenimpfungen, enormen Fortschritten bei Medikation und Behandlung (Schwerst-)Erkrankter und schlicht etwas "Serendipity" also glücklichen Zufällen (wie ein besonders warmer Frühling). Dann könnte es sein, dass die Krisenszenarien weit stärker neben der Realität liegen als optimistischere Modellberechnungen. Auch die Möglichkeit, dass es besser wird als befürchtet, muss die Politik in ihren Entscheidungsverfahren mitberücksichtigen.

Dieser Beitrag erschien erstmals am 24.03.2021 in der "WELT"