EN

Krieg in Europa
Unabhängig, unbeugsam, unter russischem Feuer: Wie die Ukraine ihren Unabhängigkeitstag begeht

Maidan in Kyjiw

Maidan in Kyjiw

© Anna Kravtšenko

Am 24. August 1991 hat das ukrainische Parlament die Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion erklärt. Vor einem Jahr noch feierte das ganze Land groß den 30. Jahrestag der Unabhängigkeit. In diesem Jahr begeht die Ukraine das Jubiläum im Zustand eines brutalen Krieges, den Russland, das die ukrainische Unabhängigkeit immer noch nicht akzeptieren will, gegen das Land führt. Statt Feierlichkeiten gibt es Warnungen wegen verstärkter Raketenangriffe rund um den Unabhängigkeitstag, Homeoffice-Empfehlung für gesamte Woche und ganztägige Sperrstunden in einigen besonders gefährdeten Regionen.

Die russische Invasion in die Ukraine dauert am Unabhängigkeitstag exakt sechs Monate. Die russische Führung hatte gehofft, Kyjiw innerhalb von drei Tagen einzunehmen und eine Militärparade am 9. Mai, dem Tag des Sieges, in Kyjiw durchzuführen. 180 Tage später ist die ukrainische Hauptstadt weiterhin frei, und die einzige Parade, die am Wochenende stattfand, war die Parade von zerstörter russischer Militärtechnik am Hreschatyk, dem Kyjiwer Hauptboulevard – am Sinn für Ironie hat es den Ukrainern nie gemangelt.

Auch wenn man in Städten wie Lwiw und Kyjiw auf den ersten Blick wenig vom Krieg spürt, erinnern die regelmäßigen Luftalarme daran, dass der Feind jederzeit wieder aus der Luft angreifen kann. Der Luftalarm kommt oft nachts und hält die Bevölkerung wach, oder er hält sie tagsüber von der Arbeit ab. Mittlerweile gehen jedoch immer weniger Leute in die dafür eingerichteten Luftschutzkeller, sondern nehmen einfach Deckung in ihren Wohnungen und Büros. Viele Bürger ignorieren den Luftalarm gar komplett – der gehört nach so vielen Monaten russischen Terrors zum Alltag.

Ein verdecktes Denkmal in Lwiw mit der Aufschrift „das Original werden wir nach dem Sieg bewundern“

Ein verdecktes Denkmal in Lwiw mit der Aufschrift „das Original werden wir nach dem Sieg bewundern“

© Anna Kravtšenko

Eindruck der Zerstörung und der brutalen Gewalt der russischen Armee

Langsam kehrt die Hauptstadt Kyjiw zum normalen Leben zurück, auch wenn jedem, der die Stadt vor dem Krieg kennt, die Veränderung auffällt. Fast die Hälfte der Einwohner haben Kyjiw in den ersten Wochen des Krieges verlassen, und viele sind noch nicht zurückgekehrt. Viele Restaurants, die vor allem von Ausländern frequentiert wurden, sind halb leer. Die berüchtigten Staus auf Kyjiwer Straßen sind auch noch nicht ganz zurück.

Außerhalb Kyjiws, vor allem in den Vororten, ist das Bild weit weniger “normal” – die Einfahrt in das Kyjiwer Gebiet, in dem die auf traurige Weise berühmt gewordenen Orte Bucha und Irpin liegen, hinterlässt einen heftigen Eindruck der Zerstörung und der brutalen Gewalt der russischen Armee, die mit allen Mitteln versucht hat, näher an Kyjiw heranzurücken. Auch die Fahrt durch Kleinstädte und Dörfer der Ukraine, die nicht direkt von Kriegshandlungen betroffen waren, offenbart einen traurigen Anblick: Frische Gräber auf den Friedhöfen mit ukrainischen Flaggen versehen – so werden Kriegshelden begraben, die ihr Leben im Kampf für die Unabhängigkeit der Ukraine verloren haben.

Die aktiven Kriegshandlungen konzentrieren sich nun auf den Osten und Südosten der Ukraine. Die ukrainische Armee hat ihre Gegenoffensive offenbar auf die Krim erweitert, auch wenn sie dies nicht ausdrücklich zugibt. In den vergangenen Tagen gab es gezielte Angriffe auf Stützpunkte des russischen Militärs auf der völkerrechtswidrig annektierten Halbinsel. Strategisch wichtige Städte der Ukraine wie Melitopol, Cherson und das fast komplett zerstörte Mariupol sind aber weiterhin von Russen besetzt – ihre Befreiung und das Verhindern eines weiteren Vorrückens der russischen Armee bleiben Priorität für die ukrainische Regierung. Hierfür werden alle verfügbaren Mittel eingesetzt; die ukrainische Gesellschaft leistet einen enormen finanziellen Beitrag zur Unterstützung der Armee. Eine Initiative hat vergangene Woche für Schlagzeilen gesorgt: Serhij Pritula, ein ukrainischer Entertainer und Politiker, hat aus Crowdfunding-Mitteln den ukrainischen Geheimdiensten Zugang zu Satellitenaufnahmen gesichert, die ein recht genaues Bild der Bewegungen der russischen Armee zeichnen.

In Lwiw ausgestellte zerstörte russische Militärtechnik

In Lwiw ausgestellte zerstörte russische Militärtechnik

© Anna Kravtšenko

Sicherheitslage ist prekär

Die Mobilisierung finanzieller Ressourcen für die Armee hat allerdings Auswirkungen auf andere wichtige Bereiche des öffentlichen Lebens. So sollte das Schuljahr regulär am 1. September beginnen. Zurzeit ist jedoch unklar, ob und wie es starten kann. Viele Lehrer, aber auch Schüler, mussten ins Ausland fliehen. Zudem ist die Sicherheitslage prekär, und die meisten Schulen sind nicht ausreichend vorbereitet auf Angriffe jedweder Art. Bei Luftalarm muss der Unterricht umgehend unterbrochen werden. Auch fehlt es den Schulen an finanzieller Ausstattung für Gehälter und Sicherheitsausrüstung. Experten beklagen, dass bis dato dieses Jahr keine Schulbücher gedruckt werden konnten, also muss das Schuljahr ohne aktuelles Lehrmaterial starten. Ukrainische Lehrkräfte haben zwar seit Kriegsausbruch bewiesen, dass sie auch unter widrigen Umständen gute Arbeit leisten können – sie sind dafür aber auf ein Mindestmaß an finanzieller und körperlicher Sicherheit angewiesen.

Zudem steht der Ukraine wohl ein kalter, ungemütlicher Winter bevor. Russland verfolgt scheinbar die Strategie, die Ukrainer zu Beginn der kalten Jahreszeit frieren zu lassen. So werden immer häufiger wichtige Energieinfrastrukturobjekte angegriffen; auch Nachschub an Heizöl und Gas ist immer schwieriger zu besorgen. Die ukrainische Regierung gibt dennoch an, die Situation unter Kontrolle zu haben – die Gasspeicher sollen genau wie letztes Jahr zu dieser Jahreszeit zu 70 % gefüllt sein. Die seit dem Kriegsbeginn fast unsichtbar gewordene Opposition kritisiert jedoch, dass es keine Belege für diese Angaben gibt. Und während man in Deutschland die Befürchtung hat, im Winter frieren zu müssen, wissen die Ukrainer jetzt schon ganz genau, dass der Herbst und Winter für sie ungemütlich werden. Sie bereiten sich aktiv vor und kaufen Heizgeräte, warme Schlafsäcke, leistungsstarke Powerbanks, manch einer baut sich sogar bereits einen eigenen Heizofen.

Die ukrainische Wirtschaft leidet enorm unter dem Krieg – sie wird dieses Jahr nach Schätzung der Weltbank um 45 % einbrechen. Die Inflation lässt sich nicht aufhalten, die massive Preissteigerung belastet alle Bevölkerungsschichten; auch die, die vor dem Krieg noch relativ wohlhabend waren. Die Hälfte der Ukrainer hat ihren Job durch den Krieg verloren und ist auf bescheidene staatliche Leistungen, Gelegenheitsjobs und Angebote von Hilfsorganisationen angewiesen. Der Staat kann seine finanziellen Verpflichtungen bald nicht mehr erfüllen, sollte die Ukraine nicht verstärkt finanzielle Hilfen erhalten. 

Der Glaube an den Sieg und die Hoffnung, dass die ukrainische Armee es schafft, das Land zu befreien, sorgen dennoch weiterhin für eine entschlossene Grundstimmung im Land. Die Ukraine ist dabei stärker denn je auf die Unterstützung internationaler Partner angewiesen, vor allem bei der Lieferung von Waffen und Ausrüstung für ihre Soldaten. Die härtesten Kämpfe im Osten und Südosten der Ukraine stehen wohl erst noch bevor. Diese Unterstützung darf nicht nachlassen: Damit die Ukraine im nächsten Jahr ihren Unabhängigkeitstag wieder groß feiern kann.

Anna Kravtšenko ist Projektleiterin in der Ukraine und Belarus.