Bulgarien
Bulgariens Regierung tritt zurück
Massenproteste in Sofia, Bulgarien - 10. Dezember 2025
© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Valentina PetrovaIn den vergangenen Wochen hatte es ganz Bulgarien Massenproteste gegen die Regierung gegeben. Zuletzt kamen allein in Sofia wohl mehr als 100.000 vor allem junge Menschen zusammen. Zu den Demonstrationen hatte die FNF-Partnerpartei PP aufgerufen, Teil des größten Oppositionsbündnisses im Lande. Jetzt ist unter dem Druck der Proteste die Regierung zurückgetreten – ein durchschlagender Erfolg für die demokratische Bewegung. FNF-Mitarbeiterin Margarita Nikolova, selbst Teil der GenZ und in den vergangenen Tagen oft auf den Straßen der Hauptstadt unterwegs, beschreibt ihre Einschätzungen und Hoffnungen.
„Die eigentliche Arbeit fängt erst jetzt an!“ So lässt sich die Stimmung in Bulgarien beschreiben, nur Stunden nach dem Rücktritt der Regierung von Premierminister Rosen Jeliaskov (GERB). In den vergangenen Wochen hatten immer wieder Abertausende von Bürgern die Straßen von Sofia gefüllt; Dutzende von Städten im ganzen Land sowie bulgarische Gemeinschaften im Ausland – von Varna und Plovdiv bis Wien, Berlin und London – schlossen sich ihnen an.
Im Gegensatz zu den Protesten im Sommer, die sich gegen die Verhaftung von Blagomir Kotsev richteten, den Bürgermeister von Varna von der Oppositionspartei PP „Wir setzen den Wandel fort“, der von vielen im In- und Ausland als politischer Gefangener angesehen wurde, waren diese Proteste aufgrund ihrer Vielfalt beeindruckend. Menschen aus fast allen sozialen Gruppen, einschließlich Minderheiten, Menschen unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlichen politischen Überzeugungen, waren durch ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsame Sache vereint – das Streben nach einem normalen, funktionierenden Staat.
Die Proteste der vergangenen Wochen haben etwas sehr Wichtiges gezeigt: Die bulgarische Gesellschaft, die oft als apathisch und zersplittert angesehen wird, hat bei ausreichend starkem Anreiz immer noch das Potenzial, sich zu mobilisieren.
Dieser schnelle und breite öffentliche Druck setzte einer Regierung ein Ende, deren Politik und öffentliche Skandale, vor allem rund um den Staatshaushalt für 2026, dem ersten in Euro, das ohnehin nicht besonders hohe Vertrauen in die Institutionen weiter untergraben hatten. Doch obwohl der Rücktritt einen politischen Wendepunkt darstellt, ist er nur der Anfang, denn die eigentliche Arbeit fängt erst jetzt an.
GenZ kommt nicht, GenZ ist da
„GenZ is coming” war eines der größten und einprägsamsten Protestplakate bei den Demonstrationen in Sofia dieser Tage. In der knappen, aber klaren Botschaft sahen viele Menschen in Bulgarien die Absicht einer jungen Generation, sowohl die Zukunft als auch die Gegenwart ihres Landes selbst in die Hand zu nehmen.
„Ihr habt die falsche Generation verladen!“, war ein weiterer beliebter Slogan unter den Jugendlichen. Ihre kreativen Transparente, sarkastischen und fröhlichen Lieder und ihre Sprache trugen zu einem völlig neuen Puls und Rhythmus der öffentlichen Unzufriedenheit bei. Genau aus diesem Grund ist es sinnvoller zu sagen: GenZ kommt nicht, GenZ ist da.
Für viele Vertreter dieser Generation war dies die erste echte Bürgerbeteiligung, und die Emotionalität und Freiheit in ihrem Verhalten standen in starkem Kontrast zu ihrem traditionellen Image als passive, „unengagierte“ Jugend. Dabei trifft zu, dass vielen von ihnen grundlegende Kenntnisse über die politische Szene fehlen, was sie anfällig macht für politische Demagogen. . Aber diese jungen Leute sind nicht dumm. Sie sind Idealisten, die fest daran glauben, dass Bulgarien ein besserer Ort sein kann, an dem sie sich beruflich weiterentwickeln, Familien gründen und wirklich glücklich sein können. Aber ihre Träume lassen sich ausnutzen von Politikern, deren einziges Ziel es ist, sie und ihre Hoffnungen langsam zu ersticken. Das kennen wir schon von den Massenprotesten 2020.
Die Energie der Proteste muss kultiviert werden
Genau hier liegt die entscheidende Frage: Was folgt auf das erste politische Erwachen einer ganzen Generation? Die bulgarische Gesellschaft hat die große Chance, diese Generation, von der die Zukunft Bulgariens abhängt, nicht nur zu politisieren, sondern nachhaltig zu demokratisieren.
Die Memes, die Protestlieder, die Tausenden von humorvollen, aber auch ernsten Aufrufe zur Teilnahme an Protesten, die junge Menschen seit Wochen in den sozialen Netzwerken verbreiten, sind großartig. Die Protestenergie der jungen Menschen muss jedoch in bürgerschaftliches Engagement über das Wählen hinaus umgesetzt werden, was an sich schon ein guter Anfang ist. Ein nicht unerheblicher Teil von ihnen ist gerade volljährig geworden und bereit, ihr Wahlrecht auszuüben. Diese Chance werden sie offenbar schon sehr bald haben.
Der Aufbau einer nachhaltigen demokratischen Kultur ist eine gemeinsame Aufgabe
In der gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Situation liegt die Verantwortung für den Aufbau einer nachhaltigen demokratischen Kultur bei allen Generationen. Die Älteren müssen bewusst ihre langjährige Erschöpfung und Enttäuschung überwinden, die oft zu Misstrauen gegenüber den Jungen führt, und lernen, die jungen Leute durch Dialog, Unterstützung und echtes Empowerment zu fördern. Das bedeutet anzuerkennen, dass die neue Generation über Kompetenzen, Sensibilität und Perspektiven verfügt, die für die Modernisierung des Landes von entscheidender Bedeutung sind. Die Generation Z ihrerseits steht vor der Notwendigkeit, die Energie aus den Straßen in langfristiges Engagement umzuwandeln, Idealismus mit Realismus zu verbinden und den historischen Beitrag der vorangegangenen Generationen zu würdigen, die die Grundfreiheiten bewahrt haben, auf denen sie heute aufbaut.
Wenn beide Generationen das schaffen und aufeinander zugehen, kann eine nachhaltige demokratische Kultur entstehen, die nicht nur in Krisenzeiten aktiv wird, sondern täglich funktioniert. Dies ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass Bulgarien den Übergang von zyklischen Umbrüchen zu einem vorhersehbaren, normalen und demokratisch steuerbaren Gesellschaftsmodell schafft. Es wird schwer, aber es ist machbar, mehr als je zuvor. Die eigentliche Arbeit fängt erst jetzt an!