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Krieg in Europa
Schule im Kriegsalltag

Die Rolle von ukrainischen Lehrkräften im Krieg
Ukrainische Schulkinder

Ukrainische Flüchtlinge im Notunterricht

© picture alliance / abaca | Koshelev Albert/Ukrinform/ABACA

 „Ich war so in den Unterricht vertieft, dass ich den Alarm nicht hörte,“ – schrieb mir Lidia Nasonova am 1. März. Frau Nasonova ist Lehrerin für ukrainische Sprache und Literatur und Finalistin des Global Teacher Prize Ukraine 2021.

Zu dieser Zeit befand sie sich in Charkiw, das von russischen Truppen heftig beschossen wurde. Während draußen alles explodierte und zusammenbrach, hielt Lydia ihre pädagogische „Front“ – sie brachte Kindern bei, Figuren zu erfinden und Geschichten zu schreiben.

Nicht nur ihre 30 Schülerinnen und Schüler, sondern mehrere Hundert andere Kinder aus verschiedenen Teilen der Ukraine und der Welt nahmen an diesem Unterricht teil. Und der Unterricht war nicht gewöhnlich, sondern zielte darauf ab, Kinder vom Krieg abzulenken, ihnen einen sicheren Raum für die Kommunikation mit der Lehrerin und Gleichaltrigen zu schaffen und auch etwas Neues beizubringen.

Mehr als 300 Lehrkräfte aus der ganzen Ukraine sind dem Aufruf der NRO „Smart osvita“ gefolgt, kostenlosen und offenen Unterricht für alle Kinder abzuhalten. Sie alle waren bereit, ihre Zeit und Energie zu spenden, um Kindern zu helfen. Dabei waren sie selbst oft in Gefahr, verängstigt und machtlos.

Während mehrerer Monate des groß angelegten Krieges Russlands gegen die Ukraine unterrichteten die Lehrkräfte nicht nur von Schutzräumen und Korridoren aus, sondern beantworteten auch die Fragen der Kinder zu Tod, Zerstörung und Ungerechtigkeit. Zusätzlich engagierten sie sich in ihrer Freizeit ehrenamtlich und verwandelten Schulen in Zentren für die Unterstützung von Vertriebenen, Stabsstellen für die Zubereitung der Speisen für Militärs usw. Das Engagement der ukrainischen Lehrkräfte, die oftmals selbst unglaublichen Stress oder sogar Traumata erlebt haben, ist sehr umfassend.

So starteten beispielsweise zwei Lehrkräfte, Ljudmyla Bulyhina und Jurij Hajdutschenko, eine Initiative zur Unterstützung ihrer Kolleginnen und Kollegen, die in die Armee eingetreten sind. „Die Lehrkraft geht zu den ukrainischen Streitkräften“ sammelt Mittel für die Ausstattung von Lehrkräften, die während des Krieges mit Russland die Bildungsfront durch eine militärische ersetzt haben. Diejenigen, die nicht zu den Waffen griffen, schlugen ihre Lehrbücher wieder auf und setzten sich an ihre Computer, um ukrainische Kinder zu unterrichten. Schließlich kann die Bildung nicht warten.

Gute Lehren aus COVID-19: Online-Unterricht

Dass viele Ukrainerinnen und Ukrainer sehr proaktiv sind und Veränderungen fordern, lässt sich auch am Beispiel der Einführung des Online-Lernens erkennen. Nach Beginn der Corona-Pandemie waren Schulen und Lehrkräfte im ganzen Land zunächst verwirrt und orientierungslos. Manche stellten sich sehr schnell der Herausforderung, richteten Zoom, Teams, Skype usw. ein und begannen mit dem Online-Unterricht. Schließlich beschloss das Ministerium für Bildung und Wissenschaft, dass mindestens 30 % der Unterrichtszeit im Synchronmodus, also live online, stattfinden sollten.

Daher wuchs schnell die Zahl der Pädagoginnen und Pädagogen, die ihre Fähigkeiten in der digitalen Bildung verbesserten. Heute ist das Fehlen von Live-Online-Unterricht eher eine Ausnahme oder eine Folge von fehlender Ausrüstung oder Internetverbindung.

An dieser Stelle sollte hinzugefügt werden, dass Lehrkräfte und Schulen bei der Bewältigung dieser Herausforderungen von öffentlichen Organisationen aktiv unterstützt wurden. So startete unsere NRO „Smart osvita“ mit Unterstützung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit unmittelbar nach Beginn der Pandemie Webinare mit jenen Lehrkräften und Schulleitern, die Erfahrung in der Organisation von Distanzunterricht hatten und diese mit ihren Kolleginnen und Kollegen teilen konnten. Diese Veranstaltungen waren bei den Lehrkräften unglaublich beliebt, und ihre Materialien bildeten die Grundlage für zukünftige Empfehlungen für alle Schulen des Landes, die vom Ministerium für Bildung und Wissenschaft der Ukraine verteilt wurden.

Nach dem 24. Februar 2022 konnten sowohl die Lehrkräfte als auch die Schülerinnen und Schüler das Lernen schnell in den Online-Modus verlagern. Sie waren nach zwei Jahren der Pandemie schließlich bestens darauf vorbereitet, den Bildungsprozess in den virtuellen Raum zu übertragen. Außerdem gab es bereits die Plattform „Allukrainische Online-Schule“ mit öffentlich zugänglichem Unterricht für die Klassen 5-11.

Deshalb konnten die Lehrkräfte, wenn sie zumindest in relativer Sicherheit waren, Kinder unterrichten, die über die ganze Ukraine und die ganze Welt verstreut waren. Nach einer zweiwöchigen Pause für die Zwangsferien begannen die Schulen, den Unterricht wieder aufzunehmen.

Laut Angaben des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft mit Stand vom 27. Mai arbeiteten 11.915 Schulen in einem Fernformat, 372 in einem gemischten Format und 129 nahmen den Präsenzunterricht wieder auf.

Diejenigen Kinder, deren Schulen und Klassen den Unterricht aufgrund aktiver Kämpfe nicht wiederaufnahmen, konnten anderen Schulen in sichereren Gebieten des Landes beitreten, auf Bildungsplattformen lernen oder kostenlos online am Unterricht in Privatschulen teilnehmen.

Aufgrund des ständigen Beschusses in ihren Städten, des fehlenden Internets in den Schutzräumen und schwerer psychischer Traumata konnten dies jedoch nicht alle Kinder tun. Für manche Schülerinnen und Schüler sind die letzten Unterrichtsmonate (über ein Drittel des Schuljahres) bereits verloren. Die Überbrückung der Lernlücken von Schülerinnen und Schüler und die Arbeit mit traumatisierten Kindern und Lehrkräften sind einige der vielen Herausforderungen, vor denen das ukrainische Bildungssystem heute steht.

Leistungsstarke Organisationen im Bildungsbereich

Die Ukraine verfügt über starke zivilgesellschaftliche Organisationen, die zur Lösung von Bildungsproblemen beitragen. Manche Ausländerinnen und Ausländer sind überrascht davon zu erfahren, da in ihren Ländern die staatlichen Institutionen teils stabiler und mächtiger sind. In der Ukraine werden viele dieser Aufgaben allerdings häufig von öffentlichen Organisationen wahrgenommen.

Hier schaffen NROs Online-Plattformen für das Lernen von Schülerinnen und Schülern und die Fortbildung von Lehrkräften, entwickeln Online-Kurse für die berufliche Weiterbildung von Lehrkräften und arbeiten methodische Empfehlungen aus, die dann vom Ministerium für Bildung und Wissenschaft allen Schulen empfohlen werden, organisieren Programme zur Überbrückung von Lernlücken und entwickeln Unterrichtsmaterialien für Schulen.

Natürlich werden diese Projekte in Zusammenarbeit mit dem Ministerium und anderen staatlichen Einrichtungen durchgeführt, aber oft ist es der öffentliche Sektor, der den Wandel initiiert und vorantreibt. Die Empfehlungen für die Distanzbeschulung, die auf offizieller Ebene empfohlen wurden, sind eines von vielen Beispielen für die Arbeit des öffentlichen Sektors.

Mit dem Ausbruch des Krieges begannen öffentliche Organisationen die Vorbereitung der Schulabgängerinnen und -abgänger auf den nationalen Mehrfächertest (der in diesem Jahr zum ersten Mal während des Krieges abgehalten wird, wodurch die übliche externe unabhängige Bewertung abgeschafft wurde), die Durchführung des kostenlosen Online-Unterrichts für Schülerinnen und Schüler von Schulen, die die Distanzbeschulung noch nicht wieder aufgenommen haben, die Ausbildung von Lehrkräften in psychologischer Belastbarkeit, die Organisation von sogenannten Catch-up-Klassen für Schülerinnen und Schüler, die Lücken in ihrem Unterricht haben und zusätzlichen Unterricht benötigen, usw.

Starke und standhafte Lehrkräfte

Ich begann diesen Text mit einer Geschichte über eine solche Lehrerin. In der Ukraine gibt es Tausende von ihnen. Trotz Müdigkeit und Stress setzten sie ihre Arbeit fort. Sie waren bereits mit dem Distanzformat sehr vertraut. Aber sie wussten nicht, wie sie die Fragen der Kinder über den Tod eines Klassenkameraden oder eines Verwandten beantworten sollten; wie man in einer Klasse unterrichtet, in der ein Kind in einem Schutzraum und das andere am Meer in Sicherheit ist; wenn Kinder aufgrund von Müdigkeit und Stress ungewöhnlich aggressiv werden. Wie soll man schließlich mit Kindern über diesen Krieg sprechen, der ihr Zuhause, ihre Schule, ihre Stadt und ihr Land zerstört? Und wie soll man weiterarbeiten, wenn man selbst unter Dauerstress steht und sich Sorgen um das Schicksal seiner Angehörigen und des ganzen Landes macht?

Das brachte niemand den Lehrkräften bei. Aber standhaft und mutig meisterten sie diese Herausforderung. Trotz Zeitmangel, Beschuss, Stress und Müdigkeit durchliefen sie eine Expressschulung. Sie unterrichteten Kinder in einer Zeit, in der viele wie gelähmt waren und nur noch ununterbrochen die Nachrichten verfolgten.

Sie sind unsere größte Ressource, die das Land nicht verlieren darf.

Daten des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft, Stand vom 6.-11. Juni 2022

  • 651.021 Schülerinnen und Schüler befinden sich derzeit im Ausland
  • 24.016 Lehrkräfte gingen ins Ausland
  • 79.015 Kinder, die ihr Zuhause verlassen mussten, gingen in anderen Regionen der Ukraine zur Schule
  • 1.297 Bildungseinrichtungen wurden durch Kampfhandlungen beschädigt, 194 davon wurden vollständig zerstört. Diese Daten umfassen Schulen, Kindergärten, Universitäten sowie andere Bildungseinrichtungen.
  • 1.387 Bildungseinrichtungen befinden sich in dem vorübergehend besetzten Gebiet.

Halyna Tytysch, Vorstandsvorsitzende der NRO „Smart osvita“