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Krieg in Europa
Ohne Strom, ohne Heizung, ohne Russland

Militärtechnik-Ausstellung am Michaelsplatz

Militärtechnik-Ausstellung am Michaelsplatz

© Anna Kravtšenko

In der Ukraine wird es kälter und kälter. Für die Soldaten an der Front bedeutet das noch härtere Kampfbedingungen. Die ukrainische Bevölkerung weiß das und beschwert sich nicht über Strom- und Heizungsausfälle. Die Menschen sammeln laufend Spenden, damit die denjenigen, die derzeit ihr Leben für die Unabhängigkeit der Ukraine an der Front riskieren, bessere Chancen haben zu überleben. Die Appelle der ukrainischen Politik und Gesellschaft an die internationale Gemeinschaft, mehr Waffen an die Ukraine zu liefern, werden dementsprechend nicht leiser. Denn die Ukrainerinnen und Ukrainer haben einen Wunsch für 2023: den Sieg. 

Am Sonntagabend, dem 18. Dezember, wurde am Kyjiwer Maidan in Anwesenheit von Diplomaten, Politikern und Mitgliedern der jüdischen Gemeinde der Ukraine das jüdische Lichterfest Chanukka eingeläutet. Dieses „Fest der Hoffnung“ hat dieses Jahr eine besondere symbolische Bedeutung für die Ukraine, wo die Lichter derzeit leider allzu selten leuchten. Auch nicht-jüdische ukrainische Kinder gingen an jenem Abend voller Erwartung ins Bett, denn am 19. Dezember feiert die Ukraine auch Nikolaus – nach dem julianischen Kalender. Leider gab es statt Geschenken mitten in der Nacht Luftalarm und massive russische Luftangriffe; erneut waren sogenannte Kamikaze-Drohnen aus dem Iran zum Einsatz gekommen. Der ukrainischen Flugabwehr gelang es zwar, 30 von 35 abgefeuerten Shahed-136 Drohnen unschädlich zu machen, aber dennoch kam es zu Beschädigungen der kritischen Infrastruktur, auch in der Hauptstadt.

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Dabei hatte sich die Infrastruktur der Hauptstadt nach dem letzten massiven Raketenangriff durch Russland am Freitag zuvor gerade einigermaßen erholt. Russland hatte an diesem Tag eine Rekordzahl an Raketen auf die Stadt Kyjiw abgeschossen – insgesamt 40. Es gab erneut große Probleme mit der Stromversorgung. Zum ersten Mal seit Kriegsbeginn musste die Kyjiwer Metro für einen ganzen Tag den Betrieb einstellen, weil nicht genug Strom zur Verfügung stand. Dabei wird die Metro prioritär versorgt. Auch das Wasser wurde in den meisten Bezirken für mehr als 24 Stunden abgestellt. Neben Kyjiw ist die Hafenstadt Odesa seit Wochen extrem von den Angriffen betroffen. Für die Bevölkerung bedeutet das einen extrem beeinträchtigten Alltag, Ausharren in kalten Wohnungen und teilweise auch Einkommensverluste. Auch für Geschäfte und Unternehmen, die Arbeitsplätze sichern und durch ihre Steuern die immer leerer werdende Staatskasse füllen sollten, ist die aktuelle Situation existenzbedrohend.

Angriffe wurden immer brutaler

Russland hat seine perfiden Angriffe lange und sorgfältig geplant. Bereits im Sommer waren sich Experten einig, dass der Ukraine unter anderem aus diesem Grund ein harter Winter bevorstehen wird. Als Anlass und Scheinbegründung für den ersten großen russischen Angriff auf die ukrainische Infrastruktur am 10. Oktober wurde eine Explosion an der Krimbrücke genutzt. Seitdem werden diese Angriffe wöchentlich geflogen, meistens montags, in den letzten Tagen allerdings immer öfter und brutaler. Der Kreml erhofft sich dabei, dass die Ukrainer die harten Lebensbedingungen nicht mehr aushalten und die ukrainische Führung zu Verhandlungen mit Russland zwingen. Diese Annahme zeigt erneut, dass Putin die ukrainische Gesellschaft grundlegend falsch einschätzt. Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben sich stattdessen in den letzten Monaten als noch widerstandsfähiger erwiesen als je zuvor. Die auf einer Wutrede des Präsidenten Selenskyj basierte und von Bürgern mitinitiierte Social Media Kampagne mit dem Hashtag „Ohne euch“ soll Russland zeigen, dass man bereit ist, für seine Freiheit auf vieles zu verzichten – Hauptsache, man entzieht sich der „russischen Einflusssphäre“.

Auch auf den berühmten Weihnachtsmarkt am Sophienplatz muss die Kyjiwer Bevölkerung dieses Jahr verzichten. Zwar stellte die Stadtverwaltung nach langen Diskussionen einen patriotisch geschmückten Weihnachtsbaum auf, der allerdings deutlich bescheidener ausfällt als in den letzten Jahren und dessen Beleuchtung von einem Generator betrieben wird. Laut Bürgermeister Vitali Klitschko hat die Stadt keine einzige Hryvnia aus der Stadtkasse dafür aufgewendet – der Baum und der Generator kamen aus Spenden von Privatunternehmern an die Stadt Kyjiw. Unweit des Sophienplatzes am Michaelsplatz befindet sich eine Ausstellung zerstörter russischer Militärtechnik. Zudem stehen dort zivile Autos mit Einschusslöchern aus den befreiten Gebieten – Menschen haben mit ihrer Hilfe versucht, dem Krieg zu entfliehen, und wurden dabei zur Zielscheibe russischer Besatzer.

Aktive Beteiligung belarusischer Truppen?

Im ganzen Land werden „Punkte der Unzerstörbarkeit“ eingerichtet, insgesamt über 5.000. Hier können sich die Menschen aufwärmen, ihres Handys laden, arbeiten (es gibt dort WLAN) und heißen Tee trinken. Wegen der Einrichtung dieser Punkte kam es zu einem seit Kriegsbeginn eher seltenen innenpolitischen Streit, als Präsident Selenskyj bei einer abendlichen Ansprache dem Kyjiwer Bürgermeister Klitschko öffentlich Versäumnisse bei der Eröffnung solcher Punkte in der Hauptstadt vorwarf. Dies wurde von vielen Beobachtern als ein Versuch gewertet, mögliche Konkurrenz auszuschalten. Dabei ist Vitali Klitschko weniger als ernst zu nehmender Herausforderer des Präsidenten anzusehen. Wahrscheinlicher ist es, dass der nächste Präsident aus den Reihen der Gouverneure kommen könnte, die unglaublichen Widerstand in der Nähe der Frontlinie leisten – oder aus dem Militär, das zurzeit das höchste Ansehen in der Bevölkerung genießt.

Besonders beliebt ist in der Ukraine heute etwa der Chef der ukrainischen Armee, General Valery Saluschnyj, dem der größte Anteil an den Erfolgen der ukrainischen Armee zugeschrieben wird. In seinem letzten Interview für den britischen „Economist“ warnte Saluschnyj, dass Russland Anfang 2023 einen neuen Angriff auf Kyjiw starten könnte. Ebenso für Beunruhigung sorgte in der Ukraine der Besuch des russischen Präsidenten Putin in Minsk, der an diesem Montag nur wenige Stunden nach dem erwähnten Drohnenangriff stattfand. Putin wurde von Außenminister Lawrow und Verteidigungsminister Schoigu begleitet. Der belarusische Machthaber Lukaschenka bietet Russland weiterhin bereitwillig sein Territorium als Startplatz für Luftangriffe auf die Ukraine an. Ein neuer Angriff aus dieser Richtung auf dem Landweg ist nicht vollkommen ausgeschlossen. Eine Frage, die dabei offenbleibt, ist, ob sich belarusische Truppen aktiv am Krieg beteiligen könnten. Bisher konnte Lukaschenka diesem in der belarusischen Bevölkerung eher unpopulären Schritt entgehen.

Der Sieg als größter Wunsch

In der Ukraine wird es kälter und kälter, die Temperaturen erreichen derzeit bereits bis zu minus 17 Grad. Für ukrainische Soldaten an der Front bedeutet das noch härtere Kampfbedingungen. Die ukrainische Bevölkerung weiß das und beschwert sich nicht über Strom- und Heizungsausfälle. Die Menschen sammeln laufend Spenden, damit die denjenigen, die derzeit ihr Leben für die Unabhängigkeit der Ukraine an der Front riskieren, bessere Chancen haben zu überleben. Die Appelle der ukrainischen Politik und Gesellschaft an die internationale Gemeinschaft, mehr Waffen an die Ukraine zu liefern, werden dementsprechend nicht leiser. Denn die Ukrainerinnen und Ukrainer haben einen ganz großen Wunsch für 2023. Einen Wunsch, der auf Glückwunschkarten und Souvenirs gedruckt und bei jeder Gelegenheit ausgesprochen wird: „Peremoha“. Der Sieg.

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© Anna Kravtšenko