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Türkei Bulletin
„Männliche Staatsgewalt ist überall“

Türkei Protest

Die Frauen in der Türkei haben nie aufgehört, gegen männliche Gewalt zu protestieren. Unter dem Slogan „Frauensolidarität kennt keine Grenzen“ gingen sie auch in den letzten Wochen in der ganzen Türkei auf die Straße, um sich mit den iranischen Frauen für Mahsa Amini zu solidarisieren. 

© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Tolga Ildun

Ich wohne in Kadıköy, auf der asiatischen Seite Istanbuls. Seit einiger Zeit gehe ich auf dem Weg von meinem Haus zur Fähre an drei Plakaten in türkischer und englischer Sprache vorbei:

„Sei die Stimme der iranischen Frauen #MahsaAmini“

„Was geschieht im Iran? Wer ist Mahsa? Scanne den QR-Code“

„Frau-Leben-Freiheit #MahsaAmini“

Mahsa Amini starb, nachdem sie von der Sittenpolizei im Iran unter dem Vorwand festgenommen war, sie habe ihr Kopftuch nicht ordnungsgemäß getragen. Mahsa wurde Opfer von männlicher Staatsgewalt. Auch wenn die Geschichte nicht genau dieselbe ist, wissen die Frauen in der Türkei sehr gut, was es bedeutet, wenn der von Männern dominierte Staat in ihr Leben eingreift. Daher haben die Proteste, die nach der Ermordung von Mahsa Amini im Iran und weltweit einsetzten, hier eine andere Bedeutung.

Im Jahr 2013, während der Gezi-Park-Proteste, die in Istanbul begannen und sich in der Folge über das ganze Land ausbreiteten, reagierte die AKP-Regierung auf die Bürgerinnen und Bürger, die auf die Straße gingen, mit sehr hartem Polizeieinsatz. Mehrere Menschen verloren ihr Leben.

Die Gezi-Proteste, eine der wichtigsten Zäsuren in der Ära der AKP-Regierung, und die darauf folgenden politischen Turbulenzen führten de facto sowohl zur Aussetzung des verfassungsmäßigen Rechts auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit wie auch dazu, dass Bürgerinnen und Bürger immer zögerlicher von diesem Recht Gebrauch machen. Es gibt allerdings eine Gruppe, die diese De-facto-Situation beharrlich ignoriert: die Frauenbewegung.

Die Frauen in der Türkei haben nie aufgehört, gegen männliche Gewalt zu protestieren. Unter dem Slogan „Frauensolidarität kennt keine Grenzen“ gingen sie auch in den letzten Wochen in der ganzen Türkei auf die Straße, um sich mit den iranischen Frauen für Mahsa Amini zu solidarisieren. Bei den Demonstrationen in verschiedenen Städten war auf den Plakaten unter anderem folgendes zu lesen: „Freiheit im Iran, in der Türkei und überall“, „Frauen, Revolution, Freiheit“, „Unsere letzte Pflicht als Frauen wird es sein, Diktatoren zu kochen und zu essen“, „Mahsas Mörder ist das von Männern dominierte Regime“, „Frauen wollen Revolution“, „Männliche Staatsgewalt ist überall“. Teilnehmerinnen der Demonstrationen schnitten sich wie im Iran die Haare ab. Einige der Solidaritätsbekundungen wurden von der Polizei unterbunden, und es kam zu mehreren Festnahmen.

Eine zeitgleich auch in anderen europäischen Großstädten organisierte Demonstration in Istanbul wurde ebenfalls von der Polizei verhindert, und eine iranische Aktivistin wurde festgenommen. In einem Gespräch mit dem Medienportal Voice of America Türkçe sagten iranische Aktivistinnen, sie hätten eine Demonstration beantragt und eine offizielle Genehmigung erhalten, seien aber trotz dieser Genehmigung an der Organisation gehindert worden.

Der Mord an Mahsa Amini hat jedoch nicht nur auf der Straße, sondern auch in der Politik Widerhall gefunden. Weibliche Mitglieder der Demokratischen Volkspartei (HDP) sagten: „Die Gewalt gegen Frauen im Iran unterscheidet sich nicht von der Gewalt gegen Frauen in der Türkei und dem männlichen Staatsdenken. Es geht um internationale Solidarität.“ Frauen der türkischen Arbeiterpartei erklärten: „Iranische Frauen schneiden sich die Haare ab und zünden ihre Kopftücher an für Mahsa Amini, die von der Sittenpolizei des Mullah-Regimes getötet wurde. Iranische Frauen, die für Freiheit und Leben gegen die Scharia kämpfen: Wir hören und begrüßen ihre Rebellion aus der Türkei.“ Ercüment Akdeniz, Vorsitzender der Arbeiterpartei, betrat die Bühne auf der Gründungsversammlung des Bündnisses für Arbeit und Freiheit (Zusammenschluss der linkspolitischen Parteien der Türkei) mit Mahsa Aminis Foto und grüßte die iranischen Frauen auf Farsi.

Während die Welt über den Widerstand der iranischen Frauen gegen den Kopftuchzwang sprach, wurde in der Türkei die Rede des wichtigsten Oppositionsführers Kemal Kılıçdaroğlu im Parlament für das gesetzlich verankerte Recht auf das Tragen des Kopftuchs diskutiert. „Schluss mit der Ausbeutung des Glaubens der Frauen“, sagte Kılıçdaroğlu und legte dem Parlament einen Gesetzentwurf zur Liberalisierung des Kopftuchs im öffentlichen Dienst vor, laut dem Frauen das Kopftuch nach Belieben tragen können. Nach dem Militärputsch 1980 wurde das Tragen eines Kopftuchs in öffentlichen Institutionen zunächst verboten, 2010 von der AKP-Regierung schließlich rückgängig gemacht. Der Vorschlag stand in der Türkei lange Zeit auf der Tagesordnung, insbesondere bei der Frauenbewegung.

Bei den Wahlen zur Istanbuler Anwaltskammer sagte die feministische Anwältin Selin Nakıpoğlu: „Für Mahsa Amini, ein Symbol der Freiheit und des Säkularismus für iranische Frauen, in Solidarität mit Frauen im Iran und in der ganzen Welt“, und schnitt sich auf dem Podium die Haare ab. Daraufhin wurde Nakıpoğlu von den regierungsnahen islamistischen Medien ins Visier genommen.

Eine der bedeutendsten Solidaritätsbekundungen für die Amini-Proteste kam jedoch vom Havle Kadın Derneği (Havle Frauenverband), der als „erste muslimische feministische Frauenvereinigung der Türkei“ bekannt ist. In einem Beitrag auf ihrem Social-Media-Account mit dem Hashtag #Mahsa_Amini erklärte der Verein: „Wir haben ein Problem mit der Männlichkeit, das dazu führt, dass sich unser Haar und unser Schleier im Wind wiegen. Unsere Trauer ist in unseren Herzen, wir kämpfen weiter mit der Kraft unserer Solidarität!“