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Wahlen in Taiwan
Lokalwahlen in Taiwan: Das Ergebnis bedeutet keine Befürwortung einer stärkeren Pro-China-Haltung

Öffnen von Wahlurnen in Taiwan

Öffnen von Wahlurnen in Taiwan

© Dieses Bild wurde von tenz1225 aufgenommen und wird unter einer CC BY-SA 2.0-Lizenz verwendet.

Bei den taiwanischen Lokalwahlen vom 26. November erlitt die regierende Demokratische Fortschrittspartei (DPP) schwere Verluste. Was sagt dieses Ergebnis über die Haltung der taiwanischen Bevölkerung zu den Beziehungen zwischen Taiwan und China aus? "Nicht viel" analysiert Da-wun Sie für freiheit.org.

Wenn wir uns ansehen, wie viele Stimmen die DPP dieses Mal erhalten hat, dann zeigt sich sehr deutlich, dass die Unterstützung für die DPP stark zurückgegangen ist: Die DPP-Kandidatinnen und Kandidaten für die Bürgermeister- und Bezirksratswahlen erhielten dieses Mal insgesamt nur 4.743.468 Stimmen. Bei der Präsidentschaftswahl 2020 erhielt die DPP-Kandidatin Tsai insgesamt noch 8.170.231 Stimmen, ohne die Stimmen aus der Stadt Chia-Yi waren es 8.070.966 Stimmen. (In Chia-Yi fand im November keine Wahl statt, da eine Kandidatin während des Wahlkampfes gestorben war.) Zum Vergleich: 2020 gingen 42 von 100 Wahlberechtigten für Tsai an die Urne, im November waren es nur 25 die für DPP-Kandidatinnen und Kandidaten abstimmten – das ist ein Rückgang um 40 %.

Das bedeutet aber nicht, dass mehr Menschen die Kuomintang (KMT) unterstützen: Die KMT-Kandidatinnen und Kandidaten für die Bürgermeister- und Bezirksratswahlen erhielten insgesamt 5.701.977 Stimmen. Bei der Präsidentschaftswahl 2020 erhielt der KMT-Kandidat Han Kuo-Yu 5.522.119 Stimmen (5.465.850 ohne die Stadt Chia-Yi). Das ist weniger als 10% Zuwachs und zeigt deutlich, wie stark die DPP verloren hat.

Es ist also nicht so, dass die Wählerinnen und Wähler massenhaft für die KMT gestimmt haben. Die Wahlberechtigten haben weder die Position der KMT zu China noch zu irgendeinem anderen Thema mehr unterstützt als im Jahr 2020; sie sind lediglich nicht zur Urne gegangen um für die DPP zu stimmen.

Lokalwahlen sind natürlich etwas anderes als nationale Wahlen. Für die Analyse des individuellen Erfolgs lokaler Kandidatinnen und Kandidaten (insbesondere der Amtsinhabenden, die zur Wiederwahl antraten), kann ein Vergleich mit den 2018 Lokalwahlen ebenfalls hilfreich sein. Dieser Artikel konzentriert sich auf die Präsidentschaftswahl von 2020, da diese Wahl der bisherige Höhepunkt der Unterstützung für die DPP in ganz Taiwan war. Das Wahlergebnis wurde damals von internationalen Medien wie der BBC als "Retourkutsche für den wachsenden Einfluss Chinas" beschrieben. Dies war auch der Grund, warum Präsidentin Tsai Ing-Wen dieses Mal in einem Wahlkampfvideo verkündete, dass "eine Stimme für die DPP-Kandidatinnen und Kandidaten auch eine Stimme für [mich] ist". Aber die Strategie war offensichtlich nicht erfolgreich.

Um die Wahlergebnisse in Taiwan richtig zu verstehen, ist es wichtig zu bedenken, dass eine eindeutige Pro-China-Haltung hier sehr unbeliebt ist. In vielen westlichen Ländern gibt es ein linkes und ein rechtes politischen Spektrum, und beide Seiten des Spektrums haben eine beachtenswerte Anzahl an Anhängerinnen und Anhänger. Diese Schablone lässt sich aber so nicht auf Taiwan anwenden: Es gibt nicht zwei ähnlich große Lager von Anhängerinnen und Anhängern für die Unabhängigkeit und für die Vereinigung mit dem Festland. Das Lager der Anhänger einer Vereinigung ist deutlich kleiner. Die Wahlentscheideidungen werden vorallem davon beeinflusst, wie sehr die Wählerinnen und Wähler den Status quo bedroht sehen.

Gemäß Umfragen des Election Study Center der Nationalen Chengchi Universität liegt die Unterstützung für eine Vereinigung ständig unter 10 %. Aus meiner Analyse von Umfragen der Academia Sinica, dem wichtigste Forschungsinstitut in Taiwan, geht ebenfalls hervor, dass sich mehr als 70 % der Befragten sich nur als Taiwanerinnen und Taiwaner, und nicht als Chinesinnen und Chinesen, identifizieren. Nur ein Viertel der Befragten befürwortet eine direkte Unabhängigkeitserklärung. Das scheint jedoch größtenteils aus Angst vor einem Krieg zu geschehen: Bei der Frage, ob sie die Unabhängigkeit unterstützen würden, "wenn der Frieden mit der KPCh bewahrt werden könnte", stimmen mehr als zwei Drittel zu. Es gibt also Pro-China-Wählende, aber sie sind definitiv in der Minderheit.

Aus diesem Grund haben sich selbst sogenannte Pro-China-Politikerinnen und Politiker von Themen ferngehalten, die mit der Frage der Vereinigung zu tun hatten. Das gilt besonders für erfahrene Politikerinnen und Politiker. Bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 2012 gewann Ma Ying-Jeou von der KMT beispielsweise nicht mit einem Pro-China-Wahlprogramm. Stattdessen betonte er die ökonomische Dimension der Beziehungen zwischen beiden Seiten der Taiwanstraße: Er behauptete, dass Wirtschaft und Politik entkoppelt werden könnten, indem politische Meinungsverschiedenheiten mit der Volksrepublik China durch den sogenannten 1992-Konsens "beiseite gelegt" würden. Sein Ziel war es, die Wählenden davon zu überzeugen, dass eine wirtschaftliche Kooperation mit China Wohlstand bringe, ohne Taiwans Autonomie zu beeinträchtigen. Ma wurde dafür von der DPP stark kritisiert. Seine berühmte Entgegnung darauf lautete, er wolle nur Taiwans Produkte an China verkaufen, und nicht ganz Taiwan an China verkaufen. Die schwere Niederlage der KMT bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2016 wird weithin darauf zurückgeführt, dass sich die öffentliche Meinung geändert hatte: Die Menschen waren nicht mehr davon überzeigt, dass es möglich sei, Wirtschaft und Politik voneinander zu entkoppeln. Das zeigte sich daran, dass Ma das Dienstleistungsabkommen beider Seiten der Taiwanstraße (Cross-Strait Service Trade Agreement, CSSTA) nicht im Legislativ-Yuan ratifizieren lassen konnte, und an der Sonnenblumen-Bewegung die sich als Reaktion auf das Abkommen im Jahr 2014 gründete.

Auf der anderen Seite waren Tsais Erdrutschsiege in den Jahren 2016 und 2020 darauf zurückzuführen, dass es ihr gelang, die Wählerinnen und Wähler davon zu überzeugen, dass Taiwans Demokratie und der Status quo auf dem Spiel stehen: Das brutale Vorgehen der chinesischen Regierung gegen die Demonstrierenden in Hongkong 2019 war ein entscheidender Faktor für Tsais Wiederwahl.

Aber bei dieser Lokalwahl gab es keine vergleichbaren Ereignisse. Die wichtigsten Nachrichten in diesem Wahlkampf waren kleinere Skandale um die Abschlussarbeiten einiger Kandidaten. Es gab bei dieser Wahl kein klares Thema, und das hat die Wahlbeteiligung gesenkt. Das hat der DPP weit mehr geschadet als der KMT.

Die Wahlergebnisse liefern also keinen Anhaltspunkt für die These, dass die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler zum Standpunkt der KMT zu den Beziehungen zwischen beiden Seiten der Taiwanstraße umgeschwenkt sind, oder dass sie gar eine Pro-China-Position unterstützen würden. Die Daten zeigen klar: Die KMT hat dieses Mal nicht gewonnen, weil sie viel mehr Leute davon überzeugt hat, für ihre Kandidatinnen und Kandidaten zu stimmen. Sie hat gewonnen, weil die DPP es nicht geschafft hat, ihre Anhängerschaft zu mobilisieren.

 

*Da-Wun Sie ist ein Doktorand in Soziologie an der National Taiwan Universität. Er arbeitet auch als freiberuflicher Journalist.