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Wirtschaft
Alternative zu China: Warum "made in India" immer populärer wird

Chatrapati Shivaji Terminus Mumbai

Chatrapati Shivaji Terminus, Mumbai, India

© KishorJ for Getty Images via Canva Pro

Internationale Konzerne wollen nicht länger nur von der Produktion in China abhängig sein. Das Interesse an Indien als Fertigungsstandort wächst deshalb massiv – trotz der Herausforderungen, die das Land mit sich bringt.

Tim Cook tritt in Mumbai wie ein Popstar auf. Der Apple-Chef posiert mit seinen Fans für Selfies, schüttelt eine Hand nach der anderen und winkt mit einem breiten Lächeln in Richtung der Menschenmenge, die sich Mitte April vor einer glänzenden Glasfassade im Geschäftsviertel Bandra Kurla Complex versammelt hat. Anlass ist die Eröffnung des ersten offiziellen Apple Stores auf dem Subkontinent. "Indien hat eine unglaubliche Energie", schwärmte Cook.

Die neuen Verkaufsfilialen – eine zweite eröffnete Apple kurz nach dem Start in Mumbai auch in der Hauptstadt Delhi – inszeniert das Unternehmen als Meilenstein seines Indiengeschäftes. Einen aber wohl deutlich weitreichenderen Wandel macht der Konzern in dem Land derzeit abseits des Scheinwerferlichts der Kameras durch. In den Bundesstaaten Karnataka und Tamil Nadu baut Apple zusammen mit seinen Zulieferern ein neues Produktionszentrum für seine iPhones auf – mit dem Ziel, seine Lieferketten drastisch zu verschieben.

Das Tempo des Umbruchs ist rasant: 2021 wurde Schätzungen zufolge lediglich jedes 100. iPhone in Indien gefertigt. Nun ist es bereits jedes 14[1] – und die beteiligten Unternehmen wollen ihre Kapazitäten in dem Land weiter ausbauen. Für Apple ist der neue Fokus auf Indien der Versuch, sich von seiner Abhängigkeit von China zu lösen. Die Fabriken in der Volksrepublik hatten in der Vergangenheit ein Quasi-Monopol auf die iPhone-Fertigung. Doch angesichts zunehmender geopolitischer Spannungen hält es der Konzern offenbar für zu riskant, sich länger allein auf die chinesischen Auftragsfertiger zu verlassen.

Wie Apple wollen auch deutsche Unternehmen von China unabhängiger werden – und sehen dabei Indien als eine der attraktivsten Alternativen: Während in China für die kommenden zwölf Monate ein weitgehender Stillstand bei den deutschen Investitionen erwartet wird, plant ein großer Teil der deutschen Unternehmen im Asien-Pazifik-Raum, das  Engagement in Indien weiter auszubauen. Das ergab der World Business Outlook der Deutschen Auslandshandelskammern (AHK) im Frühjahr 2023. Demnach sind die Investitionsabsichten in Indien mehr als doppelt so stark wie im globalen Schnitt – und unter den größeren Volkswirtschaften Asiens schneiden lediglich Thailand und die Philippinen etwas besser ab.

Gründe für eine stärkere Einbindung Indiens in die globalen Lieferketten gibt es genug. Das Land gilt seit einigen Wochen offiziell als der bevölkerungsreichste Staat der Welt und wird China bald auch bei der Zahl der Einwohner im erwerbsfähigen Alter überholen. Gerade für arbeitsintensive Branchen bietet Indien daher große Chancen als Produktionsstandort. Gleichzeitig bringt die Verlagerung von Fabriken nach Indien internationale Konzerne auch mitten in einen der global vielversprechendsten Wachstumsmärkte: Prognosen des Internationalen Währungsfonds zufolge dürfte Indiens Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Jahr um rund sechs Prozent zunehmen – so gut läuft die Wirtschaft derzeit in keinem anderen G20-Staat. Prognosen zufolge wird Indiens Volkswirtschaft bereits in wenigen Jahren größer sein als die japanische und die deutsche. Bereits vor dem Ende dieses Jahrzehnts könnte Indien damit zur drittgrößten Wirtschaftsnation der Welt werden.

Zwar versuchte die Regierung in Neu-Delhi unter Premierminister Narendra Modi in der Vergangenheit bereits öfter, unter Verweis auf das wirtschaftliche Potenzial des Landes ausländische Industrieunternehmen anzulocken – und hatte mit ihrer "Make in India"-Kampagne lange Zeit nur begrenzten Erfolg. Nun finde sich Indien aber in einer deutlich besseren Ausgangslage wieder, glaubt Nikita Singla, eine der leitenden Ökonominnen an der Forschungseinrichtung Bureau of Research on Industry and Economic Fundamentals (BRIEF) mit Sitz in Neu-Delhi. Entscheidend sei dafür die zunehmende Skepsis gegenüber China: "In Indien sind wir zwar noch nicht in der Lage, China vollständig zu ersetzen", sagt Singla. "Aber es gelingt uns nun immerhin, uns als eine Alternative in den Lieferketten in Position zu bringen."

Der Abstand zwischen China und Indien ist aber auch aus Sicht der deutschen Wirtschaft immer noch groß: 2.000 [h1] deutsche Unternehmen sind in Indien tätig, mehr als 5.000 in China. Der Bestand der deutschen Direktinvestitionen in Indien betrug zuletzt 16 Milliarden Euro. In China waren es 89 Milliarden Euro[2]. China ist Deutschlands mit Abstand wichtigster Handelspartner – die Importe aus der Volksrepublik machten im vergangenen Jahr 192 Milliarden Euro aus. Indiens Exporte nach Deutschland beliefen sich auf lediglich 15 Milliarden Euro – das 1,4 Milliarden Einwohner große Land liegt damit in der deutschen Außenhandelsstatistik auf Rang 24, einen Platz hinter Dänemark.

Dass Indien als Produktionsstandort und Beschaffungsmarkt für viele Unternehmen bislang eine untergeordnete Rolle gespielt hat, liegt unter anderem an den Hürden, mit denen Investoren in dem Land konfrontiert sind. Indiens Bürokratie gilt als ineffizient und oftmals überlastet. Ein neues Unternehmen anzumelden dauert 18 Tage, wie aus der im Jahr 2020 veröffentlichten letzten Ausgabe des  "Doing business"-Reports der Weltbank hervorging – bei dem Spitzenreiter Neuseeland war laut der Studie für das gleiche Verfahren nur ein halber Tag nötig. Noch länger dauert es in Indien, einen Grundstücksbesitz eintragen zu lassen – dafür veranschlagte die Studie 68 Tage. Und der Abschluss eines Gerichtsverfahrens im Fall von Vertragsstreitigkeiten dauert demnach im Schnitt 1445 Tage – beziehungsweise knapp vier Jahre.

Indiens Regierung nimmt zwar für sich in Anspruch, bürokratische Vorschriften gelockert und das Wirtschaften in Indien massiv erleichtert zu haben. Doch aus Sicht von ausländischen Unternehmen sind Investitionen immer noch schwieriger als nötig. In einer gemeinsamen Umfrage der deutschen Auslandshandelskammern in Singapur und Indien gaben lediglich 37 Prozent der befragten Firmen mit Asiengeschäft an, keinen Hürden in dem Land zu begegnen. Der Rest nannte Barrieren etwa mit Blick auf Lizenzen, die sie für ihre Geschäfte in Indien beantragen müssen. 30 Prozent gaben an, dass diese Hürden weitere oder erstmalige Investitionen in Indien ausbremsen würden.

Auch Indiens mangelhafte Infrastruktur zählt zu den Hauptgründen, weshalb es das Land in der Vergangenheit schwer hatte, sich als wesentlicher Bestandteil in den globalen Lieferketten zu etablieren. Denn holprige Straßen, unzureichende Schienennetze und überlastete Häfen machen die Wertschöpfung in Indien nicht nur langsam, sondern auch teuer: Das indische Finanzministerium beziffert die Logistikkosten in dem Land auf 14 bis 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist deutlich mehr als im globalen Vergleich. In China verschlingt die Logistik laut einer Studie der Unternehmensberatung Arthur D. Little lediglich neun Prozent des BIP – ähnlich viel wie in Europa.

Diesbezüglich hat sich Indien aber spürbare Verbesserungen vorgenommen. Bis 2030 will die Regierung die Logistikkosten auf acht Prozent des BIP reduzieren und damit für Produktionsbetriebe attraktiver werden. Erreichen will die Regierung in Neu Delhi dieses Ziel unter anderem durch massive Investitionen in die Infrastruktur. 2021 rief sie dafür das Großprojekt Gati Shakti – der Name steht für Geschwindigkeit und Kraft – ins Leben, in dessen Rahmen bis 2025 rund 1,2 Billionen Dollar investiert werden sollen.

Geplant ist unter anderem ein massiver Ausbau des Autobahnnetzes, der bereits kräftig an Fahrt aufgenommen hat: Zuletzt stellte Indien pro Jahr rund 10.000 Kilometer an neuen Schnellstraßen fertig. Die Staus auf den Eisenbahnschienen sollen bis 2025 durch die Fertigstellung neuer Bahninfrastruktur um 50 Prozent reduziert werden. Güterzüge sollen dann nach den Vorstellungen der Regierung pro Jahr 1.600 Millionen Tonnen an Waren transportieren – im Jahr 2020 waren es noch rund 1.200 Millionen Tonnen. "Die Infrastruktur hat zwar immer noch Lücken", sagt Volkswirtin Singla. "Wir sehen aber auch, dass sich in dieser Hinsicht gerade wahnsinnig viel tut."

Von den Plänen zum Infrastrukturausbau profitiert die deutsche Wirtschaft ganz direkt. Bei Siemens bestellte Indiens Eisenbahn in diesem Jahr 1.200 Elektrolokomotiven – einen so großen Einzelauftrag hat der Konzern in Indien seit seinem ersten Geschäft in dem Land vor mehr als 150 Jahren nicht erhalten. Das Drei-Milliarden-Euro-Projekt könnte auch zu einem Aushängeschild deutsch-indischer Zusammenarbeit in der Fertigung werden: Die Antriebssysteme der Lokomotiven produziert Siemens Mobility in einem eigenen Werk in Indien. Die Montage der Lokomotiven soll nach Unternehmensangaben in einem Werk von Indian Railways im Bundesstaat Gujarat erfolgen.

Bessere Straßen- und Schieneninfrastruktur sind aber nur ein Teil der Regierungspläne, um gezielt Unternehmen aus dem verarbeitenden Gewerbe anzulocken. Geplant sind auch spezielle Wirtschaftszonen mit mehr als 100 Branchenclustern für die Pharma- und Medizintechnikindustrie, drei Dutzend Clustern für die Herstellung von Elektronikartikeln und zwei Wirtschaftszonen, die sich gezielt an die Rüstungsindustrie richten.

Zudem will Indien auch mehr als 100 Produktionszentren für die Textilbranche etablieren – und erhöht damit auch den Wettbewerb mit Bangladesch. Das Nachbarland ist der nach China größte Bekleidungsexporteur der Welt. Die Textilindustrie des Landes ist für die Integration Südasiens in die globalen Lieferketten eines der wenigen Erfolgsbeispiele, das sich außerhalb Indiens findet. In anderen Staaten der Region – wie Pakistan und Sri Lanka – bremst eine lokale Wirtschaftskrise derzeit Investitionen ausländischer Produktionsunternehmen aus.

Eine größere Konkurrenz für Indien im Wettbewerb um Fabriken, die aus China abwandern, findet sich derzeit in Südostasien – allen voran Chinas südlicher Nachbar Vietnam, der unter anderem in der Elektronikindustrie punkten konnte. Um sich im Wettbewerb durchzusetzen, setzt die Regierung in Neu-Delhi unter anderem auf ein umfangreiches Subventionsprogramm: Unter dem Namen Production-linked Incentives (PLI) hat Premier Modi mehr als 25 Milliarden US-Dollar bereitgestellt, die Fabriken in 14 Schwerpunktbranchen fördern sollen. Die Idee: Je mehr produziert wird, umso mehr Geld bekommen Unternehmen aus dem Topf.

Auf diese Weise will Indien auch die Fertigung von Hochtechnologie ins Land bringen – allen voran die Produktion von Halbleitern. Die Branche bietet enormes Potenzial für zusätzliche Investitionen: Der taiwanesische Elektronikkonzern Foxconn und das indische Konglomerat Vedanta planen gemeinsam eine Halbleiterfabrik in Indien mit einer Investitionssumme von 20 Milliarden Dollar.

Bislang dominiert in Indien jedoch noch die Produktion einfacherer Elektronikartikel wie Handys. Insgesamt hat sich die Elektronikbranche aber zum Vorreiter bei Indiens Aufstieg zum globalen Produktionszentrum entwickelt. Im vergangenen Fiskaljahr, das im März endete, schnellten Indiens Elektronikexporte um fast 50 Prozent nach oben – auf ein Gesamtvolumen von mehr als 25 Milliarden Dollar. Die Branche wächst damit deutlich stärker als der Durchschnitt: Insgesamt nahmen Indiens Exporte um 6,5 Prozent zu.

Ob Indiens Rolle in den globalen Lieferketten auch künftig weiter zunehmen kann, hat das Land aus Sicht von Ökonomen zu einem großen Teil selbst in der Hand. Eine entscheidende Stellschraube ist dabei die Handelspolitik. Indien erhebt für zahlreiche Komponenten hohe Einfuhrzölle – mit dem Ziel, dadurch die Produktion im eigenen Land anzuschieben. Diese Politik erschwert es jedoch, Indien in grenzüberschreitende Wertschöpfungsketten einzubinden – wer Vorprodukte nur mit hohen Aufschlägen ins Land bringen kann, produziert im Zweifel lieber woanders. "In der heutigen Zeit gibt es kaum noch ein Produkt, das in einem einzigen Land gefertigt wird", erklärt Volkswirtin Singla. Der Versuch, über Protektionismus die eigene Industrie zu schützen, gehe am Ende nach hinten los, warnt sie.

Es gibt jedoch Grund zur Hoffnung, dass sich die Lage in absehbarer Zeit bessert. Indien versuchte zuletzt, eine Reihe von Freihandelsabkommen anzuschieben. Ein Handelsdeal mit Australien trat Ende vergangenen Jahres in Kraft. Mit Großbritannien laufen die Verhandlungen ebenso wie mit der Europäischen Union. Einfach sind die Gespräche nicht, der Druck eine Einigung zu erzielen, ist aber groß – auf beiden Seiten. Bei seinem Besuch in Neu-Delhi im Februar versprach Bundeskanzler Olaf Scholz baldige Fortschritte: "Wir setzen uns beide dafür ein, dass es jetzt endlich klappt mit dem Freihandelsabkommen unserer Länder."

[1] https://www.bloomberg.com/news/articles/2023-04-13/apple-triples-india-…

[2] https://www.gtai.de/de/trade/china/wirtschaftsumfeld/deutsche-firmen-zi…

[h1]https://podcasts.google.com/feed/aHR0cHM6Ly9mZWVkcy5zb3VuZGNsb3VkLmNvbS91c2Vycy9zb3VuZGNsb3VkOnVzZXJzOjQ5NjQzNjE2MC9zb3VuZHMucnNz/episode/dGFnOnNvdW5kY2xvdWQsMjAxMDp0cmFja3MvMTUxNDYzMzUzOQ?sa=X&ved=0CAUQkfYCahcKEwjoiZ2ygv7-AhUAAAAAHQAAAAAQLA