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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Soziale Marktwirtschaft
Mehr Ludwig Erhard wagen!

Vor 125 Jahren wurde der politische Vater der Sozialen Marktwirtschaft, geboren. Sein Vertrauen in die kreative Kraft der Freiheit muss endlich wieder Vorbild werden.
Ludwig Erhard
© picture-alliance / Klaus Rose | Klaus Rose  

Wer heute die Nachrichten anschaltet, kann schnell verzweifeln. Überall lauern gesellschaftliche Krisen, so jedenfalls die Botschaft - vom menschengemachten Klimawandel bis zur zunehmenden Ungleichheit von Einkommen und Vermögen. Die Schuld daran wird oft genug in der Marktwirtschaft geortet, meist camoufliert hinter dem Schimpfwort „Kapitalismus“. Die Folge ist, dass die Suche nach Auswegen aus den „Krisen“ stets einen zentralen Adressaten hat, an den man sich mit seinen Veränderungswünschen wendet: den Staat.

Diese Einstellung hat in Deutschland eine lange Tradition –  intellektuell, ideologisch und politisch. Es war die großartige Leistung von Ludwig Erhard, dass die politisch Verantwortlichen mit dieser Tradition in den Jahren ab 1948 brachen, gestützt auf Gedanken und Konzepte des Ordoliberalismus, die von Walter Eucken und anderen vor 1945 entwickelt worden waren. Daraus wurde mit Hilfe des Wortschöpfers Alfred Müller-Armack die „Soziale Marktwirtschaft“, ein genialer Begriff, der „Wohlstand für alle“ insinuierte, wie ja auch das später publizierte Buch von Ludwig Erhard betitelt war.

Der „Wohlstand für alle“ kam wirklich - im Zuge des deutschen Wirtschaftswunders der fünfziger Jahre, das der Währungs- und Wirtschaftsreform 1948 mit einem nur kleinen zeitlichen Abstand folgte. Dieser Erfolg hat wirklich abenteuerliche Züge. Der parteilose Ludwig Erhard, auf Vorschlag der Liberalen am 2. März 1948 zum Direktor der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebiets der britisch-amerikanischen Bizone ernannt, verband die von den Alliierten durchgesetzte Währungsreform vom 20. Juni 1948 mit einer weitgehenden Freigabe der Preise – und damit praktisch mit dem Übergang zur Marktwirtschaft. Er tat dies gegen massive Widerstände in der öffentlichen Meinung und unter Experten, die eine Welle der Inflation und des sozialen Elends fürchteten. Tatsächlich kam es in der zweiten Hälfte 1948 zu einem durchaus scharfen Anstieg des Preisniveaus, einer Art Anpassungsinflation, die aber dann 1949 schnell abebbte und in einem stabilen realen Wachstum mündete - allerdings bei zunächst drastisch zunehmender Arbeitslosigkeit vor allem unter Flüchtlingen und Vertriebenen, denn überall wurde nun, was Arbeitskosten in harter Währung betraf, scharf gerechnet. Spätestens 1950 hatte sich die Situation stabilisiert und mit dem danach einsetzenden so genannten Korea-Boom nahm die deutsche Wirtschaft kräftig Fahrt auf –  in Richtung „Wirtschaftswunder“ mit rasantem Wachstum, zügiger Integration in die Weltwirtschaft und rasantem Abbau der Arbeitslosigkeit. Der dafür zuständige Bundeswirtschaftsminister war seit 1949 Ludwig Erhard.

Eine politische Meisterleistung! Diese sorgte für Wahlsiege der Koalition aus Union und FDP, die Deutschland einen erfolgreichen Neustart in die Demokratie erlaubten - zwei Jahrzehnte nach dem tragischen Scheitern der Weimarer Republik 1933. Sie beruhte im Kern darauf, dass Ludwig Erhard der Kraft der Marktwirtschaft vertraute - wider dem dominierenden Zeitgeist, der bis tief in die Union auf sozialistische Rezepte setzte. Dabei war es eine Marktwirtschaft, die der staatlichen Steuerung zur Lösung akuter gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Herausforderungen einen durchaus prominenten Platz einräumte. Vor allem die gezielte steuerliche Förderung von Investitionen in Anlagen und Wohnungsbau half nachdrücklich, trotz der vorherrschenden Kapitalknappheit die nötigen Mittel zur Beseitigung von Engpässen im Produktionspotenzial zu mobilisieren. Aber die Grundrichtung war die einer Marktwirtschaft, die dann auch in den fünfziger Jahren „arrondiert“ wurde: durch Abbau der Investitionsförderung, massive Senkung der (zunächst hohen) Einkommensteuersätze und Verabschiedung einer wettbewerblichen Antikartell-Gesetzgebung.

Kern des Erhardschen Vertrauens in die Marktwirtschaft war sein liberaler Optimismus und Realismus: Optimismus, weil er an die kreative Findigkeit der Menschen glaubte, wenn man es ihnen nur selbst überlässt, sich um ihre eigenen wirtschaftlichen Belange zu kümmern, sei es als Konsumenten, Unternehmer oder Arbeitnehmer; Realismus in dem Sinne, dass es eigentlich gar keine Alternative gab, Innovationen und Investitionen voranzubringen, als sich auf den privaten Sektor der Wirtschaft zu verlassen, denn der Staat konnte doch offensichtlich nicht alles alleine machen - mangels Ressourcen und wegen der unvermeidlichen Schwerfälligkeit der Verwaltung.

Dabei waren in den fünfziger Jahren die Aufgaben gewaltig: Auf- und Ausbau sowie Erneuerung der zerstörten und vernachlässigten Infrastruktur, Integration von rund 10 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen in den Arbeitsmarkt, industrielle Integration in die europäische und globale Wirtschaft - nach der Autarkiepolitik des Nationalsozialismus und einem zerstörerischen Krieg. Es waren Herausforderungen, die unsere heutigen in ihrer menschlichen Dimension und politischen Gefährlichkeit bei weitem übertreffen. Damals ging es um Wiederaufbau, Wachstum und Strukturwandel nach den Katastrophen der Kriege und der Zwischenkriegszeit, heute geht es um eine Transformation der Wirtschaft in Richtung der Nachhaltigkeit im umfassenden Sinn – von der Klimaneutralität bis hin zur Stabilität der sozialen Sicherungssysteme und der Regeneration der wirtschaftlichen Innovationskräfte bei ungünstiger demografischer Entwicklung.

Man wünscht sich heute für diese Aufgaben genau den marktwirtschaftlichen Optimismus, der Ludwig Erhard auszeichnete –  fernab von den angsterfüllten Zukunftsszenarien, die derzeit die gesellschaftlichen Debatten beherrschen. Dabei geht es nicht um ideologische Kontroversen über eine Prise mehr oder weniger Staat versus Markt. Es geht stattdessen um das fundamentale Bekenntnis zur Marktwirtschaft als einziges Wirtschaftssystem, das überhaupt die Chance eröffnet, die künftigen Herausforderungen zu bewältigen – mit Souveränität der Konsumenten, Freiheit der Unternehmen, garantierten Rechten der Arbeitnehmer und einem tragfähigen sozialen Netz. Aber eben auch mit einem Staat, der die Rahmenbedingungen so setzt, dass Wirtschaftswachstum und große gesellschaftliche Ziele wie die Klimaneutralität tatsächlich erreicht werden können.

Kurzum: Mehr Ludwig Erhard wagen!