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Analyse
Westeuropa? Mitteleuropa? Europa!

Ohne die Stimme Mitteleuropas wird das europäische Projekt kaum gelingen
Europe Map
© Jakob Braun, Unsplash

Der Enthusiasmus ist der Ernüchterung gewichen. Die Hoffnungen, die man sich nach dem Ende des Kommunismus 1989 und dem Beitritt der mitteleuropäischen Länder zur EU 2004 machte, scheinen auf den ersten Blick enttäuscht worden zu sein. Für die meisten „alten“ oder westeuropäischen Länder sind die mitteleuropäischen Länder primär Problemfälle oder zumindest keine positiven Treiber des EU-Einigungsprozesses, was man etwa am Beispiel des sehr westorientierten Tschechiens definitiv als unfair bedauern muss. Manche, wie Ungarn oder seit kurzem die Slowakei, stellen sich sogar tatsächlich offen gegen verankerte europäische Grundwerte, was zum Teil den Europäischen Gerichtshof in Dauerbeschäftigung hält.

Ob die Abwahl der nationalistischen Regierung Morawiecki in Polen im Oktober letzten Jahres, unter der ein in der EU fast beispielloser Abbau an Rechtsstaatlichkeit stattfand, eine dauerhafte Trendwende – auch in der Außenwahrnehmung – mit sich bringt, bleibt offen. Die neue, prinzipiell sehr demokratisch orientierte polnische Regierungsmehrheit, die im Oktober letzten Jahres gewählt wurde, ist politisch sehr heterogen - von konservativen Christdemokraten bis zu sehr linken Sozialisten reichend. Der Nationalpopulismus in Polen ist immer noch sehr stark und die neue Regierung muss in ihrer Amtszeit ein kohärentes und wirkungsvolles Programm verwirklichen. Ein bloßer Negativreflex gegen den Rechtspopulismus ist nicht lange tragfähig. Das Beispiel der Slowakei mag als Warnung dienen: nachdem 2020 die Kräfte um den nationalistisch-sozialpopulistischen Premier Robert Fico nach horrenden Skandalen mit überwältigender Mehrheit abgewählt wurden, erwies sich die damals neu gewählte Regierung als so zerstritten, dass bei den vorgezogenen Wahlen im September 2023 der politisch bereits totgesagte Fico nicht nur an die Macht zurückkehrte, sondern offenbar nun einen verschärft anti-europäischen und anti-rechtsstaatlichen Kurs fahren will.

Soweit, so durchwachsen die Bilanz der Entwicklung der 2004 dazugewonnen Mitgliedstaaten. Was ist schiefgelaufen? Kam die Entwicklung wirklich unerwartet? Offensichtlich hatte man nach 1989 noch sehr hohe Erwartungen in Sachen Europäischer Union und Mitteleuropa. Aber waren die Erwartungen in den alten und in den neuen Ländern Europas nach 1989 wirklich identisch? Waren sie das nicht, so ist die wechselseitige Enttäuschung (oder zumindest der Mangel an Enthusiasmus) grundlegender als man gemeinhin annimmt.

Natürlich ging es bei der zwischenstaatlichen Beziehung Mitteleuropas (im Folgenden im Wesentlichen der Visegrad-Staaten) zum Rest der EU nie nur um grundsätzliche Visionen zur europäischen Einigung. Tiefe Frustrationen könnten, so eine gängige Erklärung, ökonomischer Natur sein. Es ist allerdings keine Frage, dass gerade in den mitteleuropäischen Ländern die wirtschaftliche Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft eine Erfolgsgeschichte darstellt. Polen gehörte 1990 mit 10.277 $ Bruttoinlandsprodukt pro Kopf zu den ärmeren Ländern der Welt. 30 Jahre später waren es 28.752 $ und das Land war im Weltranking von Platz 45 auf Platz 23 gesprungen.[1] Zudem erwies sich, dass gerade die Länder, die sich schnell und gründlich transformierten („shock therapy“) in jeder Hinsicht besser fuhren als jene, deren Zögerlichkeit alte Eliten und mit ihnen verbundene neue kleptokratische Strukturen schützte.

Aber klar ist auch, dass jede Transformation dieses Ausmaßes das Leben der Bürger bis ins Tiefste berührt, Lebensplanungen scheitern lässt und Verunsicherung verbreitet. Keine solche Transformation kann nur und ausschließlich Gewinner hervorbringen. Zudem machte sich in Ländern, die ohne das blutige Intermezzo des Kommunismus von vornherein den Anschluss an die westlichen Industrieländer erreicht hätten (allen voran die Tschechoslowakei, die in den Zwischenkriegsjahren industriell mit Deutschland oder Frankreich mithalten konnte), einen unbestimmter Neid- und Unterlegenheitskomplex breit. Das selbstbewusste Auftreten mancher westlicher Politiker und Kommentatoren, die nunmehr das „Ende der Geschichte“ proklamierte, tat sein Übriges. Es positionierte den „Westen“ als vollendeten Leitstern, dem die Transformationsländer nur noch folgen müssten, ohne weitere Ideen zu benötigen. Das konnte dazu führen, dass viele Mitteleuropäer ihre Freiheitsleistung von 1989 nicht ausreichend gewürdigt sahen. Aber diese daraus beobachtbare Tendenz zum kollektiven Minderwertigkeitskomplexhätte sich mit wachsendem wirtschaftlichem Aufholen eigentlich abschwächen müssen. Das war in dieser einfachen Form nicht der Fall.

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev, einer der scharfsinnigsten Kommentatoren der Zeitgeschichte der Transformationsländer, brachte es 2019 angesichts des Abrückens vieler mitteleuropäischer Staaten vom europäischen Wertekonsens auf den Punkt: „Es stellte sich heraus, dass die Übernahme eines ausländischen Modells der politischen Ökonomie unerwartete moralische und psychologische Nachteile mit sich brachte. Für den Nachahmer wird das Leben von Gefühlen der Unzulänglichkeit, Minderwertigkeit, Abhängigkeit und verlorener Identität dominiert. Um eine glaubwürdige Kopie eines idealisierten Modells zu schaffen und zu bewohnen, ist eine nie endende Kritik – wenn nicht gar Verachtung – der bisherigen Identität erforderlich. Wenn ein ganzes Land dieser Selbstverleugnung unterliegt, wird unweigerlich das schwächende Gefühl verbreitet, ständig beurteilt zu werden. Schließlich ist die Verwirklichung eines Ideals per Definition unmöglich.“[2]

Der Grund der Spannungen und der Entfremdung zwischen dem „alten“ EU-Europa und Mitteleuropa liegt also tiefer als es die bloße Wirtschaftsstatistik erwarten ließe. Es hat etwas mit dem grundsätzlichen Narrativ Europas zu tun.

Beginnen wir mit den Erwartungen in Mitteleuropa. Einer der großen Vordenker der Transformation, Václav Havel, der erste demokratisch gewählte Präsident der Tschechoslowakei (ab 1993 Tschechien) formulierte 1990 zur „Rückkehr nach Europa“ seines Landes: „Dann können wir uns den reicheren Nationen Westeuropas nicht als armer Versager oder hilfloser, kürzlich amnestierter Gefangener nähern, sondern als Länder, die einen echten Beitrag leisten können. Was wir zu bieten haben, sind spirituelle und moralische Impulse, mutige Friedensinitiativen, ungenutztes kreatives Potenzial und das besondere Ethos unserer frisch gewonnenen Freiheit. Wir können die Inspiration bieten, schnelle und gewagte Lösungen in Betracht zu ziehen.“[3]

Die sehr erfolgreiche tschechische Ratspräsidentschaft 2022 stand unter dem Motto „Evropa jako úkol“ (Europa als eine Aufgabe). Das war ein bewusster Rückgriff auf Havels Vision, dass nun zwei separate Entwicklungen zu einer neuen zusammengeführt werden mögen, oder, wie Havel 1991 es bei der Verleihung des Karlspreises ausdrückte: „Es ist dies jedoch eine Aufgabe, an der zu arbeiten wir verpflichtet sind.“[4] Die Aufgabe bestand darin, das europäische Projekt voranzutreiben und die unterschiedlichen Narrative der nun zusammenwachsenden Teile Europas zu einem zu vereinen. Und diese Aufgabe zu verstehen, muss man sich die unterschiedlich historisch gewachsenen Narrative und die damit verbundenen Erwartungen an Europa vor Augen halten:

I. Westeuropas Europa

Der europäische Einigungsprozess erwuchs in den 1950er Jahren aus der historischen Erfahrung, dass die nationalstaatliche Ordnung im Westen des Kontinents, die sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte, durch die beiden Weltkriege in schrecklicher Weise gescheitert war, und dass sie deshalb schrittweise durch supranationale Institutionen und ökonomische Interessenverpflichtung überwunden werden müsse. Krieg müsse „nicht nur  undenkbar, sondern materiell unmöglich“[5] werden, wie es Robert Schuman, einer der Architekten des geeinten Europas, 1950 formulierte. Die 1951 von Frankreich, Deutschland, Italien und den Beneluxländern gegründete Montanunion mag als industriepolitisches Projekt nicht mit dem freiheitlichen und marktwirtschaftlichen Impetus der späteren Römischen Verträge von 1957 mithalten, der die Grundfreiheiten aus Waren- und Dienstleistungsfreiheit, Kapitalverkehrsfreiheit sowie Reise- und Niederlassungsfreiheit sicherte, aber sie war ein durchaus wirksamer Beitrag zur Interessenverschmelzung und zum Ausbau unzähliger gemeinsamer Institutionen. Sie ermöglichte die politischen Voraussetzungen für ein sich in Frieden und Freiheit vereinendes Europa.

Ein wesentlicher Punkt war, dass eine vorherige abgeschlossene nationalstaatliche Entwicklung der betroffenen Länder bereits gegeben war, die einerseits eine geordnete Rechtsentwicklung ermöglichte, andererseits auch so gefestigt war, dass sie Grundlage einer sie transzendierenden supranationalen Ordnung bilden konnte.

Ia. Friedensprojekt

Wichtig war dabei die Vision einer nachhaltig stabilen Friedensordnung. Dass es die EU (und vorher die EWG und EG) war, die Westeuropa Jahrzehnte Frieden bescherte, wurde zur eigentlichen Säule des Selbstverständnisses des Einigungsprozesses. „Die europäische Integration ist das erfolgreichste Friedensprojekt der Geschichte“, fasste es 2012 Außenminister Guido Westerwelle anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU zusammen.[6] Diese Botschaft mag äußerst identitäts- und legitimationsstiftend sein, verengte aber ein wenig die historische Perspektive – und zwar so, dass sich daraus nach 1989 deutliche Wahrnehmungsdifferenzen zu den mitteleuropäischen Ländern ergaben. Der frühe europäische Einigungsprozess lässt sich nämlich letztlich nur im Kontext des globalen Konflikts des Kalten Krieges erklären. Die Kombination von atomarer und sowjetisch-totalitärer Bedrohung schuf eine Art Einigungsklammer der freien Welt unter der Führung der USA. Tatsächlich war es wohl eher die 1949 gegründete NATO, die der sowjetischen Expansion einen Riegel vorschob und aus Westeuropa eine Zone von Frieden und gesicherter Demokratie machte. Das soll keinesfalls heißen, dass die europäische Einigung nicht einen wesentlichen Beitrag leistete. Eine sicherheitspolitische Allianz kann nur funktionieren, wenn die Mitglieder sich im Groben über Ziele einig sind und möglichst über ein Netz verwobener Interessen verfügen. Dies lieferte das sich vereinigende Europa, indem es Konflikte abbaute und den Mitgliedsländern zu hohem Wohlstand verhalf. Das Beispiel des 1954 gegründeten südostasiatischen Verteidigungsbündnisses SEATO, das schon 1977 zerfiel und die Kriege in Vietnam und Kambodscha nicht verhindern konnte, zeigt, wie wichtig der europäische Einigungsprozess in friedenspolitischer Hinsicht war. Insofern waren es zunächst eher die NATO und die Militärmacht der USA (im Zusammenwirken mit Europa) die die entscheidenden Faktoren für die Friedenssicherung und letztlich auch für den Niedergang des Sowjetblocks bildeten. Ohne sie hätte die EU sich nie so entwickeln können, wie sie es tat. Und auch heute wäre ohne die USA das Überleben der Ukraine nach dem russischen Überfall 2022 kaum zu gewährleisten gewesen, was wiederum die Sicherheit ganz Europas in Frage gestellt hätte. Andererseits wuchsen über die Zeit die europäischen Länder dank der Nachkriegs-Einigungsprozesse so sehr zusammen, dass die Kriegsfaktoren und Gefahrenherde der Vergangenheit – insbesondere zwischen Deutschland und Frankreich – dauerhaft überwunden zu sein scheinen. Die deutsch-französische Erbfeindschaft ist einer stabilen deutsch-französischen Sonderfreundschaft gewichen. Trotz gelegentlicher mythischer Überhöhung ist das Friedensprojekt EU somit eine historisch einmalige und bahnbrechende Leistung. Aber es ist auch klar, dass das sich daraus ergebende Narrativ (gerade wegen ihrer deutsch-französischen Zentrierung) noch großer Anpassungen an das historisch andersartig gewachsene (pro-amerikanische) Narrativ der Mitteleuropäer bedarf, gerade weil die europäische Erzählung gerne die entscheidende sicherheitspolitische Rolle von NATO/USA über Gebühr ausblendet, was sich negativ auf die sicherheitspolitischen Eigenleistungen der Europäer auswirkt. Sollte nach einer möglichen Wiederwahl Donald Trumps als US-Präsident das amerikanische militärische Engagement in Europa ein Ende finden, so würde eine EU zurückbleiben, die noch keinesfalls in der Lage wäre, eine hinreichende friedenssichernde Funktion in der Welt (oder auch nur Europa) voll auszuüben. Wie die richtige Einschätzung der meisten mitteleuropäischen (und im Übrigen auch baltischen) Länder zu Russland (schon vor dem Ukraineüberfall zeigte, kann sich Europa aber dieses Defizit in der Sicherheitspolitik nicht mehr leisten.

Ib. Vertiefte Integration als Staatsräson

Neben der Friedensvision gehörte zum europäischen Einigungsprozess auch immer ein Bekenntnis zur ständigen Vertiefung oder Integration. In der Präambel des Vertrags von Lissabon wurde dies 2009 treffend als „Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas“ definiert. Auch wenn dort in Art. 3a(1) steht, dass „alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben... bei den Mitgliedstaaten“[7], hat die Menge der EU-Zuständigkeiten mehr oder minder in allen Politikfeldern dramatisch zugenommen, sodass die Mehrheit der Gesetzesbeschlüsse der Mitgliedstaaten in Wirklichkeit Umsetzungen von EU-Direktiven sind, zu deren Kosten Parlamentarier in den Mitgliedsländern verminderte Einflussmöglichkeiten haben.[8] Sie können – etwa im Bereich Verbraucherschutz – tief in das Alltagsleben der Bürger eingreifen. Die vertiefte Integration ist im Kern ein Teil der Zweckdefinition der EU und im politischen Raum wird dies oft als Zielvorgabe für die Schaffung eines echten Bundesstaates betrachtet.

Alles dies wurde von den meisten beteiligten Regierungen als eine Art höherer Staatsräson gesehen. In Deutschland hat mit Art.23 (1) des Grundgesetzes die „Verwirklichung eines vereinten Europas“[9] sogar Verfassungsrang. Bei Diskussionen zur Entwicklung der EU werden daher Integrationsschritte sehr ähnlich einer a priori gegebenen quasi „naturrechtlichen“ Vorgabe behandelt. Politische Zweifel an bestimmten neuen Reformschritten (etwa die Euro-Rettung von 2011) können in Debatten daher bisweilen als ein prinzipieller Angriff auf die Legitimation der EU als Ganzes interpretiert werden, was bei manchen als eine tabuisiertere Debattenkultur wahrgenommen wird als dies in nationalstaatlichen Demokratien der Fall ist.

Nun ist es so, dass jedes konsolidierte Gemeinwesen bestimmte unverhandelbare Fundamentalwerte kennt und wohl auch benötigt, die vom „normalen“ politischen Diskurs  ausgenommen sind. Am augenscheinlichsten ist das meist bei den elementaren und unantastbaren Menschen- und Grundrechten der Fall. Gehen sie darüber hinaus, können sie diesen Status der Unhinterfragbarkeit nur innerhalb eines spezifischen historischen Kontextes erhalten, was im Fall der EU die Erfahrungen konsolidierter Nationalstaatlichkeit, der Weltkriege, der durch den Kalten Krieg entstandene Einigungsdruck und der Schutzschirm durch NATO und USA sind. Sie alle haben die interne Perzeption der EU im Westeuropa geprägt. Und nicht einmal dort durchgängig, wie 2016 die unglücklich verlaufene Brexit-Abstimmung und der anschließende Austritt Großbritanniens vor Augen führte. Dort wurde die EU-Zugehörigkeit und die ständige Vertiefung der Union mehrheitlich nie als Teil einer höheren Staatsräson oder definierende Grundnarrativ betrachtet, wie das etwa in Deutschland oder Frankreich seit langem der Fall ist.

Ic. Abgeschwächter Freiheitsimpetus

Die Vertiefung des Einigungsprozesses ging seit dem Vertrag von Maastricht 1992 und damit der Voraussetzung für die Währungsunion mit einer schleichenden Veränderung der Werteorientierung einher. Zwar waren Montanunion und ab 1962 die Gemeinsame Agrarpolitik schon vorher eher interventionistisch-zentralistische Projekte gewesen, aber im Großen und Ganzen war die EWG/EG/EU lange Zeit ein primär von Freiheit und wirtschaftlicher Offenheit geprägter Raum – ein Weg, der durch die Römischen Verträge einen festen Rahmen gefunden hatte. Mit dem Inkrafttreten des gemeinsamen Europäischen Binnenmarktes im Jahre 1993 erreichte diese Entwicklung ihren Höhepunkt. Der letzte signifikante Schritt in diese Richtung war 2010 die Öffnung des Binnenmarkts für Dienstleistungen. Gerade der Binnenmarkt führte zu einer überaus erfolgreichen, bis heute wirksamen wirtschaftlichen Öffnung. Dank ihrer und einer liberalen Monopolbekämpfungsstrategie schaffte der europäische Wirtschaftsraum den Anschluss an die Globalisierung und sorgte für umfassenden Wohlstand auf hohem Niveau. Aber er führte auch zu einer enormen Kompetenzmehrung der EU, die auch Möglichkeiten zu vermehrt interventionistischer und regulatorischer Politik schuf. Die werden seither auch genutzt. Im Gegensatz zu marktöffnenden Maßnahmen werfen sie verstärkt die Frage der Kompatibilität mit lokalen Präferenzen und vor allem der angemessenen Kosten auf. Man nehme die vom Europaparlament 2023 avisierte Pflicht zur Wärmedämmung bei Gebäuden oder den Green Deal der Kommission, die Länder sehr unterschiedlich treffen wird, je nachdem wie wohlhabend sie sind. Einige – und eben gerade in Mitteleuropa[10] – sehen diese Vorgaben als massive Beschneidung von Eigentums- und Freiheitsrechten zu Gunsten umweltpolitischer Ziele an, die nicht in diesem Umfang gutgeheißen werden. Das Ausmaß der Regulierung ist seit langem Gegenstand von Kritik und ernstzunehmende Befürchtung. Eine Umfrage des internationalen Unternehmerverbandes Conference Board vom November 2023[11]ergab, dass 86% der Befragten EU-Regulierungen als ein Haupthindernis im Wettbewerb mit den USA und China betrachten. Regulierungsvorschriften im Verbraucherschutz, etwa zur Qualität von Lebensmitteln, führen zudem oft wegen ihrer konkreten lebensnahen Anschaulichkeit zu einer bisweilen überzogenen, aber doch realen Perzeption unter den Bürgern, ihre legitimen lokalen Bedürfnisse würden „von Brüssel“ geopfert. Als besonders befremdlich wird auch in vielen Ländern der ideologisierte Ansatz in der Klimapolitik gesehen, der maßgeblich von Deutschland geprägt ist. Deutschland mit seiner Idee, gleichzeitig Kernenergie und Kohle als Energieträger abzuschaffen, gilt fast überall allenfalls als warnendes Beispiel statt als Vorbild. Das alles wird von manchen als genuine Bedrohung von persönlicher Freiheit empfunden. Seit der Dienstleistungsliberalisierung scheint es so, als ob der frühere Freiheitsimpuls Europas (dessen Wirkungen immer noch den Großteil der Legitimation der EU ausmachen) zunehmend durch sozial-konstruktivistischen Ziele verdrängt wird. Unabhängig davon, wie gerechtfertigt die nun sein mögen, hängt davon ein großer Teil der Wahrnehmung der EU bei den Bürgern ab. Und Mitteleuropa scheint besonders damit zu ringen, weil es Identitätsfragen auswirft, die in Westeuropa als nicht so wesentlich empfunden werden.

II. Mitteleuropas Europa

Mitteleuropa war nicht nur wegen des Eisernen Vorhangs nie Teil der historischen Entwicklung, die den westlichen europäischen Einigungsprozess grundlegend inhaltlich definierte und in seiner Dynamik unterstützte. Das muss man verstehen, um die heutigen Differenzen in Politik und Politikwahrnehmung zu verstehen.

IIa. Unvollendete nationalstaatliche Entwicklung

Es fängt schon bei den nationalstaatlichen Voraussetzungen an. Fast alle mittel- südost- und teilweise auch osteuropäischen Länder waren bis zum Ende des Ersten Weltkriegs entweder Teil des Habsburgerreichs oder des russischen Zarenreichs. Die Westalliierten hatten schon während des Krieges die Zerschlagung der Imperien und deren Ersetzung durch das nationale Selbstbestimmungsprinzip proklamiert. Das klang abstrakt nach einem plausiblen Weg, den Weltfrieden durch Konfliktentschärfung zu schaffen. Kein Volk würde mehr ein anderes unterdrücken, jeder lebe zufrieden in Selbstbestimmung. In der Praxis war das Gegenteil der Fall. Was der Raum sein sollte, über den sich eine schwer zu definierende Nationalität selbstbestimmt verwirklichen sollte, war eine Frage, die fast überall mit Waffengewalt geklärt wurde. Man sollte gar nicht mehr von einzelnen Kriegen sprechen – etwa den Polnisch-Tschechoslowakischen Siebentagekrieg 1919, den Polnisch–Sowjetischen Krieg von 1920 oder den Krieg Rumäniens gegen Ungarn 1919 u.v.a. –, sondern kann im Sinne neuerer Geschichtslehre davon sprechen, dass in Mitteleuropa der Erste Weltkrieg mindestens bis 1921 (Friedensvertrag von Riga) dauerte und nach 1918 fast genauso viele Opfer forderte, wie in dem Zeitraum 1914-18.

Die daraus hervorgegangenen Nationalstaaten waren aufgrund ihrer gewachsenen Bevölkerungsstruktur fast durchgängig ebenso sehr Vielvölkerstaaten wie die vorhergegangenen Imperien. Sie erwiesen sich nie als so stabil wie man es bei der Vision vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen (in Wirklichkeit fast immer eine Fiktion) erwartet hatte. Der Kern des eigentlichen Sebstbestimmungsgedankens, die Demokratie, zerbröckelte schnell. Von Ungarn (1919) bis Polen (1926) wurden innerhalb kurzer Zeit alle anfänglichen Demokratien durch autokratische Regime ersetzt. Nur die Tschechoslowakei konnte sich als Republik halten bis Hitler sie 1939 beendete.

Der Zweite Weltkrieg sah ein neues und wieder fremdbestimmtes Neudefinieren von Nationalgrenzen. Von Hitlers Gnaden entstanden etwa die Slowakei (1938 herausgebrochen aus der Tschechoslowakei) und Kroatien (aus dem erst 1918 gegründeten Jugoslawien). Die Karpathenukraine machte eine exemplarische Entwicklung durch: Bis 1919 Teil Ungarns, dann bis 1938 tschechoslowakisch, dann für einen Tag unabhängig und bis 1945 wieder ungarisch, dann ein Jahr wieder Teil der Tschechoslowakei, ab 1946 Teil der Sowjetunion und heute – seit 1993 – der Ukraine.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der gesamte Raum ebenfalls Teil eines supranationalen Raums. Aber im Gegensatz zu dem friedlichen westeuropäischen „bottom-up“-Prozess der Annäherung entwickelter Nationalstaaten, gerieten jetzt nicht-so-gut-entwickelte Nationalstaaten in eine neue imperiale Umklammerung, die nach totalitären Prinzipien eine regionale Stabilität einführte – allerdings zu einem hohen Preis. Jede echte nationalstaatliche und vor allem demokratische Entwicklung wurde durch die Sowjetunion gnadenlos unterbunden. Befreiungsversuche wie in Ostdeutschland 1953, in Ungarn 1956 oder der Tschechoslowakei 1968 wurden militärisch schnell beendet. Nach 1968 wurde dies durch die Breschnew-Doktrin, die zum Schutz kommunistischer Herrschaftsansprüche durch die Sowjetunion die Souveränität der Warschauer-Pakt-Staaten einschränkte, auch formell als bindende Staatsräson.

Es ist klar, dass mit der Auflockerung des Sowjetregimes und seiner imperialen Ansprüche im Zuge der von Michail Gorbatschow ab 1986 angestoßenen Perestroika in Mitteleuropa, den baltischen Staaten und Südosteuropa Freiheitsbewegungen entstanden, die Westeuropa zwar bewunderten, aber nicht logisch zwingend auf dem westeuropäischen Modell der Transformation entwickelter Nationalstaaten aufbauen konnten und wollten. Vielmehr wollten die meisten von ihnen auch das Versprechen der nach dem Ersten Weltkrieg gescheiterten Bildung demokratischer Nationalstaaten vollenden. Das war prinzipiell nicht gegen eine Hinwendung zum sich vereinigenden Europa im Westen gedacht.

Václav Havel sollte dies damals so formulieren: „Wenn ich mich als Europäer fühle, heißt das nicht, dass ich aufgehört habe, Tscheche zu sein. Im Gegenteil – als Tscheche bin ich auch Europäer. Poetisch gesagt: Europa ist das Vaterland unserer Vaterländer.“[12] Ausgehend von der demokratischen Werteübereinstimmung und der Erkenntnis, dass die geostrategisch unsicheren Konstellationen in der Zwischenkriegszeit die Entwicklung Mitteleuropas in multiple Katastrophen hatte hineingleiten lassen, sah man in dem friedlichen Zusammenwachsen Europas im Westen eine Chance, die eigene Entwicklung hin zu Selbstbestimmung und Demokratie in ein größeres europäisches Ganzes stabil einzubetten.

Es ist klar, dass hier eine Vision von Europa entstand, die teilweise andere Ziele, teilweise andere Prioritäten setzte als sie sich historisch in Westeuropa entwickelt hatten.

IIb. Primat der Sicherheitspolitik

Aus den genannten Prämissen ergibt sich klar, dass es für die nach 1989 aus dem Bannkreis der Sowjetunion sich befreienden Länder eine hohe Priorität für ein Politikfeld ergab, die innerhalb der EG/EU bis heute eine Schwachstelle ist: Die Sicherheitspolitik. In Bezug auf das Friedensprojekt hatte man allenthalben die realistische Einsicht, dass die NATO und die USA die eigentlichen Stützen der Sicherheit gegenüber der Sowjetunion bzw. nach 1993 Russlands waren. Es ist bezeichnend, dass zum Beispiel in Tschechien der 12. März seit 2000 ein (nicht-arbeitsfreier) Feiertag ist – in Erinnerung an den Beitritt des Landes in die NATO an diesem Tag ein Jahr zuvor. Der Beitritt in die EU im Jahre 2004 wurde nirgendwo zum Feiertag. Man kann mit einigem Recht sagen, dass diese durchaus nicht unberechtigte Einschätzung und Hochpriorisierung der sicherheitspolitischen Lage in Westeuropa (und vor allem Deutschland) in ihrer Bedeutung erst nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 halbwegs erkannt wurde.

Mit dem Beginn der Planungen für die Gaspipeline Nordstream 2 (2011), die Gas von Russland über die Ostsee nach Deutschland schaffen sollte, verstärkte sich in Mitteleuropa (übrigens auch in Nordeuropa und in den USA) das sicherheitspolitische Unwohlsein über die sicherheitspolitische Orientierung Westeuropas und vor allem Deutschlands. Selbst stark westorientierte Politiker in Mitteleuropa warnten. Der damalige polnische Verteidigungsminister Radosław Sikorski verglich 2006 den Bau der Pipeline mit den Ereignissen vor 1939: "Polen ist besonders sensibel bei der Frage von Korridoren und Absprachen über unsere Köpfe hinweg", sagte er und ergänzte, dies sei "die Tradition von Locarno, die Tradition des Hitler-Stalin-Pakts."[13]

Der „Urknall“ des mitteleuropäischen Misstrauens war aber vermutlich der Irakkrieg von 2003. Die wichtigen westeuropäischen Player in Europa, Bundeskanzler Schröder und der französische Staatspräsident Chirac, hatten zwar erkannt, dass die Irakinvasion der US-geführten „Koalition der Willigen“ die Probleme des Mittleren Ostens eher verschärfen, denn lösen würde. Doch für die Stimmungslage in Mitteleuropa brachten sie kein Gespür auf. Hier fokussierte sich die Diskussion auf die Frage der moralischen Existenzberechtigung eines totalitären und völkermörderischen Regimes à la Saddam Hussein, das zuvor Partner der Sowjetunion war und u.a. mit Giftgas gegen die eigene Bevölkerung vorging. Für die Länder aber, die sich gerade erst aus den Klauen des Sowjetimperiums befreit hatten, ergab die Anspielung des US-Präsidenten Bush auf das „New Europe vs. Old Europe“ durchaus Sinn. Selbst der nicht des Militarismus verdächtige Václav Havel führte damals den totalitären (von sowjetischen Modellen geprägten) Charakter des Irakregimes als Begründung für die Beteiligung an der amerikanischen Allianz an, weil „dieses Regime eine Gefahr sowohl für die Welt als auch für seine eigenen Bürger darstellt.“[14] Achtlos in die Öffentlichkeit getragene Planspiele in Berlin und Paris, dass eine deutsch-französisch-russische (!) Achse eine Alternative zum Bündnis mit den USA sei, bestärkten damals Befürchtungen in Mitteleuropa, dass man von der EU in Bedrohungsfällen nicht viel zu erwarten hätte. Hinzu kam die Demütigung durch Präsident Chirac, der die Mitteleuropäer auch verbal zu Europäern minderer Bedeutung abstempelte als er 2003 sagte "Sie haben eine großartige Gelegenheit verpasst, den Mund zu halten".[15]

Und ausgerechnet US-Präsident Donald Trump konnte noch während seiner Präsidentschaft die Mitteleuropäer und vor allem die Polen teilweise davon überzeugen, dass die in Sachen Nordstream und russischer Bedrohung tatsächlich recht blind agierende EU (und primär auch Deutschland) die legitimen Sicherheitsinteressen der Region sträflich vernachlässige. Die Idee eines „Fort Trump“ für eine verstärkte Präsenz von US-Truppen in Polen wurde dort zunächst positiv bewertet, bis sich herausstellte, dass er dafür Truppen aus Deutschland abziehen und die EU und die NATO auseinanderdividieren wollte.[16]

IIc. Antitotalitärer Konsens

Sowohl die Positionierungen im Irakkrieg als auch die gegenüber Russland – selbst in den Zeiten in denen nach den Eroberungszügen nach Georgien (2008) und auf die Krim (2014) der Charakter des Putin-Regimes klar zu Tage getreten war – zeigten einen deutlichen Unterschied in der weltanschaulichen Grundanschauung auf. In weiten Teilen Westeuropas hatte der für Mitteleuropa (und andere frühere Warschauer Pakt Staaten) aus der noch recht rezenten Erfahrung des Sowjetimperialismus sehr lebendige antitotalitäre Konsens schon lange seine Diskurshoheit verloren. Auf Gemeinsamkeiten zwischen rechten und linken Diktaturen hinzuweisen, die einen über bloßen Autokratismus hinausgehenden gesellschaftlichen Umgestaltungsplan und eine vollständige Durchsetzung ihres Wertesystems anstreben, gilt in Westeuropa (vor allem auch in Deutschland) als eher verpönt.

Der Verweis auf strukturelle Vergleichbarkeiten zwischen nationalsozialistischen und stalinistischen/kommunistischen Regimen ist weitgehend verpönt. Die Grausamkeit des Sowjetregimes gehörte schon in den 1980ern nicht wirklich zum kollektiven identitätsbildenden Erfahrungsschatz der „alten“ EU. Der 2006 unternommene Versuch von Mitteleuropäern, sowjetische/kommunistische Insignien ebenso zu verbieten, wie es bei Nazi-Hakenkreuzen der Fall war, scheiterte letztendlich daran. Für viele Mitteleuropäer war dies ein erniedrigendes Beispiel dafür, wie ungleichgewichtig ihre historischen Erfahrungen und ihre Opfer in anderen europäischen Regionen bewertet wurden.

Hinzu kommt ein anderes Element, das für Spannungen sorgt. Die Loslösung Mitteleuropas aus dem kommunistischen Block hin zum Westen war ein Kampf um klassische Freiheitsrechte im Sinne von Abwehrrechten gegenüber dem Staat, die die individuelle Rechtssphäre schützten. Dazu gehörte primär auch ein unbeschränktes Recht auf Meinungsfreiheit, dessen Fehlen im Kommunismus als besonders schmerzlich empfunden wurden.

In den meisten westlichen Ländern hat es hingegen einen gewissen Paradigmenwechsel im Grundrechtverständnis gegeben. Es stehen positive Rechte stärker im Vordergrund, die auch soziale Voraussetzungen von Diskriminierung (und nicht nur Abschaffung von Ungleichheit vor dem Gesetz) bekämpfen sollen. Sie haben häufig einen sozio-pädagogischen Impetus, der umerzieherisch wirken kann. Insbesondere in Medien und Universitäten gibt es ein zumindest subjektiv empfundenes  Klima von Denk- und Sprechverboten. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach im Januar dieses Jahres ergab, dass nur noch 48% der Deutschen glaubt, dass man hierzulande seine Meinung frei äußern könne[17]. Solche Meldungen treffen in Mitteleuropa auf besondere Sensibilitäten. Es mag eine natürlich überzogene Einschätzung sein, aber in den meisten mitteleuropäischen Ländern weckt es Erinnerungen an die permanente Umerziehungsdiktatur der kommunistischen Vergangenheit. In dem Kontext betrachtet, dass für viele Menschen dort Freiheit und nationale Selbstbehauptung eine enge Symbiose eingegangen sind, hat das zu einer Situation geführt, dass eine „Anti-Brüssel“-Rhetorik oft auf einen fruchtbaren Boden fällt. Der Kulturkampf, der auch in den westlichen Ländern stattfindet, existiert auch in Mitteleuropa, nur mit dem Unterschied, dass hier oft nicht die politisch korrekte Linke, sondern die populistische Rechte mehr den Ton angibt, die dabei einen Kulturbruch mit Westeuropa betreibt. Die Verschiebung der Debatte auf kulturelle Differenzen hat dazu geführt, dass die EU und Westeuropa nicht mehr im Lichte eines Freiheits- oder Friedensprojektes gesehen werden, sondern als Feindbild in Fragen der Identität bei der die eigentlichen ordnungspolitischen Fragen in den Hintergrund treten. Das ist eine besorgniserregende Entwicklung. Denn, wie dem auch sei: In einem solchen Kulturkampf ist die Freiheit meist das erste Opfer – selbst wenn die Akteure das Ganze selbst zum Freiheitskampf hochstilisieren.

IIc. Enttäuschtes Europäertum

Diese Tendenz hat in Mitteleuropa stärkere Dynamiken entwickelt als im „alten“ Europa (obwohl sie da ebenfalls erstarken). Sie führt dazu, dass sich die Verbindung von eigenem Freiheits- und Selbständigkeitsstreben in ein generell anti-westliches Narrativ verwandelt. Wir stehen, so sagt der britische Historiker Timothy Garton Ash in seinem neuen Buch „Homelands – A personal history of Europe“, vor einem geschichtlichen Paradigmenwechsel. Vom „Post-War-Europe“ weg bewege man sich hin zum „Post-Wall-Europe“[18]. Der prinzipiell unangefochtene Freiheitsimpetus, der nach dem Kalten Krieg eindeutig die Diskurshoheit innehatte, wird zunehmend historisiert und weicht einer neuen Zeit der Rückkehr längst überkommen geglaubter nationalistischer und autoritärer Reflexe. Dabei wird – letztlich auch aufgrund russischer Desinformationskampagnen, die in einigen Ländern (z.B. der Slowakei) – der heutige Westen quasi als politisch verweichlichter und politischer-korrekter Nicht-Westen umdefiniert, dem nunmehr starke mitteleuropäische identitäre Wertimpulse entgegengehalten werden müssten.

Ungarns quasi-autokratischer Ministerpräsident Viktor Orbán beherrscht diese Kunst besonders gut, indem er sich 2022 als der Vertreter der eigentlichen westlichen Werte ausgab: "Wir sind der Westen, der Westen ist nur mehr noch Post-Westen".[19] Gleichzeitig wird aber diese vermeintlich „alt-westliche“ Philosophie geschickt von ihrem ursprünglichen und eigentlichen  Freiheitskern getrennt, der noch für die Zeit nach 1989 so entscheidend war. Seit 2014 heißt sein Herrschaftsmodell „illiberale Demokratie“ und zeichnet sich durch die Aushöhlung von Rechtsstaatlichkeit, die Einengung von Medienfreiräumen, gesellschaftlicher Intoleranz oder einem kleptokratischen und sozialpopulistischen Wirtschaftsstil aus – alles natürlich das Gegenteil von Westen, ganz gleich, ob alt, neu oder post. Die Ironie dabei ist, dass die als intolerant empfundene Debattenkultur im „Post-Westen“ als Rechtfertigung genuiner staatlicher und somit viel gefährlicherer Beschränkungen von Debatten und Meinungen herhalten muss.

Dem steht ein Westeuropa gegenüber, das dem keine wirklich überzeugende Freiheitsvision mehr entgegensetzt, die für Mitteleuropäer uneingeschränkt attraktiv ist. Sowohl das politisch korrekte Meinungsklima als auch das sich als Folge daraus ergebende Versagen, die Sicherheitsinteressen der Region ernst zu nehmen, haben zu einem tieferen Vertrauensverlust geführt. Große Gemeinschaftsprojekte, wie die geplante gemeinsame Flüchtlingspolitik 2015 (ein Schlüsselerlebnis für viele Mitteleuropäer) oder die großen Klimapakete, stießen stets auf erhebliche Ablehnung und wurden folglich als Aufzwingen „abgehobener“ westeuropäischer Kultureliten perzipiert oder konnten zumindest so von populistischen Kräften instrumentalisiert werden. Besonders beunruhigend muss dabei sein, dass der Pro-Amerikanismus als Alternative zur EU-Befürwortung in einigen Ländern ebenfalls dramatisch abnimmt. Im letzten Trendreport des slowakischen  sicherheitspolitischen Think Tanks Globsec gehörte zu den bedrohlichsten Resultaten, dass trotz des russischen Überfalls auf die Ukraine (immerhin ein Nachbarland) 50% der Bevölkerung der Slowakei die USA als Friedensgefährdung und Sicherheitsrisiko für ihr Land sehen.[20] Das ist nur marginal weniger als die entsprechende Einstufung Russlands, das nur von knapp von 54%[21] als Sicherheitsrisiko betrachtet wird. Damit ist die EU-Skepsis einer generellen und noch einmal weitergehenden anti-westlichen Stimmung gewichen. Auch in Ungarn (hier sogar von der Regierung betrieben) breitet sich eine pro-russische und putinistische Stimmung aus. In anderen Ländern – allen voran Polen und Tschechien – sitzt dafür (noch) die aus den Zeiten des Sowjetreiches stammende Abneigung gegenüber Russland zu tief.

IV. Westeuropa? Mitteleuropa? Europa!

Gerade im Falle Tschechiens, das vor sechs Jahren laut Umfragen noch das euroskeptischste Land Mitteleuropas (und EU-weit) war, zeigt sich, dass der gegenwärtige Negativtrend nicht in Stein gemeißelt sein muss. Die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft ist seither ständig gestiegen, in den letzten zwei Jahren um 14% auf 80%. Das hat sicher etwas mit dem russischen Überfall auf die Ukraine zu tun, der den Tschechen die Notwendigkeit sicherer westlicher Einbindung vor Augen führte. Dazu passt, dass die Zustimmung zur NATO noch größer ist (insbesondere bei den Jüngeren bis 34 Jahren liegt sie bei 96%) als zur EU.[22]

Die Enttäuschung über den Westen im Allgemeinen und die EU im Speziellen ist also nicht unumkehrbar und unveränderbar geschichtlich determiniert. Die nach dem Überfall auf die Ukraine einsetzende „Zeitenwende“ hat wenigstens  – leider, wie das Beispiel Slowakei zeigt, nicht überall  - gute Ansätze sichtbar und auch politisch möglich gemacht. Auch die Parlamentswahlen im Polen im Oktober sind ein kraftvolles Signal dafür, dass eine gemeinsame Wertebasis in Europa Boden gewinnen kann. In Mitteleuropa ist man sich der strategischen Bedeutung einer Westbindung zwangsweise bewusster geworden, wozu die (anfänglich allzu zögerliche) sicherheitspolitische Wende in Deutschland mit beigetragen haben mag. Andererseits wurde Westeuropa deutlich, dass man in Mitteleuropa schon lange eine klarere Einschätzung der sicherheitspolitischen Lage hatte, eine klarere Vorstellung auch davon, was es heißt, eine Großautokratie mit imperialen Ambitionen in der Nachbarschaft zu haben. Ein wenig scheint auch wieder eine gemeinsame Vision einer zu verteidigenden Freiheit zu entstehen, die es als vorrangiges Prinzip für Europa stärker ausbauen muss. Nicht nur darauf kann man bauen, wenn man die beiden Europas – West- und Mitteleuropa – zu einem gemeinsamen Europa zusammenfügen will.

Man muss sich bei dieser Aufgabe vor allem von der Fiktion lösen, es gäbe eine universell und quasi naturrechtlich gültige Vision Europas (die in Wirklichkeit nur eine aus konkreten westeuropäischen Erfahrungen gewachsene Vision ist), während es in Mitteleuropa lediglich einen Nachholbedarf gäbe. Wie man sich Europa nähert, ist auch eine Frage der geschichtlichen Erfahrungen. Die sind in Bezug auf die europäische Einigung in Mitteleuropa nun einmal anders als in Westeuropa. Und beide sind, nebenbei bemerkt, sowieso auch in sich keine homogenen Blöcke, wie der Brexit alarmierend vor Augen geführt hat

Für die mitteleuropäischen Länder der Visegrad Gruppe (V4) gilt: „Sie alle eint die Auffassung, mit ihren politischen Ansichten innerhalb der EU zu wenig Berücksichtigung zu erfahren. Beklagt wird eine herablassende Haltung der Westeuropäer gegenüber ihren mitteleuropäischen Nachbarn. Das Trauma der Bevormundung aus den Zeiten der mächtigen Sowjetunion sitzt tief. In den westeuropäischen Staaten hingegen dominiert der Eindruck, dass die V4 demonstrativ auf Distanz zu europäischen Werten und Institutionen gehen. Dabei ist das V4-Bündnis weder historisch kulturell, noch politisch oder wirtschaftlich homogen“, meinte vor einiger Zeit die liberale Bundestagsabgeordnete mit slowakischen Wurzeln Renata Alt.[23] Man müsse nunmehr „auf Augenhöhe“ miteinander umgehen.

Denn: Die historischen unterschiedlichen Entwicklungen sind das, was sie sind. Die westeuropäische ist nicht per se wertvoller als die mitteleuropäische und umgekehrt. Der Westen hat tatsächlich viel von Mitteleuropa zu lernen. Die Vernachlässigung der Sicherheitspolitik (Stichwort: Zustand der Bundeswehr) war nur ein Beispiel dafür, dass Nicht-Zuhören ein großer Fehler war. Die schwache Reaktion, etwa auf die Besetzung der Krim 2014, ermutigte Putins Russland zu weiteren Eroberungszügen - mit katastrophalen Konsequenzen für die Ukraine.

Aber auch die Frage, ob die europäische Integrationstiefe tatsächlich ein Selbstzweck und Staatsräson sind, kann ja auch zu richtigen Antworten führen, wenn man die Diskussion gemeinsam vernünftig und offen führt. Die Frage verbindet sich zwingend mit der, ob ein sich über regionale Präferenzen hinwegsetzender Supranationalismus zwar als freiheitsbewahrend (Beispiel: Rechtsstaatsverfahren gegen Polen und Ungarn), aber auch manchmal als freiheitsbedrohend angesehen werden kann. Es kann da keine westeuropäischen Tabus oder Herablassungen geben. Es gilt eben immer noch Václav Havels oben zitiertes Diktum, dass man es mit „Ländern, die einen echten Beitrag leisten können“ zu tun habe, weshalb man Europa weiterhin „als Aufgabe“ betrachten müsse. Die westeuropäische Identität (die, wie gesagt, ebenfalls keineswegs einheitlich ist) ist nicht die europäische Identität schlechthin. Man muss weiterhin an einer europäischen Vision arbeiten, die das Beste von Allen beinhaltet.

V. Schlussfolgerungen

Die Invasion der Ukraine und die Bedrohung Europas durch sie hat immerhin ein kleines Türchen für eine erneuerte Vision Europas eröffnet. Mitteleuropa ist definitiv im politischen Bewusstsein auch der anderen Regionen angekommen. In den letzten Jahren hat sich vor allem in Mitteleuropa eine Verstärkung des Gegensatzes zwischen zwei nicht mehr ganz zeitgemäßen Konzepten entwickelt, die die EU seit ihren Anfangszeiten begleiten. Da ist auf der einen Seite das Europa der fast vollständigen Integration (Bundesstaat) und da ist die vom französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle erhobene Forderung von 1960 nach einem „l’Europe des patries“   - dem Europa der Vaterländer. Das Ausspielen des anheimelnden Begriffs vom Vaterland gegenüber dem abstrakten Supranationalismus Europas (von de Gaulle als „Schimäre“ bezeichnet) ist heute schon aufgrund der fortgeschrittenen realen institutionellen Entwicklung nicht wirklich zeitgemäß. Anderseits lebt Europa von seiner Vielfalt und vom Zusammenwirken gemeinsamer und unterschiedlicher historischer Traditionen. Gerade in Bezug auf die Debatte um Mitteleuropa ist uns das wieder klar vor Augen geführt worden.

Václav Havels zuvor zitiertes Diktum vom „Europa als Vaterland der Vaterländer“ ist also weiterhin richtungsweisend. Europa, das bedeutet ein gemeinsames Erbe mit starken emotionalen Bindungen, die seit dem Zweiten Weltkrieg noch zugenommen haben. Und hinter den Vaterländern (von Timothy Garton Ash besser, aber leider unübersetzbar als „homelands“[24] bezeichnet) verbergen sich historisch gewachsene eigene Ausformungen dieses europäischen Vaterlands, die ebenfalls Luft zum Atmen brauchen und die einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung beitragen können

Der Wirtschaftshistoriker Eric Lionel Jones hat in seinem 1981 erschienen Buch „The European Miracle“ die Antwort auf die Frage gesucht, warum gerade dieser Kontinent in der Neuzeit eine bisher nie gesehene Fortschrittserfahrung durchlebte und seinen Bürgern mehr Freiheit und erstmals echten Wohlstand erbrachte. Die Antwort war, dass es im Großen und Ganzen einen recht einheitlichen Kulturraum, aber keine einheitliche zentralistische Herrschaft (wie etwa in China) gab. Das ermöglichte verschiedenste, in ständigen Wettbewerb stehende Entwicklungsansätze und Ideen, aber auch gemeinsamen Ideenaustausch und Innovation. Europa war immer eine Einheit in Vielfalt.

Havels Idee des „Vaterlands der Vaterländer“ (wie gesagt: „homelands“ klingt besser) ist das moderne und auf die EU zugeschnittene „Up-date“ dieses Gedankens. Es geht um das Gemeinsame in Europa, das sich aus Unterschiedlichem speist. Das ist letztlich der Gewinn, dem man aus der Diskussion um Mitteleuropa ziehen sollte. Wieweit die sich daraus ergebenden Chancen genutzt werden, hängt von den Akteuren selbst ab. Es bedarf eines Umdenkens und eines Aufeinanderzugehens beider Seiten. Daraus ergeben sich folgende Handlungsempfehlungen.

  • Mitteleuropa steht vor einer besonders schwierigen Aufgabe. Die wesentlichen Impulse, die es geleistet hat, sind lange Zeit  nicht oder unzureichend in einen gemeinsamen konstruktiven europäischen Konsens übertragen worden – als da wären: Der größtenteils noch bestehende antitotalitäre/freiheitliche Konsens, die Stärkung und klare Ausrichtung der Sicherheitspolitik und die Neudefinition der Integrationstiefe der EU. Bei der Ablehnung der Flüchtlingspolitik 2015 gab es zwar eine ungeheuere Geschlossenheit, aber die war nur negativ. Gemeinsame positive Ideen zu Problemlösung gab es aber nicht. Aus der geschichtlichen Erfahrung der Region könnten sich viele nutzbare Ideen entwickeln, was aber bisher allenfalls in Ansätzen gelang. Insofern wäre sogar eine Stärkung des Visegrad-Formats wünschbar, denn noch hat Mitteleuropa keine gemeinsame Stimme. Und Akteure wie Ungarns Orbán oder Fico in der Slowakei lassen hier wenig Positives erwarten. Aber die Wahlen in Polen und der Kurs Tschechiens zeigen, dass dies alles nicht vorgegeben und determiniert ist.
  • Sicher können und müssen von Deutschland und Frankreich als den „großen“ Mitgliedstaaten Impulse ausgehen. Aber wir dürfen nicht übersehen, dass die EU größer geworden ist und daher auch die „Motorgröße“ angepasst werden sollte. Die V4-Staaten müssen Teil jeder europäischen Strategieentwicklung sein. Hier ist gerade auch die deutsche Außenpolitik gefragt, die sich wieder ihrer Mittlerfunktion erinnern muss und nicht im alten Modus einer sich um Frankreich und Deutschland gruppierenden EU zu verharren. Ein Deutschland, das das Vertrauen der mitteleuropäischen Länder sichert (das es vor allem im entscheidenden Bereich Sicherheitspolitik lange verspielt hat), könnte zur oben erwähnten Formulierung konstruktiver gemeinsamer mitteleuropäischer Positionen beitragen und auf eine Mitbestimmungsbalance hinwirken. Die V4 wie die anderen „neuen“ Mitgliedstaaten haben einen Anspruch darauf, genauso an den Steuerhebeln der EU zu sitzen wie Frankreich oder Deutschland. Gleichzeitig haben sie, wie alle anderen Länder, auch ein Recht darauf, Dinge, die sie betreffen, selbst zu bestimmen. Deutschland sollte hier eine neudefinierte Vermittlerrolle einnehmen.
  • Hier liegt auch ein institutionelles Problem. Der Widerspruch, dass man einerseits nicht EU-Mitglied „zweiter Klasse“ sein will, andererseits viele Politiken selbstbestimmt ohne „Brüssel“ regeln will, hat seine Ursache in dem noch immer etwas unausgereiften Verständnis des Subsidiaritätsprinzips, das zwar in Art. 5, Abs.3 des EU-Vertrags verankert ist, aber so vage formuliert wurde, dass es die den Mitgliedstaaten zugewiesenen Spielräume nicht immer klar von EU-Kompetenzen trennt. Eine klar definierte Abgrenzung liegt nur bei den „ausschließlichen Zuständigkeiten“ (Zollunion, Handelspolitik, Währung, Fischerei) vor. Die meisten Aufgaben sind in der Praxis aber geteilte Zuständigkeiten und Maßnahmen zur Unterstützung. Hier läuft es de facto darauf hinaus, dass die Frage, wo die EU eingreift, letztlich ihr selbst überlassen wird. Es müsste also klarer und umfangreicher festgelegt werden, was unbedingt und prinzipiell unantastbarer Kern der EU ist (etwa die Rechtsstaatlichkeit)). Ähnlich funktioniert seit über 2 Jahrhunderten die amerikanische Verfassung. Bei der Formulierung dieser Kernaufgaben müssen primär die freiheitssichernden Funktionen (etwa Offenheit des Binnenmarktes) im Vordergrund stehen, um nicht gesellschaftlichen Werte und Politiken aufzuzwingen, die den unterschiedlichen Präferenzen der Bürger in verschiedenen Mitgliedsländern diametral entgegengesetzt sind. Die EU leidet einerseits in manchen Feldern an einem regulatorischen „Overstretch“ und ergeht sich in kleinteiligem Aktivismus, anderseits gibt es in wesentlichen Bereichen (vor allem die Sicherheitspolitik) einen gefährlichen „Understretch“.
  • Es darf dabei ebenfalls keine „zwei Geschwindigkeiten“ für Europa in dem Sinne eines „Kerneuropas“, dem gegenüber ein Peripherieeuropa steht geben. Das könnte letztlich in einem „Zweiklasseneuropa“ enden und ist daher in Mitteleuropa extrem unpopulär, zumal es die deutsch-französische gemeinsame Führungsrolle in Europa zementieren würde. Eher ist (sehr weit) zu definieren, wo die Mitgliedsländer frei und eigenständig entscheiden können. Dann würde das Europa der „verschiedenen Geschwindigkeiten“ gelebte und (auch in den V4) geschätzte Praxis. Letztlich geht es um eine glasklare Definition des Vorrangs der bürgernächsten Ebene.
  • Auch solch eine umfassende und präzise Zuständigkeitsklärung wird nicht perfekten Schutz bieten (wie das Beispiel der USA zeigt, wo sich die Bundeskompetenzen durchaus recht beachtlich ausgeweitet haben). Zudem trägt sie wenig zur Linderung des realen oder empfundenen Demokratiedefizits der EU bei, das der eigentliche Kern der Beschwerden gegen die als zentralistisch wahrgenommenen Subsidiaritätsdefizite ist – und außerdem durch eine bloße Stärkung des EU-Parlaments nicht wirklich behoben werden. Die demokratischen Prozesse in Mitgliedsländern und der EU haben noch Potential für viel Optimierung. Der Vertrag von Lissabon hat im Ansatz bereits einen interessanten zusätzlichen Weg eröffnet, der weiterverfolgt werden sollte. Er hat die Rolle der nationalen Parlamente gestärkt und ein „Frühwarnsystem“ eingeführt, das einer Mehrheit der nationalen Parlamente ermöglicht, eine Überprüfung wegen der Verletzung des Subsidiaritätsprinzips zu verlangen (die sog. „gelbe Karte“). Hält die Kommission trotz „gelber Karte“ am Vorhaben fest, muss sie dies vor Rat und EU-Parlament begründen, die das Vorhaben theoretisch beenden können („orange Karte“). Im Prinzip ist diese Stärkung der nationalen Parlamente eine „Win-Win-Situation“ für alle. Praktisch war die Klausel der „Karten“ aber wirkungslos. Bisher kam es noch nie zu einem Orange-Karten-Verfahren. Das Ganze blieb toter Buchstabe und eine ungenutzte Chance. Die während der Diskussion um den Brexit kurz aufgeflammte Diskussion um eine weitere Stärkung der Mitbestimmungsrechte der nationalen Parlamente, bei der eine „rote“ Karte von Britischen Premier Cameron ins Gespräch gebracht wurde, bei der eine qualifizierte Mehrheit der Parlamente Kommissionsvorhaben aufhalten hätte können[25], verlief im Sande. Dem Modell der „roten Karte“ muss man nicht unbedingt folgen[26]. Dennoch:  Hier sollten in Zukunft die Reformbemühungen der EU ansetzen. Eine intensivere Einbindung der nationalen Parlamente würde den EU-Gegnern viel Wind aus den Segeln nehmen, die von der Bürgerferne der EU reden. Der slowakische Ökonom Dalibor Rohac meinte schon 2012, dass die Stärkung der Parlamente nicht nur einen effektiven Schutz vor subsidiaritätswidrigen Übergriffen ermögliche. Vielmehr  könne man so „die Abkopplung, die zwischen den gesetzgeberischen Prozessen in der EU, die von der Kommission bestimmt werden, und den nationalen Politiken überbrücken.“[27] Was im Lissaboner Vertrag angestoßen wurde, muss mit Leben erfüllt werden. Eine Verzahnung demokratischer Prozesse auf EU- und Nationalstaatsebene würde „zwei Fliegen mit einer Klappe“ schlagen, nämlich zu mehr Subsidiarität und zur Behebung des Demokratiedefizits beitragen. Die Kooperation der Mitgliedsländer, die noch primär von den Exekutiven geprägt ist, würde demokratisch angebunden.
  • Angesichts der realen Gefahr, dass sich die USA verteidigungspolitisch von Europa abwenden können, sind die „alt-europäischen“ Länder (allen voran Deutschland) gefragt, ihre sicherheitspolitischen Hausaufgaben zu machen, um verlorenes Vertrauen in Mitteleuropa wiederzugewinnen. Es muss darauf hingewirkt werden, dass die europäische Sicherheitspolitik gestärkt wird, ohne die NATO zu schwächen. Und es müssen Mechanismen für Sicherheitsgarantien geschaffen werden, dass die Bedrohung von vielen europäischen Partnerschaftsländern (neben der Ukraine etwa Moldau und Georgien) durch Russland gemindert werden kann. Aus westeuropäischer Perspektive mag man sich der Illusion hingeben, dass die fernab der eigenen Sicherheitsinteressen liegen, aber für Mitteleuropa bilden sie eine reale Bedrohungslage. Wie der Überfall auf die Ukraine gezeigt hat, handelt es sich aber um eine Frage, die ganz Europa bis ins Mark betrifft.
  • Europa wird sich erweitern. Mit dem Ukrainekrieg hat die Erweiterungsdynamik aus sicherheitspolitischen Gründen stark an Fahrt aufgenommen. Aber auch schon vor 2022 haben sich gerade die mitteleuropäischen Länder deutlicher als die westeuropäischen Länder für eine möglichst schnelle Erweiterung der EU in Richtung Balkan und Südosteuropa ausgesprochen. Zunehmend, wenngleich in der öffentlichen Debatte kaum ausdiskutiert, wird dadurch eine Wechselwirkung zwischen der außenpolitischen Dimension der Erweiterung und der inneren institutionellen Struktur der EU zum Problem. Es ist schon für sich eine Herausforderung, dass die Ukraine aus völlig nachvollziehbaren Gründen eine unausgesprochen Vorzugsbehandlung erfahren könnte, weil es die Frage aufwirft, wann denn Länder, die seit längerem schon beitreten möchten (z.B. Nordmazedonien oder Montenegro), an der Reihe sind. Das kann Missstimmungen erzeugen. Wichtiger ist, wie die EU die Vermehrung um viele Länder, die in ihrer rechtsstaatlichen Entwicklung noch wenig gefestigt und ökonomisch vergleichsweise schwach sind, absorbieren kann. Was das erste Problem angeht, muss sie dabei klar und deutlich auf die Einhaltung von Rechtsstandards pochen und ein noch stärkeres Instrumentarium zur Durchsetzung entwickeln. Was die ökonomische Seite angeht, so können die regulatorischen und wirtschaftspolitischen Bürden, die die EU der europäischen Wirtschaft bisweilen auferlegt, große Probleme aufwerfen. Der „normale“ Weg ist heute, dies durch Subventionen, Regionalfonds etc. auszugleichen. Die haben, wie der Fall des Orbán-Regimes in Ungarn zeigt, rechtsstaatliche Strukturen geschwächt und zu einem kleptokratischen System geführt, das von der EU finanziert, aber gegen die EU gerichtet wird - abgesehen davon, dass eine größere Erweiterung mit ihren Kosten den Weg in eine nicht sonderlich liberale Staats- und Transferwirtschaft ebnen könnte. Folglich muss die Erweiterungsdebatte um eine weitere Grundsatzdiskussion ergänzt werden, wie weit die Kompetenzen und Handlungsspielräume der EU gehen, die in manchen Fällen ungenügend, in anderen zu weitreichend sind. Das ist eine Diskussion, bei der die mitteleuropäischen Staaten, die zugleich die Erweiterung forcieren und eine Überintegration vermeiden wollen, aus liberaler Sicht eine entscheidende Rolle spielen könnten. Sie müssen nur den Willen aufbringen, hierzu eine tragfähige Position zu entwickeln.

Der Weg zu Europa, der nach 1989 eingeschlagen wurde, ist nicht vorgegeben und muss auch nach über 30 Jahren immer noch gemeinsam erschlossen werden. Nur so kann man einem Abdriften Mitteleuropas entgegenwirken. Aus Westeuropa und Mitteleuropa muss ein gemeinsames Europa werden, nicht ein Europa mit problematischem Anhängsel. Das ist keine einfache Aufgabe und es wird viele Probleme auf dem Weg dahin geben. Aber letztlich kann die Idee Europas nur durch das permanente Lösen von Problemen überleben.

 

 

[1]Zitiert nach: Tomasz Kasprowicz: 30 Years of Freedom in CEE. Various Paths and Destinnations; in: 4Liberty.eu Review, No.11, September 2019, S. 9 u. 12 (Daten der Weltbank)

[2]Ivan Krastev: The Metamorphosis of Central Europe; in: Project Syndicate. The World's Opinion Page, Jan. 21, 2019 (abgerufen am 8.1.2024 https://www.project-syndicate.org/magazine/the-metamorphosis-of-central-europe-by-ivan-krastev-2019-01) Übers. Detmar Doering

[3]Address given by Vaclav Havel to the Polish Sejm and Senate (Warsaw, 25 January 1990), S.4 (abgerufen am 8.1.2024) https://www.cvce.eu/en/obj/address_given_by_vaclav_havel_to_the_polish_sejm_and_senate_warsaw_25_january_1990-en-d639c9ab-79ce-41d9-8767-4a9bd804ec35.html (Übers. Detmar Doering)

[4]Rede von Václav Havel, 1991; https://www.karlspreis.de/de/preistraeger/vaclav-havel-1991/rede-von-vaclav-havel (abgerufen am  8.1.2024)

[5]Zitiert nach: https://european-union.europa.eu/principles-countries-history/history-eu/1945-59/schuman-declaration-may-1950_de(abgerufen am 8.1.2024)

[6]Außenminister Westerwelle: Friedensnobelpreis für EU großartige Entscheidung. Pressemitteilung des Auswärtigen Amtes, 12.10.2012 (abgerufen am 24.1.2024: https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/121012-bm-friedensnobelpreis/251830)

[7]Siehe: https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:12012E/TXT:de:PDF (abgerufen am 8.1.2024)

[8]Siehe: Andreas Wimmel: Kosten der Umsetzung von EU-Recht für Bund und Länder; in: Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik,, Heft 9, 2023  (https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2023/heft/9/beitrag/kosten-der-umsetzung-von-eu-recht-fuer-bund-und-laender.html), (abgerufen am 9.1.2024)

[9]Siehe: https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_23.html (abgerufen am 8.1.2024)

[10]Siehe zum Beispiel die kritischen Anmerkungen von Tschechiens Ministerpräsidenten Petr Fiala; https://www.euractiv.de/section/europa-kompakt/news/zu-wenig-innovation-tschechien-kritisiert-green-deal/

[11]Conference Board: The Conference Board Measure of CEO Confidence, 15 November 2023 (abgerufen am 8.1.2024: https://www.conference-board.org/pdfdownload.cfm?masterProductID=49406)

[12]Václav Havel: Evropa jako úkol. Výber z projevu 1990-2009 (Europa als Aufgabe. Auswahl aus den Reden 1990-2009), Václav Havel Library, Prag, 2012, S. 174 f. abgerufen am 8.1.2024; zitiert nach: https://www.boell.de/de/2014/05/21/tschechien-der-eu-europa-als-aufgabe

[13]Zitiert nach: https://www.spiegel.de/wirtschaft/indirekter-hitler-vergleich-polnischer-minister-poltert-gegen-schroeder-und-merkel-a-413931.html (abgerufen am  8.1.2024)

[14]Zitiert nach: https://deutsch.radio.cz/vaclav-havel-der-irak-stellt-eine-gefahr-fuer-die-welt-dar-8058865 (abgerufen am  8.1.2024)

[15]Zitiert nach: https://www.spiegel.de/politik/ausland/mund-halten-chiracs-ruege-bringt-osteuropaeer-auf-us-kurs-a-236907.html(abgerufen am 8.1.2014)

[16]Zusammenfassend dazu: https://www.reuters.com/article/idUSKBN23H36O/

[17]Zitiert nach: https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/schock-studie-zur-meinungsfreiheit-so-unfrei-fuehlen-sich-die-deutschen-82389720.bild.html (abgerufen am 8.1.2024)

[18]Zitiert nach: https://munkschool.utoronto.ca/ceres/news/timothy-garton-ash-post-war-europe-post-wall-europe-and-back(abgerufen am 8.1.2024)

[19]Zitiert nach: https://www.derstandard.at/story/2000137712841/orban-wir-sind-der-westen-der-westen-ist-nur-mehr

[20]Globsec Trends 2023,  S.36. Siehe: https://www.globsec.org/sites/default/files/2023-05/GLOBSEC%20Trends%202023.pdf(abgerufen am 24.1.2024)

[21]ebd., S.19

[22]ebd., S.66

[23]Renata Alt: Auf Augenhöhe:Dialog mit Mitteleuropa stärken, 14.11.2018 https://www.renata-alt.de/auf-augenhohe-dialog-mit-mitteleuropa-starken (abgerufen am 8.1.2024)

[24]So auch der Titel seines neuesten Buches: https://www.timothygartonash.com/homelands.php

[25]Siehe dazu: https://blogs.lse.ac.uk/europpblog/2016/06/13/how-the-red-card-system-could-increase-the-power-of-national-parliaments-within-the-eu/

[26]Eine andere mögliche Idee wäre die Schaffung einer zweiten EU-Parlamentskammer, die aus Mitgliedern der nationalen Parlamente besteht.

[27]Dalibor Rohac: Towards an Imperfect Union. A conservative case for the EU, Lanham 2012, S.172