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Polen
Untergrabung der Rechtstaatlichkeit in Polen bestätigt

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg.

© picture alliance / dpa | Alexandre Marchi

Der Europäische Strafgerichtshof (EuGH) hat am Montag, den 5. Juni 2023 endgültig im jahrelang andauernden Streitfall um die Justizreformen in Polen entschieden: Die Justizreform von 2019 bricht EU-Recht. Auch die im Jahre 2019 vorgeschlagene Reform der Disziplinarkammer für Richter, die inzwischen abgeschafft wurde, ist rechtswidrig. Außerdem hatte die Regierungspartei vor kurzem eine neue Disziplinarkommission für Politiker eingesetzt, die den russischen Einfluss in der Politik untersuchen und verdächtige Politiker aus dem öffentlichen Leben ausschließen sollte. Hunderttausende Bürger protestierten auf den Straßen in Warschau und in ganz Polen am Sonntag, den 4. Juni, gegen die PiS-Regierung und ihre Manöver gegen die Rechtsstaatlichkeit.

Der lange Streit um die Disziplinarkammer

Der Hauptgegenstand des Konflikts mit der EU ist die Disziplinarkammer am Obersten Gerichtshofs Polens, die die PiS-Regierung im Jahre 2018 eingerichtet hatte. Diese Kammer sollte Disziplinarverfahren gegen Richter einleiten, bei denen laut PiS-Regierung „Fehlverhalten“ verschiedener Art zu beobachten sei. Diese konnten dann versetzt oder suspendiert werden. Die Opposition und Experten bezeichneten diese Kammer als politisches Instrument der Regierung, um die polnische Justiz zu manipulieren und mit PiS-nahen Personen zu besetzen. Die EU hatte diesen Versuch schon mehrmals klar als Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz und der Rechtsstaatlichkeit verurteilt. Am 20. Dezember 2019 verabschiedete das polnische Parlament mit der Mehrheit der PiS-Abgeordneten ein Gesetz, das die Möglichkeiten der „Disziplinierung“ von Richtern noch erweiterte. Die Novelle ermöglichte Geldstrafen, Herabstufung oder Entlassung der Richter, die die Entscheidungskompetenz oder Legalität eines anderen Richters, eines Gerichts oder einer Kammer infrage stellten. Außerdem verpflichtete die Reform Richter dazu, ihre nebenberuflichen und gesellschaftlichen Tätigkeiten zu melden und zu registrieren.

Die EU-Kommission (EK) sah in dieser „Pseudo-Reform“ lediglich eine weitere Einschränkung der Unabhängigkeit der polnischen Gerichte und leitete ein Vertragsverletzungsverfahren ein. In ihrer Klage forderte die EK den EuGH auf, zu entscheiden, dass die Änderung des polnischen Gesetzes gegen mehrere Bestimmungen des gemeinsamen europäischen Rechts verstoße. Der EuGH ordnete deshalb 2021 an, dass Polen die Disziplinarkammer völlig abschaffen müsse, weil sie die Unabhängigkeit der polnischen Justiz beeinträchtige. Die polnische Regierung weigerte sich, das Urteil umzusetzen und ließ das polnische Verfassungsgericht in einem Eilverfahren darüber entscheiden. Das Verfassungstribunal erklärte daraufhin das Urteil des EuGH als verfassungswidrig, da das nationale Justizsystem nicht zu den EU-Kompetenzen gehöre und in diesem Bereich das polnische Nationalrecht dem europäischen Recht übergeordnet sei.

Dieses Urteil steht selbstverständlich im Widerspruch zu sämtlichen EU-Verträgen, denen Polen als Mitgliedstaat verpflichtet ist. Dennoch wurde die Tätigkeit der Disziplinarkammer teilweise gestoppt. Da die polnische Regierung aber keine weitergehenden Reformen anstieß und die Disziplinarkammer nicht völlig aufgelöst wurde, verhängte der EuGH im Oktober 2022 gegen Polen eine Geldstrafe von 1 Million Euro für jeden Tag der Nicht-Erfüllung der Verordnung, die umstrittene Kammer abzuschaffen.

Der EU-Rechtsstaatsmechanismus und seine Folgen für Polen

Seit Beginn dieses Streits vertritt die polnische Regierung den Standpunkt, dass sich die EU nicht in ihre inneren Angelegenheiten einmischen darf. Aus dieser Überzeugung heraus hat Polen bis heute keinen einzigen Euro an die EU gezahlt. Entsprechend belaufen sich die Schulden mittlerweile auf eine Summe von 556 Mio. Euro.

Aufgrund mehrerer anderer rechtswidriger Justizreformen in Polen wurde bereits im Jahre 2017 gegen Polen das sog. Artikel 7-Verfahren eingeleitet. Artikel 7 aus dem Vertrag von Amsterdam soll die Grundwerte der EU (die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte) schützen. Bei Verstößen gegen das Rechtsstaatsprinzip soll das Mitgliedsland mit der Aussetzung seiner Stimmrechte in der EU bestraft werden. Zur Feststellung einer solchen Verletzung gilt aber das Einstimmigkeitsprinzip der Mitglieder im EU-Rat, und da sich Polen und Ungarn in diesen Verfahren regelmäßig gegenseitig unterstützen, wurde der Mechanismus nie erfolgreich umgesetzt.

Das Europäische Parlament forderte entsprechend die EU-Kommission auf, daraus Konsequenzen zu ziehen und einen neuen Schutzmechanismus zu entwickeln, der Länder wie Polen und Ungarn zwingen würde, die nötigen Reformen zum Schutz des Rechtsstaates und der EU-Werte durchzuführen. Aus diesem Grund wurde im Jahr 2021 ein neuer Konditionalitätsmechanismus ins Leben gerufen. Seither sollen die Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat auch finanzielle Konsequenzen haben. In der Praxis bedeutet dies für die betroffenen Länder eine Kürzung von Mitteln aus dem EU-Budget, und mittlerweile auch die Einbehaltung von Zahlungen aus dem Corona-Wiederaufbaufonds der EU. Das Verfahren wurde bisher gegenüber Polen und Ungarn angewendet. Beide Länder hatten gegen den neuen Rechtsstaatsmechanismus im Februar 2022 eine Klage eingereicht, die aber vom EuGH jeweils abgelehnt wurde. Der EuGH verurteilte konträr im Oktober desselben Jahres Polen selbst zu der täglichen Strafe von 1 Million Euro.

Seither hat die polnische Regierung mehrere einzelne kleinere Justizreformen durchgeführt und Anträge zur Abschaffung des Busgeldes gestellt. Gezahlt hat sie die Strafe nicht; es existieren jedoch keine Mechanismen, die hier greifen und Polen zur Zahlung zwingen könnten. Da aber die Regierung grundsätzlich ihre Meinung nicht geändert und immer neue Wege gesucht hat, die „Disziplinierung“ von Richtern durchzuführen (z. B. wurde in der Zwischenzeit die Disziplinarkammer durch eine sogenannte „Kommission für berufliche Verantwortung“ ersetzt), wurden alle Versuche von Reformen als unzureichend abgelehnt. Erst im Frühjahr diesen Jahres wurde die Kammer als solche endlich aufgelöst. Mit den bisher stattgefundenen Disziplinierungsverfahren soll sich nun das Oberste Verwaltungsgericht in Polen befassen. Hierbei bleibt fraglich, wie unabhängig diese Urteile sein werden. Sowohl die in der Zwischenzeit gefallenen Entscheidungen der umstrittenen Kammer als auch das Urteil des Verfassungstribunals, welches bis heute polnisches Recht über EU-Recht stellt, gelten außerdem vorerst weiter. Deshalb erhielt der EuGH die Geldbuße aufrecht, beschloss Ende April 2023 aber, die o.g. Reform mit der Halbierung der Strafe auf 500.000 Euro pro Tag zu belohnen.

Mittlerweile beläuft sich die Geldbuße auf insgesamt 556 Mio. EUR, und die tägliche Anhebung der Strafe endete mit dem Datum des Urteils. Dies ist die höchste Geldstrafe in der Geschichte der EU, und Polen wird sie zahlen müssen, egal in welcher Form. Gegen das Urteil des EuGH kann keine Berufung mehr eingelegt werden. Die Europäische Kommission wird der polnischen Regierung Zeit geben, das Urteil umzusetzen. Wenn die Europäische Kommission feststellt, dass Polen die Rechtsvorschriften nicht mit dem EU-Recht in Einklang bringt, kann die EK ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren einleiten und gleichzeitig mitteilen, welche Änderungen vorgenommen werden müssen. Der letzte Schritt in einem solchen Verfahren wird eine weitere Beschwerde beim EuGH sein, in der Polen direkt beschuldigt wird, das Urteil des EU-Tribunals nicht umgesetzt zu haben, und eine weitere Verhängung von Geldstrafen gefordert wird.

Bis dahin werden die bisherigen Schulden Polens von den europäischen Mitteln abgezogen, die an Polen überwiesen werden sollten. Dies bedeutet eine enorme Einbuße für den polnischen Staatshaushalt, der nach wie vor auf Gelder aus dem Konjunkturprogramm angewiesen ist. Polen rechnet in seinem neuen Konjunkturplan, trotz der jahrelangen Streitigkeiten, weiterhin mit diesen Geldern – die EU wird diese jedoch nicht zahlen. Diese mehreren Milliarden Euro, die für die Entwicklung von Infrastruktur, Bildung, Gesundheitswesen usw. eingeplant waren, werden für viele Projekte fehlen. Die Folgen der nicht- rechtsstaatlichen Manöver der Regierung werden also letztlich jeden einzelnen Bürger Polens treffen. Die Empörung in der Gesellschaft und bei der Opposition ist groß.

PiS ist nicht aufzuhalten

Anstatt zu versuchen, die Reformen rückgängig zu machen, unternahm die Regierung jüngst einen weiteren Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit. Am Freitag, den 26. Mai, stimmten die Abgeordneten mit Regierungsmehrheit der Einsetzung einer neuen Kommission zu, die die russische Einflussnahme auf polnische Politiker bis zurück ins Jahr 2007 untersuchen soll. Wird ein „Fehlverhalten“ nachgewiesen, kann der betreffende Politiker für 10 Jahre vom politischen Leben ausgeschlossen werden. Die Opposition sieht darin einen klaren Angriff auf ihren Anführer Donald Tusk (Platforma Obywatelska - Bürgerplattform), früheren polnischen Premierminister und von 2014 bis 2019 Präsidenten des Europäischen Rates, der zu seiner Amtszeit mit Russland Verträge über den Import von russischem Gas abgeschlossen hatte. Die Absicht der PiS-Partei könnte tatsächlich sein, ihren größten Konkurrenten Tusk aus dem Weg zu räumen, weil die Bürgerkoalition (Koalicja Obywatelska - Koalition der Parteien Platforma Obywatelska, Nowoczesna, Inicjatywa Polska, Partia Zieloni) ihnen im gerade laufenden Wahlkampf zu den parlamentarischen und lokalen Wahlen im Herbst 2023 im Nacken sitzt.

Das Gesetz, das die Untersuchungskommission einführt und bereits den Spitznamen "Lex-Tusk" trägt, wurde sofort von Präsident Duda unterzeichnet. Die EU und Polens engster Wirtschaftspartner, die USA, durchschauten das Vorgehen sofort. Auch sie sind mit dem neuen Gesetz nicht einverstanden und teilten Warschau ihre Meinung unmittelbar mit. Vor wenigen Tagen rief die polnische Opposition unter der Führung von Tusk mit ihrer Bürgerkoalition für Sonntag, den 4. Juni, dem symbolischen Jahrestag der ersten teilweise freien Wahlen nach dem Fall des Kommunismus in Polen, zu einem großen Protest gegen die Regierung auf. Nach Angaben der Opposition protestierten rund eine halbe Million Menschen in Warschau. Tusk wurde bei der Demonstration vom  Friedensnobelpreisträger und Chef der antikommunistischen Gewerkschaft Solidarnosc, Lech Wałęsa, begleitet. Die Botschaft ist klar: Die polnischen Bürger möchten mehrheitlich in der europäischen Familie bleiben. Mit PiS geht das jedoch nicht mehr ohne Konflikte.

Die Ereignisse der letzten Tage tragen bereits Früchte. In den jüngsten Wahlumfragen überholt die oppositionelle Koalition die PiS. Es bleibt jedoch abzuwarten, welche Folgen die Einführung der Untersuchungskommission in der Praxis haben wird. Der polnische Präsident Andrzej Duda kündigte nach der Kritik der EU und der USA am vergangenen Freitag an, dass er eine Änderung des Gesetzes vorschlagen werde. Trotzdem eröffnete die Europäische Kommission am Mittwoch, den 7. Juni, ein neues Verfahren gegen Polen, weil sie weitere Verstöße gegen demokratische Grundprinzipien befürchtet. Warschau sollte nach dem üblichen Verfahren zwei Monate Zeit für eine Antwort auf das Verfahren haben. Sollte die Kommission mit der Antwort nicht zufrieden sein, könnte das Verfahren fortgesetzt werden und mit einer neuen Klage vor dem EuGH enden.

Nach den Erfahrungen früherer Verfahren ist es jedoch zweifelhaft, dass die Europäische Kommission die polnische Regierung so einfach und kurz vor den Wahlen im Herbst von der geplanten Einsetzung der Untersuchungskommission abhalten kann. Wie die Ereignisse der letzten Monate und Tage zeigen, wird PiS versuchen, die Wahl um jeden Preis zu gewinnen.