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Nachwahlbericht
Sieg der Demokratie in Polen

Polen
© picture alliance / NurPhoto | Beata Zawrzel

Die langen Schlangen vor den Wahllokalen, die sich am Sonntag, den 15. Oktober, den ganzen Tag über und bis in die Nacht hinein bildeten, erbrachten den Beleg dafür, dass das Wort  „Schicksalswahlen“ keine Übertreibung war. Tatsächlich erreichte die Wahlbeteiligung mit mehr als 74 Prozent einen neuen historischen Höchstwert. Heute ist es klar, Polen steht vor einem politischen Machtwechsel.

Die Wählerinnen und Wähler haben der seit acht Jahren den Regierungschef stellenden nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) die rote Karte gezeigt und den pro-europäischen Kräften den Rücken gestärkt. Zwar ist die PiS zum dritten Mal in Folge stärkste Kraft geworden, doch im Vergleich zur Abstimmung vor vier Jahren hat sie stark Federn lassen müssen. Mehr noch sogar: Sie dürfte die Macht an Donald Tusk, den Spitzenkandidat der liberal-konservativen Bürger-Koalition (KO) abgeben. Diese ging zwar nur als Zweite durchs Ziel, doch dürfte es ihr eher als der PiS gelingen, die kleineren, für die Mehrheitsbildung erforderlichen Fraktionen im Sejm, dem Warschauer Parlament, auf ihre Seite zu ziehen.

„Das Wahlergebnis ist ein großer Erfolg der polnischen Gesellschaft. Nach acht schwierigen Jahren wird Polen auf den liberalen und europäischen Weg zurückkehren,“ sagt Milosz Hodun, ein langjähriger aktiver Partner der FNF und Mitglied der liberalen Nowoczesna-Partei, deren Vorsitzender Adam Szłapka einen historischen Erfolg erzielte, als er nach Donald Tusk und Jarosław Kaczyński landesweit die dritthöchste Stimmenzahl erreichte.

Polen nach dem Kampf der beiden Titanen

Die polnische Landkarte hat sich fast genau in zwei Hälften geteilt. Sieben westpolnische Woiwodschaften haben für KO gestimmt. In den neun östlichen hat die PiS gewonnen. Bei den Wahlen 2019 hatte die PiS noch fast das gesamte Gebiet Polens gewonnen. Es ist zweifellos, dass die polnische Gesellschaft immer noch polarisiert ist, der Trend ist aber versprechend. Wenn man sich die Karte ansieht, wo die vereinte Opposition gewann, bleiben nur drei letzte Woiwodschaften im Süd-Osten in Farben der PiS.

Die PiS ist auf ihre Kernwähler zurückgefallen. Die Partei bleibt in ihren Bastionen weiterhin führend, verliert aber dort rasant. Dasselbe gilt zum Beispiel auch für die Auslandswähler in den USA, die traditionell PiS wählten. Die KO wiederum hat laut einer Nachwahlbefragung viele Nichtwählerinnen und –wähler mobilisieren können. 31 Prozent der Nichtwähler aus dem Jahr 2019 haben diesmal die KO gewählt. Am höchsten lag die Wahlbeteiligung aber in der Gruppe der Wähler zwischen 50 und 59 mit 83 Prozent. Hier lag die PiS mit 44 Prozent vorne. Bei den jüngsten Wählern im Alter von 18 bis 29 Jahren gewann hingegen die KO, gefolgt von den anderen pro-demokratischen Parteien. Obwohl diese Gruppe mit knapp 70 Prozent jedoch die zweitniedrigste Wahlbeteiligung hatte, wurde sie nachweislich am meisten mobilisiert, verglichen mit der Wahlbeteiligung 2019 , die nur bei 46 Prozent lag.

Laut den offiziellen Ergebnissen erziehlte die PiS 35,38 Prozent. Das sind rund acht Prozent weniger als bei den Wahlen 2019. Die Bürger-KO kann 30,7 Prozent verbuchen. Beide Ergebnisse waren in den meisten Umfragen ähnlich vorausgesagt worden. Auch zwei weitere pro-demokratische und pro-westliche Akteure ziehen ins Parlament: das liberal-konservative Wahlbündnis Trzecza Droga (Dritter Weg) erzielte für viele ein unerwartetes Erfolg mit 14,40% und Nowa Lewica (Neue Linke) mit 8,6% hat nach 18 Jahren die Chance, wieder in der Regierung zu sitzen.

Sejm, die zweite Kammer des polnischen Parlaments, besteht aus 460 Abgeordneten. Um eine Regierung zu bilden, braucht man eine einfache Mehrheit. Die PiS mit ihren 194 Mandaten hat die Mehrheit verloren und ist nun auf Koalitionspartner angewiesen. Der einizige potenzielle Partner, die rechtsextreme Partei Konfederacja (Die Konföderation), bekam weniger Stimmen als erwartet (7%, umgerechnet auf 18 Sitze im Parlament). Selbst mit ihr an der Seite hätte die PiS keine parlamentarische Mehrheit.

Pyrrhussieg der PiS

Die PiS hat seit der Übernahme der Regierungsgeschäfte 2015 alles daran gesetzt, das Land nach ihrem Bild umzuformen. Ihre Vision war die eines werte-traditionalistischen, christlich-katholischen Polens mit starken sozialstaatlichen Elementen überwölbt von einer paternalistischen, politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich und kulturell omnipräsenten Partei. Geschaffen werden sollte ein Bollwerk gegen den sittlich vermeintlich dekadenten Westen und ein ethnisch weitestgehend homogenes, obrigkeitshöriges Gemeinwesen. Auch wenn dieses Projekt zutiefst archaisch anmutete, verstand es die von Jarosław Kaczyński.geführte Partei sehr gut, sich des machtpolitischen Werkzeugkasten skrupelloser autoritärer Herrscher zu bedienen. Sie dominierte die Medien und damit die öffentliche Meinungsbildung. Sie hat sich die Justiz politisch gefügig gemacht  und die Wahlkreise so zugeschnitten, dass konservative Mehrheiten wahrscheinlicher werden. Sie scheute nicht davor zurück, die staatlichen Sicherheitsdienste gegen politische Gegner einzusetzen.

Polens internationales Ansehen hat aufgrund  der Dauerpolemik der Regierenden in Warschau gegen die Europäischen Union und ihre Institutionen schwer gelitten. PiS-Vertreter haben antideutsche und anti-EU-Ressentiments massivst geschürt. Illegale Migration und Sicherheitsfragen waren die Topthemen einer Wahlkampagne, die zeitweise wohl eher eine Desinformationskampagne war. Um ihre Wähler zu mobilisieren, hat die PiS parallel zu den Parlamentswahlen ein Referendum angesetzt. Eine der suggestiven Fragen lautete: "Unterstützen Sie die Aufnahme Tausender illegaler Einwanderer aus dem Nahen Osten und Afrika, die dem von der europäischen Bürokratie auferlegten Zwangsumsiedlungsmechanismus folgen?" Das Referendum scheiterte. Bei 50 Prozent hätte die Beteiligung liegen müssen. Sie lag bei lediglich 41 Prozent.

Der sicherlich gravierendste, ausgerechnet während des Wahlkampfes aufgedeckte Fehltritt der PiS war der Visa-Skandal. Die Konsulate mehrerer Botschaften in Afrika und im Mittleren Osten hatten unabhängigen Medienberichten zufolge Visa   an rund 250.000 Arbeitswillige verkauft, die anschließend nach Polen einreisten. Die PiS musste sich aus gleich zwei Gründen der Heuchelei zeihen lassen: Sie, die die Sittenstrenge erfunden zu haben schien, hatte sich der Korruption schuldig gemacht; ihre beinhart einwanderungskritische Politik hatte sie ad absurdum geführt. In der Kritik stand die PiS aber auch wegen der Milliarden von Euro, die die EU wegen der Rechtsstaatlichkeitspolitik der Warschauer Regierung eingefroren hatte, wegen des erfolglosen Kampfes gegen die Inflation, der gesunkenen Geburtenrate und der Einmischung in die Medien-, Bildung- und Redefreiheit.

Der Rückgang an Wählerstimmen und, mehr noch, der sich abzeichnende Machtverlust, zeigen, dass die Polinnen und Polen, die am Sonntag von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht haben, mehrheitlich resistent gegenüber den staatlich gelenkten Entmündigungsversuchen sind. Schon zuvor hatten sie ihre Bereitschaft, für die offene Gesellschaft einzutreten, demonstriert, eindrucksvoll beim „Marsch der Million Herzen“, der zwei Wochen vor dem Wahlsonntag in Warschau stattfand und von der KO als größte Demonstration  in der nachkommunistischen Geschichte bezeichnet wurde.

Wie geht es weiter

Gemäß der polnischen Verfassung muss der Sejm dreißig Tage nach der offiziellen Bekanntgabe des Wahlergebnisses zu seiner ersten Sitzung zusammentreten. Bis dahin muss der vom Präsidenten ernannte potenzielle Premierminister eine Regierung und ihr Programm vorgeschlagen haben, die sich auf die Mehrheit im Parlament stützt. Die polnische Verfassung verpflichtet den Präsidenten nicht, den Wahlsieger mit der Regierungsbildung zu betrauen. Der bzw. die Vorsitzende einer jeden Partei, die den Einzug ins Parlament geschafft hat, kann mit der Aufgabe betraut werden, obwohl die Tradition ist, dass der Wahlsieger den Auftrag bekommt. Es liegt also an Staatschef Duda, wem er das Mandat erteilt.Es ist allerdings davon auszugehen, dass er seinen Parteifreunden von der PiS den Vorzug geben wird.

Ein solcher Schritt wäre jedoch nicht sehr sinnvoll, da es keine Anzeichen dafür gibt, dass die PiS eine parlamentarische Mehrheit erlangen könnte. Alle Parteien, die ins Parlament einzogen, haben eine Zusammenarbeit mit der PiS ausgeschlossen. Die PiS hat nur 194 Sitze und müsste bis zu 37 Abgeordnete einer anderen Fraktion davon überzeugen, mit ihr eine Regierung zu bilden oder sie zumindest bei einer Vertrauensabstimmung zu unterstützen. Das scheint höchst unwahrscheinlich.

Gelingt es der PiS nicht, eine Regierung zu bilden, ist laut Verfassung der Sejm an der Reihe, den nächsten Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten zu bestimmen, der eine Regierung bilden muss. Da die Opposition die Mehrheit der Sitze gewann, besteht kein Zweifel daran, dass die von Donald Tusk geführte KO, die ihre Bereitschaft zur Bildung einer gemeinsamen Regierung mit den anderen pro-demokratischen Parteien vor und nach den Wahlen bestätigte und insgesamt über genügend Sitze dafür verfügt - 248 -, eine Chance auf Regierungsbildung hätte.

Es ist aber schon jetzt klar, dass dieser Prozess Wochen bis hin zu Monaten dauern kann.

Noch ist Polen nicht verloren!

Die mögliche neue Regierung aus KO, Drittem Weg und der Linkspartei Nowa Lewica wird jedoch keinesfalls ideologisch harmonisch und frei von Misstönen und Konfliktpotenzial sein. Mit Streitigkeiten ist allerdings erst später zu rechnen, denn die größte gemeinsame Priorität besteht darin, die Narben zu beseitigen, die das Erbe der PiS-Regierungen in der polnischen Demokratie hinterlassen hat. Und das wird dauern.

Mit dem Sieg der Opposition dürfte Polen zurück in den Kreis der europäischen Familie kehren. Das politische Großprojekt der PiS, die mit der Politisierung der dritten, der jurisdiktionellen Gewalt betriebene Zerstörung der Gewaltenteilung, hatte Polen gegen die EU-Grundrechtecharta verstoßen. Zahlungen aus dem EU-Wiederaufbaufonds waren blockiert worden. Nach einem Regierungswechsel dürfte Warschau der Zugang zum europäischen Fond endlich wieder offen stehen. In einer Zeit, in der die Menschen unter den Folgen der Wirtschaftskrise und einer hohen Inflation leiden, ist dies von entscheidender Bedeutung.

Der Kampf für die Frauenrechte war ein zentraler gemeinsamer Programmpunkt der demokratischen Opposition. Bei Frauen lag die Wahlbeteiligung letztendlich auch höher als bei Männer. Die Hoffnungen richten sich nun auf eine Abschaffung des restriktiven Abtreibungsgesetzes, auf die Einführung einer staatlichen Unterstützung für künstliche Befruchtungen und eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung für schwangere Frauen.

Zu den Prioritäten wird eindeutig auch die Beseitigung des PiS-Monopols auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens gehören. Eine der ersten Säuberungen wird das staatliche Fernsehen betreffen, das während der PiS-Herrschaft zu einem Instrument der Regierungspropaganda und der Alternativwelt geworden ist. Der öffentlich-rechtliche Fernsehsender TVP dürfte seinem originären Auftrag entsprechend wieder zu einer neutralen, differenzierten Berichterstattung verpflichtet werden, und das bis auf die lokale Ebene.

Was die Unterstützung für die Ukraine angelangt, dürfte sich nach einem Regierungswechsel nicht viel ändern. Schon die PiS war – womöglich aufgrund einer geschichtsbedingt ausgeprägten Skepsis Russland gegenüber – eine der verlässlichsten Unterstützer der Ukraine. Die neue Regierung wird wahrscheinlich auch das Getreideabkommen mit der Ukraine neu verhandeln, das in den zurückliegenden Wochen Gegenstand einer Kontroverse zwischen Warschau und Kyjiw wurde. Die polnisch-ukrainischen Beziehungen werden daher nur noch stärker werden.

Was die EU betrifft, so hat Polen nach der Wahl sehr gute Chancen, seine Stellung in der EU wiederzuerlangen und der Dauerpolemik ein Ende zu bereiten. Darüber hinaus kann Polen unter der Führung des EU-erfahrenen, weltläufigen Donald Tusk, und aufgrund seines vielseitigen Potenzials eine der führenden Mächte in der EU werden, die die Grundwerte der EU tatsächlich achtet und lebt.