EN

Ungarn
Für die EU-Ratspräsidentschaft ungeeignet?

Das Europäische Parlament weist auf bekannte Probleme hin
Viktor Orbán, Ministerpräsident von Ungarn

Viktor Orbán, Ministerpräsident von Ungarn

© picture alliance/dpa/BELGA | Nicolas Maeterlinck

Die EU und Ungarn haben in den letzten Jahren eine zunehmend angespannte Beziehung entwickelt. Nun hat das EP durch eine Resolution die Eignung Ungarns für die turnusgemäß in 2024 anstehende Ratspräsidentschaft in Zweifel gezogen. Die Resolution wurde am 1. Juni mit 442 Ja-Stimmen, 144 Nein-Stimmen und 33 Enthaltungen beschlossen. Sie argumentiert, dass Ungarn nicht glaubwürdig die Aufgaben einer Ratspräsidentschaft erfüllen kann, da es dabei auch essenziell um die Vertretung gemeinsamer Werte gehe. Es ist das erste Mal in der Geschichte der EU, dass eine Resolution verabschiedet wurde, die Ratspräsidentschaft eines Mitgliedsstaates in Frage stellt.

Ungarn zeigt autokratische Tendenzen

Um Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit ist es in Ungarn schon seit Jahren nicht gut bestellt. Das Land befindet sich in einem Prozess des Democratic Backsliding (Entdemokratisierung), in dem sich Demokratien langsam aber stetig zu Autokratien entwickeln. Der Beginn dieses Prozesses ist auf die Wahl Viktor Orbáns zum Ministerpräsidenten 2010 zurückzudatieren.

Seitdem hat die Regierung unter ihm eine Reihe von Gesetzen und Verfassungsänderungen eingeführt, die als Bedrohung für die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz gewertet werden. Noch 2010 wurde ein Gesetz beschlossen, dass behördliche Kontrollen in Medienhäusern erlaubt. Für kritische Medien hat sich außerdem die finanzielle Situation verschlechtert, da sowohl staatliche als auch private Unternehmen ihre Anzeigenaktivitäten dort niedergelegt haben.

Zu Beginn der COVID 19-Pandemie, im März 2020, ist in Ungarn, wie in vielen anderen Ländern, der Notstand verhängt worden. Im ersten Moment erscheint dieser Schritt nicht als ungewöhnlich. Ungewöhnlich dagegen ist, dass er bisher nicht wieder aufgehoben wurde. Aktuell gilt der Notstand noch mindestens bis zum 25.11.2023, nun dient der Krieg in der Ukraine als Begründung. Der Notstand ermöglicht Orbán das Regieren per Dekret, er kann am Parlament vorbei Gesetze beschließen.

Ein weiterer Kritikpunkt der EU an Ungarn sind die restriktiven Maßnahmen gegen Minderheiten, insbesondere die LGBTIQ-Menschen. Ein Beispiel ist die Einschränkung des Verkaufs von Kinderbüchern, die Inhalte abbilden, die von der heterosexuellen Norm abweichen. Auch in Schulen ist die Thematisierung solcher Inhalte verboten. Lehrerinnen und Lehrern droht nicht nur die Entlassung, sogar Gefängnisstrafen sind möglich, wenn das Gesetz gebrochen wird. Das sogenannte „Kinderschutzgesetz“, das diese Regelungen enthält, bringt Homosexualität und Pädophilie in einen Zusammenhang und widerspricht damit ganz klar wissenschaftlichen Tatsachen. Zusätzlich problematisch ist auch die harte Haltung gegenüber der Aufnahme von Geflüchteten, die einen gesamteuropäischen, kooperativen Umgang mit der Verteilung von Geflüchteten erschwert.

Die Resolution aus dem Juni kritisiert auch insbesondere die „systemische Korruption“ im Land, da diese auch im Umgang mit Geldern der EU deutlich geworden ist.

Die Verstöße gegen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit werden von der Europäischen Kommission (EU-Kommission) und dem EP seit Jahren kritisiert. Im Jahr 2018 hat das EP ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags gegen Ungarn eingeleitet. Dieses Verfahren kann zu Sanktionen führen, einschließlich der Aussetzung der Stimmrechte Ungarns im Europäischen Rat. Es wurde aufgrund von Bedenken hinsichtlich der Gefährdung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte in Ungarn verabschiedet. Bisher hat es jedoch keine endgültige Entscheidung über das Verfahren gegeben. Nach einer neuen Bestimmung, dem Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, dürfen EU-Mittel von Mitgliedstaaten gekürzt werden, wenn sie gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Dieses Instrument wurde nun schon mehrfach eingesetzt, Ungarn wurde der Finanzhahn zugedreht. Es geht um über 45 Milliarden Euro aus dem Corona-Wiederaufbaufonds (auch: Recovery and Resilience Facility) und dem Kohäsionsfonds, der für ökonomisch weniger gut gestellte EU Länder bestimmt ist. Es gibt außerdem regelmäßige Überprüfungen, eine Rechtsstaatlichkeitskontrolle, durch die EU-Kommission, die in Berichten zusammengefasst wird. Diese dienen als Grundlage für den Dialog und die Diskussion mit den Mitgliedsstaaten.

Kann Ungarn die Werte der EU vertreten?

Nach einer Debatte im Parlament wurde die Resolution zu den Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in Ungarn und den eingefrorenen EU-Geldern vom EP angenommen. Unter anderem Die Grünen/EFA und die Renew Europe Fraktion äußerten sich positiv zur Resolution. Manche haben sich nicht gefürchtet, die Diplomatie zur Seite zu schieben. Zum Beispiel Moritz Körner MdEP vergleicht Orbán mit einem Schulhof-Rüpel, der dann plötzlich Schuldirektor werden soll. „Die rotierende Ratspräsidentschaft bedeutet, im Namen der 27 Mitgliedstaaten zu sprechen, und dieser Aufgabe ist er im Moment nicht gewachsen“, so der FDP-Politiker.

Polen dagegen, selbst ebenfalls unter besonderer Beobachtung der EU, kritisierte das Vorgehen des Parlaments und stellt sich auf die Seite Ungarns. Polen argumentiert, dass es sich um eine Verletzung der europäischen Verträge handle, und damit die europäischen Regeln in ihrer wichtigsten Form gefährde.

Was erreicht eine nicht-bindende Resolution?

Eine nicht-bindende Resolution ist erst einmal genau das: nicht-bindend, sie muss also nicht umgesetzt werden.

In diplomatischen Kreisen wird auch tatsächlich angezweifelt, dass die Initiative Aussicht auf Umsetzung hat. Die Entscheidung des Parlaments ist nicht bindend, sie ist lediglich ein Symbol (obwohl ein sehr wichtiges). Für eine Verweigerung der Ratspräsidentschaft gibt es nicht mal eine rechtliche Grundlage in den Verträgen der EU. Denkbar wäre eine Veränderung der Reihenfolge, sodass die Präsidentschaft Ungarns weiter in die Zukunft rückt. Doch auch dieser Schritt müsste vom Rat beschlossen werden und gilt als eher unwahrscheinlich. Eine weitere Möglichkeit ist, die Themen der Präsidentschaft möglichst neutral zu gestalten und Themen mit Konfliktpotential in diesem Zeitraum außen vorzulassen.

Sollte durch den Rat nichts passieren, hat das EP selbst zumindest Möglichkeiten, die Ausübung der ungarischen Ratspräsidentschaft in gewissem Umfang zu boykottieren.

Fraglich bleibt, ob es überhaupt gerecht wäre, einem der EU-Länder die Ratspräsidentschaft zu verweigern. Es kann argumentiert werden, dass die EU sich so selbst gegen die eigenen demokratischen Prinzipien wenden würde, auf denen sie beruht. Fest steht: Die Resolution ist ein starkes Signal, nicht nur gegenüber Ungarn, sondern auch Polen und allen anderen Mitgliedstaaten, die von Entdemokratisierung bedroht sind. Es ist ein starkes Signal dafür, dass die EU vor allem eine Werteunion ist, die Redefreiheit, Rechte von Minderheiten und gegenseitige Toleranz immer fördern wird. Es gilt also nicht: Wer einmal drin ist, kann aufhören, sich demokratisch zu verhalten. Ohne die bestimmten Werte würde die EU ihren Kern verlieren.