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Estland vor der Wahl: Ende des Reformkurses?

[caption id="attachment_6899" align="alignright" width="241"] Riigikogu
Estonian parliament building[/caption] Am 1. März wählen die Esten ein neues Parlament. In Umfragen liegen die liberale Reformpartei von Regierungschef Taavi Rõivas und die pro-russische Zentrumspartei nah beieinander. Welche Themen die ehemalige Sowjetrepublik vor und auch noch nach dem Wahlkampf beschäftigen werden, erklärt unser Experte Borek Severa im Kurzinterview. freiheit.org: Herr Dr. Severa, am Sonntag wählen die Esten ein neues Parlament. Was waren die bestimmenden Themen im Wahlkampf? Severa: Estland hat den Beitritt zum Euro 2011 gemeistert und zählt wirtschaftlich zu den Spitzenreitern in der Eurozone. Doch das in der Tagespolitik seit über einem Jahr bestimmende Thema ist die Krise um die Ukraine und die möglichen Folgen der russischen Expansionspolitik für die baltischen Länder. Die EU- und die NATO-Mitgliedschaft sind für die Esten zwar ein wichtiges Element zur Wahrung der eigenen Unabhängigkeit, allerdings versteht man die zu nachsichtige Politik mancher Partnerländer gegenüber Putin nicht. Darin sind sich fast alle Parteien einig. Der einzige pro-russisch orientierte Spitzenkandidat der Zentrumspartei und Tallinns OB Edgar Savisaar ist bemüht, aus taktischen Gründen das Thema Sicherheit und Verteidigung herunterzuspielen und wirft dem Ministerpräsidenten vor, die russische Bedrohung im Wahlkampf unnötig zu dramatisieren, statt sich um die soziale Lage und andere Alltagssorgen der Bürger zu kümmern. Mit der Forderung nach einem Mindestlohn von 1000 Euro und dem kostenlosen öffentlichen Nachverkehr versucht die Zentrumspartei, die Wähler zu ködern. Ein weiterhin offenes Problem bleibt das Verhältnis zur russisch-sprachigen Minderheit im Lande, das von der Reformpartei leider lange unterschätzt wurde. Umso mehr versuchen die Zentrumspartei und in letzter Zeit auch die Sozialdemokraten diese Bürger, rund ein Viertel der Bevölkerung, als potenzielle Wähler gezielt anzusprechen. freiheit.org: Kurz vor dem Wahltag sieht es nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der regierenden Reformpartei und der Zentrumspartei aus, beide Mitgliedsparteien der Europäischen Liberalen ALDE. Was ist Ihre Prognose? [caption id="attachment_6860" align="alignleft" width="166"] Dr. Borek Severa[/caption] Severa: Ich glaube, dass die liberale Reformpartei weiterhin stärkste Kraft im estnischen Parlament bleibt und der junge Ministerpräsident Taavi Rõivas, der seit einem Jahr im Amt ist und schon lange mit der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit eng zusammenarbeitet, wieder die Regierung bilden wird. In den letzten Umfragen liegt er mit 23 Prozent leicht vorne und ist der populärste Politiker im Lande, doch sitzen ihm die Zentrumspartei aber auch die Sozialdemokraten dicht auf den Fersen. Die Zeiten von gesicherten Mehrheiten für das bürgerlich-liberale Lager, auf die sich der frühere Ministerpräsident und heutige Vizepräsident der EU-Kommission Andrus Ansip mehr als zwölf Jahre lang stützen konnte, gehören in Estland wohl der Vergangenheit an. Außerdem könnten diesmal zwei populistische Parteien die Fünf-Prozent-Klausel schaffen und der Reformpartei die entscheidenden Parlamentssitze kosten. freiheit.org: Estland gilt als Musterstaat für Reformen, die die Wettbewerbsfähigkeit des Landes fördern. Woher kommt diese Reformbereitschaft? Wird sich hieran nach dem Wahltag etwas ändern? Severa: Das frage ich mich oft, seitdem ich das Stiftungsprojekt in Estland koordiniere. Denn im Gegensatz zu Ungarn oder Slowenien war das Land bis 1990 als Teil der Sowjetunion von der westlichen Welt abgeschottet und fing praktisch bei null an. Allerdings konnte ich oft hören, dass bereits in den Sowjetzeiten viele technologie- und forschungsintensive Unternehmen in Estland angesiedelt waren und die Nähe zu Skandinavien, insbesondere zu Finnland, das tägliche Leben prägte und offenbar nicht ohne Einfluss auch auf die Staats- und Parteikader blieb. Es war auch die Politik der estnischen Liberalen, die Wirtschaft schnell umzustrukturieren und dabei auf innovative und zukunftsträchtige Branchen wie Elektronik, IT oder Pharma zu setzen. Außerdem glaube ich, dass auch die Mentalität der Esten bei dieser Erfolgsgeschichte eine wichtige Rolle spielt. In kaum einem anderen postkommunistischen Land haben die Menschen trotz mancher Opfer so klar eine reformorientierte Politik unterstützt. Dass Estland mitten in der Eurokrise der Eurozone beigetreten ist und die Bürger trotzdem bereit waren, dafür auch harte Einschnitte in ihren Lebensstandard hinzunehmen, macht den mentalen Unterschied zu manchem südeuropäischen Land deutlich, wo zu schnell nach neuen Rettungspaketen der EU gerufen wird. Ein Regierungswechsel würde sicherlich den bisherigen Reformkurs abbremsen. Denn die teils populistischen Wahlversprechen sowohl der Sozialdemokraten als auch der Zentrumspartei müssten finanziert werden. Da die großen Parteien eine Koalition mit Edgar Savisaar bisher ausschließen, dürfte sich an dem jetzigen außen- und verteidigungspolitischen Kurs Estlands nach der Wahl wenig ändern. Dr. Borek Severa ist Repräsentant der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Mitteleuropa und den baltischen Staaten Photo credits: https://www.flickr.com/photos/1yen/, FNF Europe