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Europäische Union
Altbekannte Probleme und kein Lösungsansatz

Europäische Kommission legt jährlichen Bericht zur Rechtsstaatlichkeit in der EU vor
EU Kommission

Die EU-Kommission wird heute ihren jährlichen Bericht zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union veröffentlichen: Gewaltenteilung, Medienvielfalt und die Unabhängigkeit der Justiz in allen 27 Mitgliedstaaten werden systematisch untersucht. Bereits im vergangenen Jahr, als der Rechtsstaatlichkeitsbericht zum ersten Mal erschien, hatte die Kommission in etlichen Staaten Verstöße gegen gemeinsame Grundsätze entdeckt, wobei besonders die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und Polen große Mängel aufwiesen. Der neue Bericht könnte den Konflikt zwischen der EU und den beiden mitteleuropäischen Mitgliedstaaten vertiefen. Angesichts der anhaltenden Untergrabung demokratischer Prinzipien in Polen und Ungarn würde man allerdings nicht nur eine Analyse erwarten, sondern auch Handlungsempfehlungen gegen Verstöße wider die Rechtsstaatlichkeit. Dies ist dem Vernehmen nach nicht der Fall.

Die Europäische Kommission sieht sich zunehmend der Kritik ausgesetzt, dass sie es nicht schaffe, den Demokratieabbau unter einigen Mitgliedern wirksam zu bekämpfen. Ihre Bemühungen als Hüterin der EU-Verträge, die beunruhigenden Entwicklungen – besonders in Polen und Ungarn – zu stoppen, sind bisher meist ohne Durchschlagskraft. Zwar leitete die EU-Kommission gegen die beiden Länder vor einigen Jahren die Verfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge aufgrund mutmaßlicher Verletzung von Grundwerten ein, jedoch wird die Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und Polen seither eher noch weiter vorangetrieben. Mechanismen wie das Zurückhalten von EU Fördergeldern im Falle einer andauernden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit wurden von den Mitgliedstaaten noch nicht in die Tat umgesetzt.

Um den Dialog über gemeinsame Grundwerte anzuregen und damit auch die Demokratie der EU zu stärken, hat die EU-Kommission den jährlichen Rechtsstaatsbericht lanciert. Im September 2020 wurde zum ersten Mal ein umfangreicher Bericht über den Stand der Rechtsstaatlichkeit in der EU veröffentlicht. Ziel ist es, die wichtigsten Entwicklungen in der gesamten EU sowie in den einzelnen Mitgliedstaaten zu beleuchten und damit auch mögliche Probleme im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit rechtzeitig festzustellen.

Bei der Untersuchung gerieten im vergangenen Jahr vor allem Polen und Ungarn in die Kritik. Der Bericht kritisierte unter anderem die Untergrabung der Unabhängigkeit der Justiz, zunehmende Angriffe auf LGBTQI-Rechte sowie staatlichen Druck auf Medien und Zivilgesellschaft. Mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen in den beiden mitteleuropäischen Ländern ist zu erwarten, dass der neue Bericht die Spannung zwischen der EU auf einer Seite und Polen und Ungarn auf der anderen Seite noch erhöhen wird.

Rechtsstaatlichkeit in Polen in Gefahr

Erst jüngst hatte das polnische Verfassungstribunal beschlossen, dass die polnische Verfassung über dem EU-Recht stehe und Polen dadurch EU-Gerichtsbeschlüsse einfach ignorieren könne. Nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Donnerstag urteilte, dass die sogenannte Disziplinarkammer am Obersten Gerichtshof Polens europarechtswidrig ist, da ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht gewährleistet sei, kündigte die polnische Regierung an, dass sie nicht plane, die Tätigkeit der Kammer auszusetzen. Die umstrittene Disziplinarkammer kann die Immunität von Richtern aufheben, sie vom Dienst suspendieren oder ihre Bezüge kürzen.

In den vergangenen Monaten nutzte die polnische Regierung das politisierte Verfassungstribunal auch dazu, das Mandat des Ombudsmannes zu beenden sowie den Zugang zu legalen Abtreibungen faktisch zu verbieten. In den vergangenen Monaten wurde zudem der Druck auf unabhängige Medien im Land erhöht. So wurde ein Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, der eine Steuer auf die Werbeeinnahmen von Medienunternehmen einführen soll, die besonders stark die regierungskritischen Medien betreffen würde.

Mit Bezug auf eine sogenannte „Repolonisierung“ der polnischen Medien, einer der wichtigen Punkte auf der politischen Agenda der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), kündigte Ende 2020 der staatlich kontrollierte polnische Mineralölkonzern Orlen an, die Regionalzeitungsgruppe Polska Press, die zwanzig der 24 führenden Regionalzeitungen Polens herausgibt, einer deutschen Verlagsgruppe abzukaufen. Kritikern zufolge bedeutet dies faktisch eine Übernahme durch die Regierung. Aktuell wird in Polen auch eine Gesetzesvorlage heftig diskutiert, die dem regierungskritischen Fernsehsender TVN, die der amerikanischen Firma Discovery gehört, seine Lizenz kosten könnte.

Auch Ungarn auf Konfrontationskurs

Im vergangenen Jahr sorgte der Umgang des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán mit der nationalen Presse des Öfteren für Spannungen mit der EU. Die Unterminierung der Medienfreiheit in Ungarn steht im klaren Widerspruch zu den liberalen Grundwerten der EU. Im Laufe der vergangenen Jahre übernahmen Unterstützer und Freunde Orbáns schrittweise die Kontrolle über unabhängige Medien in Ungarn und garantieren seither eine regierungsfreundliche Berichterstattung. Aktuell sorgt besonders der Verdacht, dass die  Regierung investigative Journalisten mithilfe der Pegasus-Software ausspioniert, für Aufruhr.

Die unabhängigen Medien sind nicht die einzigen Opfer der illiberalen Politik Ungarns – NGOs und Bildungseinrichtungen befinden sich ebenso unter Beschuss. Orbáns sogenanntes „NGO-Gesetz“ verpflichtet Nichtregierungsorganisationen dazu, sich registrieren zu lassen, sollten diese jährlich Auslandsspenden im Wert von mehr als 7,2 Millionen Forint (zirka 20.000 EUR) erhalten. Zusätzlich sollten diese vom Ausland finanzierten NGOs online angeben müssen, dass sie eine vom Ausland unterstützte Organisation seien. Als Reaktion auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, der entschieden hatte, dass das Gesetz gegen europäisches Recht verstoße, erklärte das ungarische Parlament das Gesetz allerdings am Ende für nichtig.

Zuletzt sorgte vor allem der Umgang der ungarischen Regierung mit der LGBTQI-Community für Empörung. Die Verabschiedung des „Pädophilie-Gesetzes“, das ungarische Kinder vor Pädophilie schützen soll, beinhaltet zur Sorge vieler Menschenrechtler auch einen Artikel, der die Darstellung von LGBTQI-relevanten Inhalten an Schulen, im Fernsehen, in Literatur und Werbung für Minderjährige verbietet. Die Diskriminierung der LGBTQI-Community ist keine Neuheit in Ungarn, wie das Adoptionsverbot für homosexuelle Paare zeigt. Ein solches Verhalten stellt nicht nur eine Einschränkung der Rechte von Minderheiten dar, sondern, wie im Falle des „Pädophilie-Gesetzes“, auch eine Beschneidung der Meinungsfreiheit. Mit diesem illiberalen Kurs, der die Rechtsstaatlichkeit im Lande untergräbt, geriet die ungarische Regierung schon öfters mit der EU aneinander, die 2018 sogar ein Verfahren gegen Ungarn unter Artikel 7 einleitete.

Kritik an der Effektivität des Berichts über die Rechtsstaatlichkeit

Die Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn werden ohne Frage auch in diesem Jahr in dem „Bericht über die Rechtsstaatlichkeit“ der EU zu finden sein. Niemand bezweifelt, dass der Bericht der EU-Kommission hilft, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die problematische Lage in einigen Mitgliedsstaaten zu lenken. Skeptische Stimmen zweifeln jedoch an der Effektivität des Berichts, welcher weder spezifische Vorschläge, noch explizite Maßnahmen bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit identifiziert. Der Bericht beschreibt schlichtweg retrospektiv den Stand der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsländern. Kritiker sehen in dem Bericht eine Verdeutlichung der Ohnmacht der EU und fordern stattdessen konkrete und striktere Maßnahmen zur Bekämpfung der De-Demokratisierung in Europa.

Zukunft der Rechtsstaatlichkeit in der Europäische Union

Um die Rechtsstaatlichkeit in Europa zu sichern und zu stärken, müssen die EU-Mitgliedstaaten im Europäischen Rat konkrete Maßnahmen ergreifen, um Worten Wirkung zu verleihen – auf Worte müssen Taten folgen. Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit müssen nicht nur früher erkannt werden, sondern auch sanktioniert werden, um die Unabhängigkeit der Justiz und der Medien und den Schutz der Menschenrechte sicherzustellen. Die Bindung von EU-Fördergeldern an die Respektierung rechtsstaatlicher Prinzipien stellt das vielversprechendste Mittel der EU dar und sollte in Zukunft angewandt werden. Letztlich sollte der EU-Rechtsstaatlichkeitsbericht keineswegs das einzige Instrument gegen Verletzungen demokratischer Grundwerte sein, sondern lediglich als informative Ergänzung zu konkreten wirkungsvollen Maßnahmen existieren.

Valerie Kornis is an intern at the office of the Friedrich Naumann Foundation for Freedom in Prague. She graduated with a Bachelor in International Relations and Organisations from Leiden University in The Netherlands and will soon start a Master in Human Rights and Humanitarian Action at Sciences Po in Paris.

Natálie Maráková ist Projektmanagerin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Büro für die Mitteleuropäischen und Baltischen Staaten in Prag.