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Human Rights Defenders
„Falschinformationen sind unser größter Feind"

Sandra Romandía

Friedrich-Naumann-Stiftung: Warum haben Sie sich dazu entschlossen, Journalistin zu werden, und welche Rolle spielen Journalisten und Journalistinnen als Menschenrechtsverteidiger?

Sandra Romandía: Als ich jung war, wollte ich immer Journalistin werden und mich auf Kultur spezialisieren. Ich arbeitete zunächst bei einer Lokalzeitung in meinem nordmexikanischen Geburtsbundesstaat Sonora und berichtete über lokale Themen wie Schlaglöcher, Nachbarschaftsgeschichten oder Wasserrohrbrüche. Dabei gab es jedoch insbesondere eine Begebenheit, die meinen Karriereweg veränderte. Mexikanische Behörden stahlen das Auto eines Mannes namens Emilio, als dieser die Grenze zu den USA überquerte. Als mir klar wurde, welche Konsequenzen es hat, Behördenmitarbeiter wegen Diebstahls zu verfolgen, verstand ich, wie wichtig es ist, über Ungerechtigkeit zu berichten und Menschen wie Emilio, die keine Stimme haben, eine Stimme zu geben. Daher bin ich davon überzeugt, dass Journalisten und Journalistinnen in ihrer Funktion als Menschenrechtsverteidiger eine große Verantwortung haben, denn wir sind diejenigen, die Geschichten über Menschen erzählen, die von den Behörden oder von der Gesellschaft selbst ansonsten nicht gehört würden. Wir decken Ungerechtigkeiten auf, von denen ansonsten niemand erfahren würde. Wir sind die Brücke zwischen der Gesellschaft und den Behörden, die ihre Macht missbrauchen oder fahrlässig handeln. Unsere Aufgabe ist es, Geschichten zu erzählen. Indem wir diese Geschichten dokumentieren und veröffentlichen, treten wir für die Menschenrechte von Bürger und Bürgerinnenn ein, die unter Menschenrechtsverletzungen leiden.

Waren Sie aufgrund Ihrer journalistischen Arbeit schon einmal staatlicher oder nicht staatlicher Repression oder Verfolgung ausgesetzt?

Ich wurde mit dem Tod bedroht und eingeschüchtert. Zudem habe ich über Dritte Nachrichten erhalten, ich solle bestimmte Themen nicht veröffentlichen und man würde unsere Websites schließen, wenn ich über Korruption in den Reihen der mexikanischen Staatsführung berichte. Das hat mich dazu gezwungen, mich mit Bodyguards zu umgeben. Mein Privatleben und mein Berufsleben haben sich dadurch grundlegend verändert, denn es ist schwieriger, Journalismus zu machen, wenn man bewaffnete Männer um sich herum hat, die einen vor Angriffen auf das eigene Leben schützen. In dieser komplexen Situation muss man nach anderen kreativen Möglichkeiten Ausschau halten, um weiterhin Journalismus zu betreiben und an Informationen zu kommen.

„Falschinformationen sind unser größter Feind, aber die von Seiten der Regierung kommende Propaganda gegen investigative Journalisten und Journalistinnen, die über Korruption berichten, trifft uns zweifellos direkt.“

Sandra Romandía

Wie machen Propaganda und Falschinformationen Journalisten und Journalistinnen als Verteidigern der Menschenrechte im Land zu schaffen?

Falschinformationen sind unser größter Feind, aber die von Seiten der Regierung kommende Propaganda gegen investigative Journalisten und Journalistinnen, die über Korruption berichten, trifft uns zweifellos direkt. Die Angriffe führen zu verbaler Gewalt in sozialen Netzwerken, was wiederum eine stärker polarisierte Gesellschaft zur Folge hat, die die Arbeit von Journalisten und Journalistinnen anzweifelt. In einem unsicheren Umfeld wie Mexiko ist es schwer, Garantien für unsere Arbeit zu bekommen. Zudem belasten die Drohungen gegen die Presse oder die verunglimpfenden Äußerungen über unsere Arbeit, die vom Präsidenten selbst zu hören sind, unsere Sicherheit und unsere Glaubwürdigkeit.

Mehrere internationale Organisationen haben Mexiko als einen der gefährlichsten Orte für Journalisten und Journalistinnen bezeichnet. Warum sind Sie noch immer als Journalistin tätig?

Ich persönlich empfinde Leidenschaft für meinen Beruf. Aber das, was uns als Journalisten und Journalistinnen in Mexiko am meisten antreibt, ist meiner Meinung nach die Aufgabe, Geschichten aufzudecken, die ansonsten unbekannt bleiben würden. Es gibt Geschichten, die man veröffentlichen sollte, und das ist eine Überzeugung, die Journalismus als eine Lebensform versteht, bei der es um die Suche nach der Wahrheit geht. Und als eine Mission, in der ich meinen Beitrag zur Gesellschaft sehe. Es mag gefährlich klingen, über Korruption oder Drogenhandel in Mexiko zu berichten, aber trotz aller damit verbundenen Risiken ist es notwendig, zu diesen Themen zu recherchieren. Investigativer Journalismus ist das, was ich beherrsche, was ich gerne mache und womit ich in meinen Augen dazu beitragen kann, dass wir in einer Demokratie leben können.

Wie sieht die Zukunft von Journalisten und Journalistinnen und Pressefreiheit im Land aus?

In meinen Augen steht der Journalismus in Mexiko in viererlei Hinsicht unter Druck. Zunächst ist die wirtschaftliche Krise der Medien- und Journalismusbranche zu nennen. Hinzu kommen Verunglimpfungen durch die politische Führung, und zwar insbesondere von Seiten des Präsidenten. Außerdem mangelt es in einem von Gewalt geprägten Umfeld, in dem die Ermordung von Journalisten und Journalistinnen weitgehend ungestraft bleibt und unser Recht auf Leben nicht gewährleistet ist, an Sicherheiten und Garantien dafür, dass wir unseren Journalisten und Journalistinnenberuf ausüben können.

Und schließlich sehen wir uns auch noch mit einer zerrütteten Hochschullandschaft konfrontiert, in der Universitäten keine Journalisten und Journalistinnen ausbilden. Sie bringen keine finanziellen Mittel auf und suchen nicht nach Möglichkeiten, die bestehende Krise mit Unterstützung des Privatsektors zu lösen. Wenn es uns gelänge, eine Lösung für diese vier Probleme zu finden, hätte der Journalismus im Land eine großartige Zukunft vor sich, denn es gibt eine Generation junger Menschen, die von Journalismus begeistert ist. In Mexiko haben wir das Recht auf Zugang zu Informationen mit Mechanismen und Institutionen, die transparente Informationen für eine investigative Arbeit gewährleisten, und die neuen Generationen junger Journalisten und Journalistinnen verfügen über klar definierte Methoden, um investigativen Journalismus zu betreiben. Zudem eröffnet der Drang nach Geschlechtergleichheit in der Branche einen Weg zu einer neuen Generation selbstbewusster Journalistinnen, die mehr Machtpositionen bekleiden werden, in denen sie für Veränderungen in ihrem Beruf sorgen können.

Zur Person

Die in Mexico City lebende Journalistin Sandra Romandía ist auf investigativen Journalismus rund um die Themen Korruption, Gewalt und Menschenrechte spezialisiert. Sie hat Rechercheteams in digitalen und traditionellen Medien koordiniert und Geschichten wie „Das Immobilienkartell von Mexico City”, „Narco Mexico City” und „Geisterunternehmen der 4T” erzählt. Zusammen mit anderen Kollegen schrieb sie das Buch „Die 12 ärmsten Mexikaner” über Sozialprogramme in Mexiko, die nicht bei den am stärksten benachteiligten Menschen ankommen. Weitere von ihr koordinierte Recherchen zeigten, dass die Regierung nicht daran interessiert war, ein Grundstück zu untersuchen, auf dem Leichen vergraben waren – obwohl im ganzen Land 60 000 Menschen vermisst werden. Der Bericht wurde mit dem Nationalen Journalisten und Journalistinnenpreis ausgezeichnet. Sandra Romandía gründete die Microsite „La Cadera de Eva” (Evas Hüfte), den ersten Medienkanal ihres Landes, der sich ausschließlich mit Fragen der Geschlechtergleichheit und Frauenthemen befasst. 2020 gewann sie das „Maria Moors Cabot”-Stipendium für das Suzberger-Programm an der Columbia University. Zudem absolvierte sie das Programm „Lateinamerikanischer investigativer Journalismus” an der Columbia University und das „Prensa y Democracia”-Stipendium an der Universidad Iberoamericana.